Friedrich-Gundolf-Preis

The »Friedrich-Gundolf-Preis« has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964.
As a »Prize for German Scholarship Abroad«, for 25 years it was exclusively awarded to linguists and literary scholars at foreign universities.
However, the prize has also been awarded to persons outside of academia who are committed to imparting German culture and cultural dialog since the prize was renamed the »Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland« (Prize for the Imparting of German Culture Abroad) in 1990.
The Friedrich Gundolf Prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy. It has been endowed with €20,000 since 2013.

Philippe Lacoue-Labarthe

Philosopher and Translator
Born 6/3/1940
Deceased 27/1/2007

In klarem, schnörkellosem und genauem Stil hat er das Interesse und das Verständnis für deutsche Philosophie und deutsche Dichtung in Frankreich geweckt und gestärkt.

Jury members
Kommission: François Bondy, Norbert Miller, Lea Ritter-Santini, Jean-Marie Valentin, Peter Wapnewski

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Deutschland, eine Leidenschaft

Herr Präsident, meine Damen und Herren,

die Ehre, die Sie mir hier und heute erweisen ist eine immense Ehre.
Diese Redewendung gehört zu denen, die man mit Recht »feststehend« nennt. Ich gebrauche bzw. ich zitiere sie ganz bewußt. Um dem Brauch zu folgen, gewiß, und um nicht von den Regeln abzuweichen, die von jeher die Art der Zeremonie, die uns vereinigt, vorgeben.
Nicht nur, daß keine zeremonielle Redewendung sinnlos ist, denn eine Wahrheit ist darin immer erkennbar, so versteckt sie auch sein mag. Hinzu kommt, daß ›immens‹ in diesem Fall »ohne Maß« bedeutet.
Diese Redewendung möchte ich wörtlich verstanden wissen: die Ehre, die Sie mir erweisen, ist unermeßlich angesichts meines Verdienstes.
Bescheidenheit, vorgetäuscht oder echt, ist hier fehl am Platz: es handelt sich vielmehr um eine offensichtliche Tatsache: Ich beherrsche Ihre Sprache nicht gut genug, um mich in ihr an Sie wenden zu können und Ihnen so zu danken, wie es sich gebührte. Ein Paradox also, in sich selbst schon immens: Der Preis, den Sie mir verleihen, ist eine Auszeichnung für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland. Welche Art von Vermittlung kann eine sprachlose Vermittlung schon sein?
Jede Auszeichnung verpflichtet: so lautet das grundlegende Gesetz, das mit deren Annahme einhergeht. Es stand mir frei, diesen Preis, den Sie mir zugesprochen haben, anzunehmen oder nicht. In dem Moment jedoch, als ich ihn annahm − ich werde nicht versäumen, dies zu begründen − wußte ich, daß ich darauf antworten, d.h. Ihnen meinen Dank ausdrücken müßte. Ich tue dies sehr gern, wenngleich mit dem − immensen − Bedauern, an meine Muttersprache gebunden zu sein.
Danken, einige Ihrer größten Denker oder Ihrer größten Dichter (unter anderem einer, den Sie vor fünfunddreißig Jahren auf denkwürdigste Weise ehrten) haben es in Erinnerung gebracht: danken gehört einem semantischen Bereich mit außerordentlicher Resonanz an: darin wird nichts Geringeres als die Sache des »Denkens« entschieden, denken, andenken usw. Dies gilt nicht für das französische »remerciement«, ein Wort das bekanntlich aus der Geschäftssprache stammt (merx, lateinisch für die Ware, oder merces, der Lohn); und die religiöse Euphemisierung des Wortes »merci« − verstanden als »grâce« (Gnade), »faveur« (Gunst) »bienveillance« (Wohlwollen) »pitié« (Erbarmen) − kann kaum seine harte ökonomische Wirklichkeit verhehlen. »Penser« (denken) bedeutet ebenso »peser« (wiegen, abwägen). Unsere Zugehörigkeit zur romanischen Sprache ist nicht nur juristisch-theologischer, also politischer Natur, sondern sie ist überdies die Zugehörigkeit zu einem Markt, der zur Form dieser Welt wurde.
Man sagt, die Welt sei schlecht, die Ware wird verschrien, und es gibt sehr gute Gründe dafür. Vielleicht gibt es dagegen keine oder nur wenige Gründe, den Tausch, angefangen beim Gedankenaustausch, zu verurteilen. Denken erfolgt sicher nur in einer Sprache. Aber das bedeutet gleichzeitig: mitten unter anderen; oder, wenn man so will, in der ursprünglichen Aufteilung, die der Sprache selbst innewohnt.
Pretium, der Preis, ist dunklen Ursprungs: der Stamm ist unbekannt. Unsere Linguisten sagen einzig und allein, daß es mit interpretes zu tun hat, ein Wort, das unmittelbar in unsere Sprache übernommen wurde, das mit dem Handel − mit Merkur und entfernter mit Hermes − verbunden ist, das aber allgemein, wie Ihr deutsches Wort Vermittler, mit »intermédiaire«, im Sinne von »Wegbereiter« wiedergegeben werden kann. Ein Vermittler ist ein Grenzgänger, ein Übersetzer, ein Hermeneutiker.
Ich spreche Ihre Sprache nicht, oder nur sehr schlecht, aber ich übersetze sie, ich lese sie, und ich interpretiere sie, mühsam zwar, aber eisern − oder besser: mit Hartnäckigkeit. Darin besteht zum größten Teil meine berufliche Tätigkeit. Es ist aber auch, glaube ich, eine Leidenschaft: dies wurde mir bei der Nachricht, daß Sie mir diesen Preis zugesprochen haben, plötzlich bewußt. Von dieser Leidenschaft möchte ich heute, vor Ihnen, sprechen. Das wird in dieser Angelegenheit mein aufrichtigster Dank sein.
Erlauben Sie mir zunächst, meine Damen und Herren, daß ich einer doppelten Aufgabe nachkomme. Es fehlte mir an Aufrichtigkeit − an Ehrlichkeit −, wenn ich es nicht täte.
Die erste Aufgabe besteht in einem Geständnis: der Name Friedrich Gundolf, dessen Gedenken dieser Preis ehrt, ist mir schon lange vertraut, wenn auch nur indirekt, genau genommen durch Vermittlung in diesem Fall durch die Vermittlung Walter Benjamins, dessen großer Essay über Die Wahlverwandtschaften von einer unwiderruflichen Kritik an Gundolfs Buch über Goethe ausgeht. Ich habe weder Gundolf noch dieses Buch gelesen; auch nicht dasjenige − dies zu Unrecht −, welches er den Romantikern widmete.
Infolgedessen bitte ich Sie einfach, mir zu verzeihen. Meine Beziehung zur deutschen Kultur setzt eine Wahl, eine Stellungnahme voraus. Es wäre unpassend, dies zu verhehlen.
Die zweite Aufgabe besteht darin, Anerkennung auszusprechen. Die Geste, die Sie machen, indem Sie hier in Straßburg zwei Preise verleihen, zwei von denen, die Sie jährlich vergeben, und die der Vermittlung gewidmet sind, diese Geste ist im besten Sinne des Wortes eine politische Geste. Man muß sie als eine solche bewundern, ein halbes Jahrhundert nach der Katastrophe, die wie nie zuvor ganz Europa getroffen hat; auch muß man Ihre Wahl zugunsten einer Stadt, die schon lange, wie Sie wissen, ihre Freiheit beansprucht, die aber direkt am Ort der Sprachteilung gelegen, zum Objekt der härtesten Staats- und Nationalkämpfe der Neuzeit wurde, als eine Entscheidung für den Frieden begrüßen.
Ich bin nicht in Straßburg geboren, ich komme, wie man hier sagt, aus dem »Innern«, wo man weiß, daß Straßburg zugleich Durchgangsstätte und Ort der Zuflucht ist. Aus diesem Grund entschied ich mich zu bleiben; ich erkläre mich zum Bürger dieser Stadt der Mitte und wende mich in dieser Eigenschaft an Sie, als Namenshüter, ‒ denn auch das gehört zu meinem Metier −, derer, die diesen Ort auszeichneten: Voltaire und Rousseau, Herder und Goethe, Lenz und Büchner, und viele mehr...
Das Wort »Leidenschaft« fiel bereits. Um die Wahrheit zu sagen, wenn ich es wagte, dieses Wort vor Ihnen auszusprechen, dann nur, weil es sich mir aus dem Innern aufdrängte, als mein heutiger Laudator, dem selbstverständlich mein Dank gilt, zum ersten Mal den Preis erwähnte. Es war, um ehrlich zu sein, ein Wort, das mich ängstigte. Natürlich war eine Dankrede vorgesehen: wie werde ich sie schreiben? Oder, selbst wenn ich sie übersetzen ließe, wie − ganz einfach gefragt − werde ich sie lesen?
Mein Mangel wäre zu groß, der Betrug offensichtlich: wieviel andere, selbst hier, hätten mehr Verdienst oder größeres Anrecht auf eine solche Ehrung?
Was, wenn nicht eine unverbesserliche Blödigkeit − dieses Wort habe ich von Hölderlin übernommen − verbot mir abzulehnen, ließ es mich verbieten? Und warum hat man gerade mich ausgewählt, wo doch die Arbeit, die ich seit mehr als fünfundzwanzig Jahren hier in Straßburg leiste und die Sie heute auszeichnen, größtenteils nicht von mir alleine vollbracht wurde und die ich auch nicht − zumindest nicht in dieser Weise − gemacht hätte −, wenn ich allein gewesen wäre? Schon meine linguistische Schwäche, die ich bereits erwähnte, hätte mich daran gehindert. Diese fünfundzwanzig Arbeitsjahre, sind fünfundzwanzig Jahre enger, ständiger Zusammenarbeit mit Jean-Luc Nancy.
Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, daß ich die große Auszeichnung, mit der Sie mich ehren, auch als Auszeichnung dieser Arbeitsgemeinschaft betrachte.
Daß das Wort »Leidenschaft« sich aufdrängte, hat nichts Erstaunliches. Dieses Wort habe ich immer der Beziehung − sofern man von Beziehung sprechen kann − Vorbehalten, die ich zu meiner Muttersprache habe: ich füge mich ihr, unter Ausschluß aller anderen, sie beherrscht mich vollständig, pausenlos, endlos, selbst in meinem Schweigen, wo sie der basso ostinato, das kaum wahrnehmbare Gemurmel ist, oder in jenem langen, verzweifelt ständig von neuem beginnenden Satz, der meine Existenz, wie die eines jeden, unendlich bestimmt. Dort liegt der Ursprung der Schwäche, von der ich eben sprach, unheilbar − ja sogar Notwendigkeit.
Und wenn es mir so gefällt, andere Sprachen zu hören, so gut wie Musik hören (denn es ist ja vielleicht Musik), oder zu übersetzen, dann liegt das daran, daß ich dabei die Festigkeit, die Härte spüre, dessen, was mich buchstäblich »aus-grenzt«. Erfahrung ist Sprache. Das jedenfalls ist mein Dämon.
Aber die Leidenschaft hat noch einen anderen Ursprung. Als ich den Anruf bekam, befand sich in meiner Nähe ein Buch, auf das ich in meinen Vorlesungen Bezug nahm, ein Buch mit dem wunderbaren Titel: Eine deutsche Leidenschaft(1) (Die Leidenschaft, um die es geht, ist die »Leidenschaft des Absoluten«, sie wird in fünf Kapiteln behandelt: Luther, Kant, Schiller, Hölderlin, Kleist). Es lag da, vor meinen Augen, wie ein zweites, von dem ich es nicht trennen mochte und dessen Titel in mir erklang, wie ein Echo, das von weit her kam: »Gott ist in Deutschland gestorben«.(2) Daher kam also das Wort, d.h. der noch nicht erläuterte Satz: Deutschland, eine Leidenschaft.
»Leidenschaft« (Passion), wenn wir dieses Wort in seinem lateinischen oder griechischen Sinne verstehen, was konnte mich plötzlich denken lassen, daß ich Deutschland erlitten hatte, daß ich − der Ausdruck ist meines Erachtens nicht übertrieben − davon heimgesucht wurde, was soviel heißt wie »habité« (bewohnt) − hanter, to haunt kommt von dem alten Wort heim, eine Vokabel, die Ihnen (und uns hier) vertraut ist. Es geht in der Tat um Heimat. Doch weder um »patrie« (Vaterland) wie man es schwerfällig übersetzt, noch um »pays« (Land), sondern vielmehr um »demeure« (Aufenthalt, Heim) oder wenn ich mir diesen Barbarismus erlauben darf, um »matri« (Mutterland): etwas Mütterliches, genau wie die Sprache. Warum also diese Heimsuchung, mit allem, was dadurch unmittelbar an Geistern und Gespenstern, Phantomen oder Phantasien hervorgerufen wird. Und was hervorgerufen worden war. Mir wurde schlagartig bewußt: Es ging um nichts weniger als um meinen »Familienroman« wie Freud sagt, oder um das, was Lacan den »individuellen Mythos« nannte (des Neurotikers, versteht sich), in Anlehnung an die große Arbeit von Théodor Reik über die elsässische Episode von Dichtung und Wahrheit (derselbe Reik, der im Exil »The haunting Melody« schrieb, ein wichtiger Text meiner »katakustischen« Ökonomie).
Während meiner gesamten Kindheit, und noch lange danach, hatte ich drei Bilder vor Augen, die mir so vertraut wurden, so heimisch, daß ich sie nicht mehr sah bzw. daß ich sie erst wieder an dem Tage wahrnahm, als sie die Bleibe meiner Großmutter verließen, um, wie Ikonen an die Wand des Zimmers meiner Mutter zu gelangen und mich daran zu erinnern, daß sie, sobald sie angebracht wurden, für mich verschwunden wären.
Drei Bilder − ich möchte Freud nicht zu sehr beanspruchen, aber die Zahl ist trotzdem die Zahl der Parzen oder der Grazien; dahinter stecke, sagt er, ein »Motiv«: das eine, eine Bleistiftzeichnung, war ein Porträt von Quinet (ein Vermittler, sofern er einer war, aus dem Paris der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, den ich zwangsläufig mit Heine und mit Marx in Verbindung bringe); die beiden anderen waren Kupferstiche, wobei der erste das Goetheporträt von May aus dem Jahre 1779 darstellte, der zweite (bzw. das dritte Bild) zeigte die berühmte Statue aus Weimar, wo es scheint, als ginge Schiller voran und wage einen Schritt, den Goethe nicht wagt oder vor dem er sich hütet. Diese drei Bilder hatten meinem Großvater gehört, den ich nicht gekannt habe und von dem ich wußte − andeutungsweise, denn das stille, beinah eigensinnig zurückhaltende Witwenleben meiner Großmutter verbot jegliche Frage −, daß er 1915 in der Somme verschwunden war. Und über den ich, allerdings erst viel später, durch einen lakonischen Satz, den ich noch heute höre, erfuhr (ich hatte gerade meiner Mutter die Übersetzung einer Übersetzung geschenkt, die Hölderlinsche Übertragung der Antigone des Sophokles), daß er »Deutschlehrer war, Sozialist und Pazifist, wie Jaurès«, und daß »er eine Doktorarbeit über Schiller plante.« So ist es gewesen, wörtlich und im übertragenen Sinne.
Unsere Geschichte wird (Thomas Mann widmete Freud diesen Gedanken in den »finsteren Zeiten«) − ohne daß wir es wissen − von der Wiederholung eines Beispiels, eines Schemas oder eines Existenztypus bestimmt. Man kann dieses Phänomen tatsächlich das Unbewußte nennen; ich rede nicht von Leidenschaft, um dies zu leugnen. Goetheaner, geheilt − wie er selbst sagt − von der romantischen Schwärze, jedenfalls taub geworden − er, der »Musiker«
− für den archaischen, uralten Ruf, der von neuem aus der »Wildnis der Welt der Toten« (der Ausdruck stammt von Hölderlin) kam, er setzte all seine vage Hoffnung auf die Umwandlung von Wiederholung in überlegtes Zitat, von erlittenem Leben in gespielte Existenz, von Pathos in Rolle, von dämonischer Passivität in dämonenhafte Bestätigung − wie es Nietzsche beinahe gelungen war.
Er sprach von Ironie oder berief sich auf einen kommenden Humanismus, der nicht aus einer betäubenden Bemühung des Präfixes über in seiner nietzscheanischen, sicherlich metaphysischen Bestimmung vom Wesen des Menschen hervorgehen sollte. Er wußte ohnehin, daß er träumte: Ist nicht sein Doktor Faustus, der letzte große Künstlerroman, Sinnbild für das, was ich schließlich mit Resignation den National-Ästhetizismus nannte (offensichtlich noch ein Buch, das mich heimsucht), eine kaum versteckte Nietzsche-Biographie?
Sollte also Leidenschaft unwiderruflich sein? Diese Frage, Sie haben es bereits erraten, stelle ich nicht meinetwegen: ich habe gesagt, daß meine Schwäche unheilbar ist, und wenigstens weiß ich gerade so viel von Heilung, daß man sie nämlich nicht verlangen darf.
Wenn ich diese Frage stelle, wenn ich hier mit Thomas Mann an Krankheit und ihr Nachlassen erinnere, so denke ich dabei an ihre historische Bedeutung, die untrennbar von der philosophischen und politischen ist. Ich denke dabei an die »große Gesundheit« von Nietzsche und an den »Philosophen als Arzt der Kultur«; oder an den Freud von »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (auch von 1915) und des »Unbehagens in der Kultur«, das natürlich eine Antwort darauf war.
Gerade diese Harmonie hörte ich in der Aussage mitschwingen, die sich mir aufdrängte: Deutschland, eine Leidenschaft.
Das Schwerste ist noch nicht gesagt, aber ich muß es sagen. Deutschland, meine Damen und Herren, Deutschland ist ein Leid. Ich höre die Stimme des Dichters, auf den ich vorhin anspielte: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland, und die untröstliche, hoffnungslos prosaische Stimme, von dem der mit dem gallizistischem Anagramm seines Namens zeichnete: Jean Améry. Zwei Selbstmorde. Ich spreche nicht von den Wunden und den Verlusten, den Verwüstungen und Blutbädern, von dem Haß, nicht von all den Kriegen, selbst von den schlimmsten nicht, die uns geteilt und zerrissen haben, von denen wir uns aber jedes Mal − und wie ich hoffe, auf Dauer − haben erholen können, indem wir in uns selbst die Quellen und die Energie fanden, die man braucht, um die Trauerarbeit zu leisten und zu vollziehen − auch ein Begriff, (ich kann nichts dafür), der aus dem Jahr 1915 stammt. Ich spreche vom »Ereignis ohne Antwort«, wie Blanchot es nennt, von diesem Einschnitt, Synkope oder Elision, beispiellos und ohne Maß im Satz der Geschichte, der wahrscheinlich nie aufhören wird, uns heimzusuchen − ich sage zwar uns, aber unter dem Eindruck dieser lichtlosen Reminiszenz, einer Anamnese die keine Amnestie zuläßt, gestehe ich, oft nicht genau zu wissen, wer wir sind, wenn wir »uns« sagen.
Deutschland ist dennoch, meine Damen und Herren, selbst ein Leid. Wenn ich den Namen »Deutschland« ausspreche, habe ich dabei vor allem einen Gedanken, genauer gesagt, drängt sich mir ein Wort dieses Gedankens bei dem Namen auf.
Im Wörterbuch, das für meinen Beruf manchmal unentbehrlich ist, ist Deutschland, selbst in seiner Poesie und seiner Literatur, ein Philosophem; nicht etwa eines unter vielen, sondern das Philosophem schlechthin, von dem ausgehend gestaltet sich das deutsche Denken − seit Luthers »hartem Wort«, das die Phänomenologie des Geistes zitiert: Gott selbst ist tot − als ein Denken des Leids, der »absoluten Zerrissenheit«.
Die deutsche Not, die ständig und überall wie ein Leitmotiv noch heute präsent ist, ist kein eitler Vorwand einer vagen Klage oder eines mürrischen Wiederkäuens (vom Fehlen einer Heimat, eines Landes, eines Volkes oder einer Nation, eines Staates, kurz einer Identität). Dies ist das melancholische Geheimnis des deutschen Genies, das aber auch gleichzeitig aus diesem heroischen Mut besteht, ich zitiere nochmals Hegel, »dem Negativen ins Gesicht zu sehen«: »Der Tod« (sagt er in einem berühmten Satz), »wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, was es gibt, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert.«
Was auch immer dieser Satz bewirkt haben mochte − und es war bekanntlich das Schlimmste, was Willen, Macht und Wissen, Beherrschung und Stolz, Sicherheit und wütende Selbstbehauptung, gebieterische Herrschaft (ach, dieses Wort festhalten!) betrifft − man kann ihm unter keinen Umständen, es sei denn durch Verfälschung, das Verbrechen zuschreiben. Seine Verfälschung war eben das Verbrechen (Arbeit macht frei), und das ist wieder ein Leid.
Kein anderes Denken − ich betone diesen Ausdruck − hat die Erfahrung des Leids in solch einem Umfang gemacht, ist solch ein Risiko eingegangen oder hat so sehr der Gefahr getrotzt. Wir sind weit davon entfernt, dieses Denken aufzugeben, mit ihm abgeschlossen zu haben: es ist von nun an, davon bin ich überzeugt, unendlich. Macht das aus dem Denken eine Leidenschaft?
Sicherlich, und dieser Leidenschaft verdanke ich, das, was für mich »Deutschland« bedeutet. Erlauben Sie mir, daß ich diesen Dank über Sie ihr erweise.
Übersetzung: Ute Bauermeister

(1) Emmanuel Terray: Une passion allemande. Paris: Seuil (»La librairie du XXe siècle«) 1994.
(2) Jean-Marie Paul: Dieu est mort en Allemegne (Des lumières à Nietzsche). Paris: Payot 1994.