Sigmund-Freud-Preis

The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Thomas Macho

Cultural Scientist and Philosopher
Born 2/7/1952
Member since 2023

Die Lektüre seiner Schriften ist stets eine außerordentliche intellektuelle Bereicherung.

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Ernst Osterkamp
Vizepräsidenten: Aris Fioretos, Wolfgang Klein, Monika Rinck, Beisitzer: Elisabeth Edl, László Földényi, Michael Hagner, Dea Loher, Ilma Rakusa, Marisa Siguan

Sehr verehrter Herr Präsident, sehr geehrte Frau Staatssekretärin,
lieber Karl-Markus Gauß, verehrte Mitglieder der Akademie,
liebe Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Damen und Herren!
Lassen Sie mich mit einem Geständnis beginnen: Die Dankbarkeit und
überwältigende Freude, die mich nach der Mitteilung über die Verleihung des Sigmund-Freud-Preises erfasst hat – eines großartigen Preises, von dem ich nicht einmal geträumt habe –, ist bald einer veritablen Schreibhemmung gewichen. Wie kann ich meinen Dank angemessen ausdrücken? Erschwerend wirkten die zahlreichen Zuschriften und Glückwünsche, in denen betont wurde, ich hätte diesen Preis »verdient«. Wer hat schon einen solchen Preis »verdient«? Sofort begann ich mich zu fühlen wie der freundliche Mann mit Strohhut in der Hängematte, der in einem Werbespot der Aktion Mensch betont, er habe den Lotteriegewinn verdient, weil er mit seinem Los zur Förderung sozialer Projekte beigetragen habe. Und die anderen Loskäufer? Warum sind sie leer ausgegangen? Verdient oder unverdient: Spontan ist mir eine Bemerkung Sigmund Freuds eingefallen, in der es heißt, das Unbewusste, »die tiefsten, aus Triebregungen bestehenden Schichten unserer Seele«, kenne »überhaupt nichts Negatives, keine Verneinung«, denn die »Gegensätze fallen in ihm zusammen«. Das Unbewusste sei unfähig zur Verneinung, erst recht zur Selbstverneinung, nämlich zur Vorstellung des eigenen Todes; es kann daher auch keine Selbstbejahung ausdrücken, sondern »gebärdet« sich allenfalls »wie unsterblich«. Als Inspirationsquelle für eine Dankrede bleibt das Unbewusste nachhaltig trocken und stumm.
Die eben zitierten Bemerkungen Freuds wurden 1915 in der Zeitschrift Imago veröffentlicht, und zwar unter dem Titel Zeitgemäßes über Krieg und Tod. In manchen Aspekten sind die Überlegungen dieses Textes heute ebenso aktuell wie ein Jahr nach Beginn des Ersten Weltkriegs, etwa die Enttäuschung über die »Einsichtslosigkeit, die sich bei den besten Köpfen zeigt, ihre Verstocktheit, Unzugänglichkeit gegen die eindringlichsten Argumente, ihre kritiklose Leichtgläubigkeit für die anfechtbarsten Behauptungen«, Enttäuschung auch über die Ohnmacht logischer Argumente, die das »Streiten mit Gründen, die nach Falstaffs Wort so gemein sind wie Brombeeren«, scheitern lasse; die Enttäuschung über die Brüchigkeit von »Kulturgemeinschaften« und ein »geheucheltes« Weltbürgertum, das sich »aus allen Vorzügen und Reizen der Kulturländer ein neues größeres Vaterland zusammensetzen « wollte, um so »das blaue und das graue Meer, die Schönheit der Schneeberge und die der grünen Wiesenflächen, den Zauber des nordischen Waldes und die Pracht der südlichen Vegetation, die Stimmung der Landschaften, auf denen große historische Erinnerungen ruhen, und die Stille der unberührten Natur« zu genießen.(1) Freuds Bemerkung wird ein spätes Echo in den Worten finden, mit denen Kalle – Protagonist der Flüchtlingsgespräche, die Bertolt Brecht in den frühen 1940er Jahren verfasst hat – für eine selbstgewählte Heimat optiert: »Sagen wir, man zeigt mir ein Stückel Frankreich und einen Fetzen gutes England und ein, zwei Schweizer Berge und was Norwegisches am Meer und dann deut ich drauf und sag: das nehm ich als Vaterland; dann würd ichs auch schätzen. Aber jetzt ists, wie wenn einer nichts so sehr schätzt wie den Fensterstock, aus dem er einmal heruntergefallen ist.«(2)
Das Wort »Kultur« – gebraucht in Adjektiven und zusammengesetzten
Substantiven wie »Kulturwert«, »Kulturgemeinschaft«, »Kulturstaat«, »Kulturarbeit«, »Kulturmenschheit«, »Kulturweltbürger«, »Kulturumgebung«, »Kulturmilieu«, »Kultureinfluss«, »Kultureignung«, »Kulturgehorsam«, »Kulturheuchler« oder »Kulturauflagerung« – taucht in Freuds Text fast auf jeder Seite mehrmals auf; ein schlichter Suchbefehl erzielt 57 Treffer auf rund 30 Druckseiten. Diese Beschwörung der Kultur richtet sich gegen eine offenbar unbeherrschbare Natur der Menschen. Nicht umsonst argumentiert Freud gegen Ende seines Textes, dass gerade die häufig betonte Geltung des Tötungsverbots uns sicher machen dürfe, dass »wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen«. Nicht der Vatermord steht plötzlich – wie sonst bei Freud – im Zentrum der Kulturgeschichte, sondern die Kindstötung, Wurzel zahlloser Mythen und Realität aller Kriege. Unlängst erst hat der damals schon steinalte, inzwischen verstorbene Michel Serres mit Blick auf die Weltkriege konstatiert, abgesehen von der »Bombardierung der Zivilbevölkerung in den Städten« sei in den »Kriegen, meist von Verantwortlichen reiferen Alters beschlossen und organisiert, die männliche Jugend getötet worden. Mit anderen Worten: In den Ministerien, Botschaften und Hauptquartieren saßen Väter aus jener Elite, die sich mit Inbrunst einer im zweistelligen Millionenbereich betriebenen Ermordung ihrer Söhne widmeten. Den Söhnen und Töchtern, die überlebt hatten und zweifellos geblendet waren von der imponierenden Gräberzahl, wurde wenig später in den Hörsälen eine ganz andere Geschichte nahegebracht, die vom ›Vatermord‹.«(3)
Zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hat Freud seine
Hypothese eines »Todestriebs« – in der Abhandlung vom Jenseits des
Lustprinzips
– publiziert. Während er 1915 noch behauptet hatte, der
Todesvorstellung komme »nichts Triebhaftes in uns entgegen«, entwickelte er 1920, nach Exkursen zum Kinderspiel, zur traumatischen Neurose und zum »Wiederholungszwang«, die Spekulation von den Todestrieben als Antagonisten der Lebens-, Sexual- und Selbsterhaltungstriebe. Zehn Jahre später, im letzten Absatz der Studie über Das Unbehagen in der Kultur, sprach Freud gar vom »Selbstvernichtungstrieb « der menschlichen Gattung.(4) Klaus Heinrich hat diese Wendung 2002 – in seiner Dankrede zum Freud-Preis – gleich zweimal zitiert. Der Rekurs auf Freuds düsteren Ausdruck war damals, kurz nach den Untergangsängsten anlässlich der Jahrtausendwende und dem Anschlag auf das World Trade Center in New York, überaus naheliegend; er war bereits naheliegend in den 1950er Jahren, als Günther Anders die »Apokalypse-Blindheit« der Menschen beklagte. Auch heute drängen sich ähnliche Visionen auf: Hans Joachim Schellnhuber hat 2015 seine Analyse der Konsequenzen des Klimawandels unter dem Titel Selbstverbrennung veröffentlicht. Tatsächlich hat sich der Anwalt und Umweltaktivist David Buckel am 14. April 2018 selbst verbrannt; in einem Abschiedsbrief an die New York Times schrieb der Sechzigjährige : »My early death by fossil fuel reflects what we are doing to ourselves.« Solcher Protest ist freilich kein Effekt eines Triebs, ebenso wenig wie die Operationen zerstörerischer Ökonomie und Politik. Offen und umstritten bleibt also die Frage, ob Freuds »Todestrieb« auf Natur oder Kultur bezogen werden soll und ob es überhaupt sinnvoll ist, die Menschengattung als Akteurin ihrer eigenen Vernichtung zu imaginieren. Gelegentlich hat man mir gesagt – halb vorwurfsvoll, halb irritiert –, ich würde mich so häufig mit dunklen, womöglich abseitigen Themen befassen: von den Todesmetaphern (1987) bis zur Neuen Sichtbarkeit des Todes (2007) oder zum Suizid in der Moderne (2017). Nun wissen wir alle, dass wir uns die Stoffe der eigenen Arbeit nicht immer aussuchen können; manchmal jagen und verfolgen sie den Autor. Heute feiern wir obendrein den Allerseelentag; doch vielleicht verhilft mir gerade dieser Zufall des Kalenders zu einem fröhlichen Schluss meiner Dankrede. Denken Sie etwa an die Traditionen von Totenfesten, bei denen viel gelacht werden musste, im Karneval oder – bis heute – am Dia de los Muertos, dem Tag der Toten in Mexiko. Oder denken Sie an die Totentänze, die auf die Pandemie der Pest im Spätmittelalter reagierten, in deren Verlauf rund 25 Millionen Menschen, ein Drittel der damaligen Bevölkerung Europas, starben. Auf Kirchenwänden und Friedhofsmauern – von Paris bis Basel oder Lübeck – veranschaulichten die Totentänze den finalen Triumph des Todes, der alle Stände und Zünfte traf, Frauen und Männer, Kinder und Alte, Starke und Schwache. »Der Tod erwürget alle gleich, wie er sie findet, arm und reich«, heißt es in einem alten Sprichwort. Mitunter schienen die dargestellten Toten als Bußprediger aufzutreten, um die Lebenden zu verhöhnen; häufiger jedoch wirkten sie durchaus vergnügt, als würden sie lachen, grinsen, scherzen: schadenfroh vielleicht, denn sie hatten das Sterben bereits hinter sich. Nur selten war ihr Gesichtsausdruck grimmig und erzürnt; gelegentlich tanzten sie, spielten Flöte oder Laute. Ihre Musik feierte keine Auferstehung, auch keine unheimliche, dämonische Wiederkehr, sondern lediglich das rhythmische Gleichgewicht zwischen Werden und Vergehen, Leben und Sterben.
Im Lachen der Toten manifestiert sich nicht nur Angst, sondern auch die Gewissheit der Gleichheit, einer Egalität, die verkrustete Unterschiede auslöscht, mit einem ansteckenden Lachen, das ein Ideal der Solidarität in Erinnerung ruft: Wir sind alle sterblich. Darin verbirgt sich ein Trost, den der Philosoph und Psychoanalytiker Cornelius Castoriadis als Wurzel der politischen Imagination im alten Griechenland bezeichnet hat. »Für die Griechen«, schreibt Castoriadis, »ist das Wesentliche die Sterblichkeit«. Er kenne »keine andere Sprache, in der das Wort sterblich die Bedeutung menschlich und menschlich die Bedeutung sterblich hat«.(5) Im Blickfeld der lachenden Toten wird das Schicksal der Sterblichkeit in eine Art von geteilter, gemeinsamer, befreiender Komik transformiert, womöglich auf dem einzigen Weg der Entschuldung, der angesichts der Toten beschritten werden kann. Wir haben uns vorschnell daran gewöhnt, das Wesen der Macht aus der von ihr verkörperten Todesdrohung abzuleiten. Dagegen hat Mohammed A. Bamyeh, jordanischer Soziologe an der University of Pittsburgh und derzeitiger Präsident des Arab Council for the Social Sciences, in seinem Essay Of Death and Dominion (2007) betont, der Tod sei – als Versprechen der Gleichheit – stets subversiv, der drohende Gegner, der Feind jeder Macht. Der Titel des Essays spielt an auf ein berühmtes Gedicht von Dylan Thomas, das mit der Zeile beginnt: »And death shall have no dominion«, in Erich Frieds Übersetzung: »Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben«. Denn wer »sterben gelernt hat, hat das Dienen verlernt«, schrieb Montaigne vor mehr als vier Jahrhunderten: »Sterben zu wissen entlässt uns aus jedem Joch und Zwang«.(6) Auch darüber lachen und feiern wir mit den Toten, in einer Verbundenheit ohne Melancholie und Verzweiflung, in einer Haltung der weißen Trauer, wie sie Wolf Biermann in seinem Lied vom Berliner Hugenottenfriedhof charakterisiert hat: »Dann freun wir uns und gehen weiter, und denken noch beim Küssegeben: Wie nah sind uns manche Tote.«
Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und ihrer Jury für die Verleihung des Sigmund-Freud-Preises, dem liebenswürdigen Laudator Karl-Markus Gauß, meinen Kolleginnen und Kollegen, den Freundinnen und Freunden, meiner Frau Annette
Wunschel – und nicht zuletzt Ihnen allen für das Geschenk Ihrer Anwesenheit und Aufmerksamkeit.

(1) Sigmund Freud, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, in: Gesammelte Werke, Bd. 10: Werke aus den Jahren 1913–1917, London 1946, 322–355; hier 350, 338f., 327.
(2) Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche, in: Gesammelte Werke, Bd. 14: Prosa 4, Frankfurt am Main 1967, 1381–1515; hier 1452f.
(3) Michel Serres, Was genau war früher besser? Ein optimistischer Wutanfall, Berlin 2019, 12.
(4) Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Gesammelte Werke, Bd. 14: Werke aus den Jahren 1925–1931, London 1948, 420–506; hier 506.
(5) Cornelius Castoriadis, Das griechische und das moderne politische Imaginäre, in: Philosophie, Demokratie, Poiesis. Ausgewählte Schriften, Bd. 4, hg. von Michael Halfbrodt und Harald Wolf, Lich / Hessen 2011, 93–121; hier 107.
(6) Michel de Montaigne, Philosophieren heißt sterben lernen, in: Essais, Frankfurt am Main 1998, 45–52; hier 48.