Friedrich-Gundolf-Preis

The »Friedrich-Gundolf-Preis« has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964.
As a »Prize for German Scholarship Abroad«, for 25 years it was exclusively awarded to linguists and literary scholars at foreign universities.
However, the prize has also been awarded to persons outside of academia who are committed to imparting German culture and cultural dialog since the prize was renamed the »Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland« (Prize for the Imparting of German Culture Abroad) in 1990.
The Friedrich Gundolf Prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy. It has been endowed with €20,000 since 2013.

Petro Rychlo

Germanist and Translator

Als Übersetzer, als Germanist, als Mitgründer und Leiter des Paul Celan Literaturzentrums in Czernowitz hat Petro Rychlo maßgeblich dazu beigetragen, dass die deutschsprachige Literatur der Bukowina und Galiziens in der ukrainischen Gesellschaft als Teil ihres vielsprachigen kulturellen Erbes präsent ist.

Jury members
Günter Blamberger, László Földenyi, Daniel Göske, Claire de Oliveira, Marisa Siguan (Vorsitz) und Anja Utler.

Laudatory Address by Ilma Rakusa
Literary scholar, Writer and Translator, born 1946

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Akademiemitglieder, lieber Petro Rychlo,

Czernowitz und Petro Rychlo sind mittlerweile so untrennbar miteinander verbunden, dass wer den Namen der Stadt ausspricht, im gleichen Atemzug Rychlo sagt. Wie ist es dazu gekommen? Nach vielen Jahren als Dozent ist Petro Rychlo seit 2007 Professor am Lehrstuhl für fremdsprachige Literaturen der Nationalen Jurij-Fedkowitsch-Universität Czernowitz, wo er sich mit deutschen und österreichischen Autoren des 20. Jahrhunderts beschäftigt, insbesondere mit dem reichen deutschsprachig-jüdischen literarischen Erbe von Czernowitz. Dazu gehören ‒ um einige der wichtigsten Namen zu nennen ‒ Paul Antschel (später als Paul Celan bekannt), Rose Ausländer, Selma Meerbaum-Eisinger, Alfred Kittner, Immanuel Weissglas, Alfred Gong und Alfred Margul-Sperber. Petro Rychlo beschränkte sich freilich nicht darauf, über diese Dichter und Dichterinnen zu dozieren oder ihnen Studien zu widmen, er übersetzte sie in seine Muttersprache Ukrainisch, in der sie weitgehend unbekannt waren. Ihm verdankt sich die erste ‒ und einzige ‒ Gesamtausgabe von Celans Gedichten in zehn Bänden; jeder Band ist zweisprachig, sorgfältig kommentiert und mit einem Nachwort versehen. Eine immense Leistung!

Um zu ermessen, was sie für ukrainische Leser und last but not least für die Bewohner von Czernowitz bedeutet, möchte ich kurz ausholen und die Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert skizzieren. Sprichwörtlich ist, dass sie zur Zeit der Österreichisch-Ungarischen Monarchie und selbst unter Rumänien bis kurz vor dem Zweiten Weltkrieg eine multikulturelle Vielvölkerstadt war, in der Deutsche, Juden, Ukrainer, Polen, Ungarn, Rumänen und Armenier lebten. Zeitungen erschienen in sechs Sprachen (darunter auch jiddisch) und in drei Alphabeten (lateinisch, kyrillisch, hebräisch), Kirchen verschiedenster Art und über 70 Synagogen und Betstuben widerspiegelten das bunte Völkergemisch. Es gab sogenannte Nationalhäuser, in denen Veranstaltungen, Vorträge, Lesungen und Konzerte stattfanden, jede ethnische Gruppe verfügte über ein eigenes Theater, man traf sich in wienerisch eingerichteten Kaffeehäusern sowie in Privatsalons und nutzte hervorragende Bibliotheken, etwa die in der Toynbeehalle oder die Büchersammlung von Dr. Horowitz, in der der Gymnasiast Paul Antschel stöberte. Dies alles änderte sich 1940 nach dem Hitler-Stalin-Pakt, als die Nordbukowina mit Czernowitz an die Sowjetunion fiel. In seinem Nachwort zur Anthologie „Europa erlesen. Czernowitz“ (2004) resümiert es Petro Rychlo so: „Alle Vereine und politischen Parteien werden aufgelöst, die multinationalen und vielsprachigen Presseorgane beschlagnahmt, Kirchen und Synagogen geschlossen, öffentliche Aktivitäten verboten, ‚volksfeindliche Elemente‘ ‒ vor allem wohlhabende Bürger und Intellektuelle ‒ nach Sibirien verschickt.“ 1941, als Antonescu mit den verbündeten Deutschen Czernowitz zurückerobert, errichtet eine SS-Einsatzgruppe ein jüdisches Getto, von dem aus zahlreiche Juden nach Transnistrien deportiert werden. Paul Celans Eltern kommen dort 1942, bzw. 1943 um. Celan selbst verbringt die Jahre 1942-1944 im rumänischen Arbeitslager Tabaresti. Czernowitz, so schreibt er später, wird zum „schwarzen Witz der Geschichte“.

Nach dem Einzug der Roten Armee in die Stadt, 1944, sind die architektonischen Kulissen zwar fast unverändert, doch lebt hier nun ein anderer Menschenschlag, der „homo sovieticus“. Die Bevölkerung der Stadt verdoppelt sich (was zu neuen Plattenbausiedlungen führt), Russisch wird zur Verkehrssprache, die Beziehungen zur Vergangenheit sind gekappt. Erst 1991, nach der Unabhängigkeit der Ukraine, beginnt man sich langsam auf das reiche multikulturelle Erbe der Stadt zu besinnen. Und da kommt nun Petro Rychlo ins Spiel, der seine gesamten Aktivitäten darauf ausrichtete, das historische Gedächtnis der Stadt wiederzubeleben und an jene Zeit zu erinnern, als sie Teil des vielschichtigen mitteleuropäischen kulturellen Raums war.

Unter Mitwirkung von Petro Rychlo wurde beispielsweise 2010 das Internationale Poesiefestival Meridian Czernowitz gegründet, zu dem regelmässig deutschsprachige Lyriker, aber auch Lyrikerinnen aus Frankreich oder Israel eingeladen werden. Es finden Lesungen im Hof von Celans Geburtshaus statt, seit einigen Jahren auch im 2014 gegründeten Paul-Celan-Zentrum, das Rychlo leitet. Man besichtigt Celans Gymnasium und Rose Ausländers Geburtshaus, trifft sich mit Rabbinern und Schülern einer jüdischen Schule, versucht auf Spaziergängen die Stadt als Palimpsest zu lesen. Und tatsächlich erschliesst sie sich auf wundersame Weise, als blätterte man in einem Buch. Wobei der beste Stadtführer Petro Rychlo heisst.

Schon 1993 gab Petro Rychlo eine kleine Auswahl von Celan-Gedichten in einer zweisprachigen Ausgabe heraus. Das Bändchen, in einer Auflage von 5000 Exemplaren erschienen, war in kurzer Zeit vergriffen und wird als grosse Rarität gehandelt. Im Jahre 2000 betreute Rychlo mit Axel Gellhaus das Marbacher Magazin 90, das Celan in Czernowitz gewidmet war. Ein hervorragend dokumentiertes und illustriertes deutsch-ukrainisches Sonderheft, mit Faksimiles einiger Seiten aus Celans Notizbuch im Arbeitslager Tabaresti. Die Wege für die Celan-Forschung in der Ukraine waren nun geebnet, und Petro Rychlo erkannte definitiv die Dringlichkeit, das nur sporadisch übersetzte Werk des Dichters vollumfänglich ins Ukrainische zu übersetzen. Eine Lebensaufgabe, ohne Zweifel. Dank intensiver Arbeit schaffte er das schwierige Pensum in nur sieben Jahren. Die zehn Bände erschienen 2013-2020 im Czernowitzer Verlag „Knyhy XXI“ und gelten als Markstein der Vermittlung deutschsprachiger Literatur in der Ukraine.

Doch hat es Petro Rychlo nicht bei der Übersetzung belassen, seine intellektuelle Neugier bewog ihn, sich auch wissenschaftlich mit Celans Werk auseinanderzusetzen. Seine Habilitationsschrift „Poetik des Dialogs: Paul Celans dichterisches Werk als Intertext“ (2005, in ukrainischer Sprache) zeugt ebenso davon wie der auf Deutsch verfasste Band „Stationen poetischer Entwicklung. Paul Celans Gedichtbände in chronologisch-historischer Folge“ (Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2022). Weniger an ein Fachpublikum richtet sich der von Rychlo 2020 bei Suhrkamp herausgegebene Band „Mit den Augen von Zeitgenossen. Erinnerungen an Paul Celan.“ Hier sind es vor allem die Zeugnisse von Freunden Celans aus der Czernowitzer Zeit, die Berührendes zu Tage fördern: Moshe Barash berichtet über gemeinsame Kinderspiele, Edith Hubermann über gemeinsame Schuljahre, Malzia Fischmann-Kahwe über Celans exquisite Sprache und seine Begabung vorzulesen, Dorothea Müller-Altneu über seine lässige Eleganz, Edith Silbermann über Literaturgespräche auf hohem Niveau. Und wer Genaueres über diese Celan-Freunde wissen möchte, findet im Anhang detaillierte Lebensabrisse aus der Feder von Petro Rychlo.

Aber auch damit nicht genug. Petro Rychlo setzte sich generell für die Verbreitung deutschsprachiger Lyrik aus der Bukowina ein. 2008 veröffentlichte er parallel zur Monografie „Schibboleth. Die Suche nach einer jüdischen Identität in der deutschsprachigen Dichtung der Bukowina“ (ukrainisch bei „Knyhy XXI“ erschienen) eine umfangreiche Anthologie, „Die verlorene Harfe“, auf Deutsch und in ukrainischer Übersetzung. Sie ist auch für uns von grossem Interesse, da sie ‒ neben einigen bekannten Namen ‒ zahlreiche wenig bekannte Dichter vorstellt. Schon von Isaac Schreyer, Heinrich Schaffer, Victor Wittner, Erich Singer gehört? Von Josef Kalmer, Georg Drozdowski, Johann Pitsch, Jona Gruber, Manfred Winkler, Klara Blum oder Else Keren? Viele der Genannten sind emigriert und haben in der Diaspora geschrieben. Als Beispiel sei Manfred Winklers Gedicht „Mit Paul Celan“ angeführt:

Wie weit, wenn nicht bis zur Schwelle,
geht dein Blick
und in sich zurück ‒
von Schwelle zu Schwelle
durch die Tür
ins zeitlos erworbene Heim
ins freudlos verschüttete Ich.
Dort wird schon kein Stein erblühen
kein Beil,
kein Anderer sich erheben
auf den Flügeln des Albatrosses,
kein Dichter mehr von Rapunzeln träumen
in den trägen Wassern der Seine.

Erst die Kenntnis der vielstimmigen literarischen Szene der Bukowina erlaubt es, Zusammenhänge und Intertexte auszumachen, erst so auch wird es möglich, etwa das lyrische Werk von Paul Celan oder Rose Ausländer zu kontextualisieren und damit neue Deutungshorizonte aufzutun. Für ukrainische Leser und Leserinnen von heute aber geht es noch um mehr: nämlich um die eigentliche Entdeckung eines untergegangenen literarischen Kontinents, der ihnen aus sprachlichen, politischen und kulturellen Gründen verschlossen war. Anja Utler spricht von einer „historisch-geistigen Transferanstrengung“ und von Rychlos „mehrdirektionaler Vermittlertätigkeit“.

Diese umfasst übrigens auch Übertragungen deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartslyrik aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sarah Kirsch, Ingeborg Bachmann, Volker Braun, Durs Grünbein und Jan Wagner hat Rychlo ebenso übersetzt wie die schweizerischen Lyriker Eugen Gomringer und Klaus Merz. An den Anthologien des Festivals Meridian Czernowitz arbeitet er massgeblich mit. Denn: Wer könnte ihn ersetzen?

Lieber Petro Rychlo, ich hoffe, der schreckliche russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Sie nicht ermüden lassen. Ihre Arbeit, glauben Sie mir, wird gebraucht. Gerade in Zeiten wie diesen hat jedes Celan-Wort Gewicht, und jede Anstrengung, Menschlichkeit zu zeigen, zählt doppelt. Wie ich höre, bietet Czernowitz vielen Geflüchteten aus andern Landesteilen Zuflucht, da es bisher relativ verschont geblieben ist. Möge es so bleiben. Die Stadt hat in der Vergangenheit schon genug Leid erlebt. Und möge der Krieg mit einem Sieg der Ukraine und all dessen, was wir unter Freiheit verstehen, enden.

Für Ihre eminente, zu Recht schon vielfach ausgezeichnete Vermittlertätigkeit danke ich Ihnen ‒ im Namen all derer, die sie erfahren und erlesen haben ‒ von Herzen und beglückwünsche Sie zum wohlverdienten Friedrich-Gundolf-Preis!