Sigmund-Freud-Preis

The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Peter Sloterdijk

Philosopher
Born 26/6/1947
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Peter Sloterdijk, dem Kulturkritiker und Zeitanalytiker, der in seinem breitgefächerten Werk von der Kritik der zynischen Vernunft und einer Ethik der Unterlassung bis zu einer anthropologisch-politischen Sphärologie vordrang...

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Klaus Reichert
Vizepräsidenten Peter Hamm, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, Beisitzer Friedrich Christian Delius, Heinrich Detering, Harald Hartung, Joachim Kalka, Peter von Matt

Laudatory Address by Boris Groys
Philosopher, critic and Media theorist, born 1947

Philosophie im Kontext und als Kontext

Es ist für mich eine große Ehre und Freude, eine Laudatio auf Peter Sloterdijk zu diesem feierlichen Anlaß zu halten. Doch zugleich ist es, weiß Gott, keine einfache Aufgabe. Denn der Laudator kann sich nicht darauf beschränken, Peter Sloterdijk für sein Werk, das heute ausgezeichnet wird, zu loben und zu preisen – das tue ich hier sehr gern und von ganzem Herzen –, sondern er muß, gemäß den Konventionen des Genres, versuchen, das Werk des Ausgezeichneten kurz zu charakterisieren, um dessen Bedeutung anschaulich zu machen. Und darin liegt die eigentliche Schwierigkeit. Erstens ist das Werk von Peter Sloterdijk schon seinem Umfang nach beinahe unübersichtlich und entzieht sich somit jeder Zusammenfassung, jeder verkürzenden Charakterisierung. Peter Sloterdijk ist einer der produktivsten Autoren der Gegenwart, der ein Werk von einer solchen Vielfalt und einem solchen Reichtum geschaffen hat, daß es den Leser allein durch seine pure materielle Präsenz in Erstaunen versetzt. Aber auch inhaltlich entziehen sich die Texte von Peter Sloterdijk jeder Reduktion auf eine bestimmte Formel, sie sind so reich an Verzweigungen, komplizierten Denkbewegungen und ungewöhnlichen Assoziationsfeldern, die sie erschließen, daß sie sich als fähig erweisen, jeder vorschnellen Interpretation entschiedenen Widerstand zu leisten. Aber zweitens – und vor allem – besteht die Schwierigkeit einer Interpretation darin, daß im Werk von Peter Sloterdijk Denken und Schreiben eine solch unauflösliche Verbindung eingehen wie bei kaum einem anderen Autor. Nicht zufällig erhält Peter Sloterdijk heute den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Der Zauber der Sloterdijkschen Sprache ist in der Tat erstaunlich mächtig. Wenn man Sloterdijk hört und liest, dann hat man das Gefühl, zum Zeugen der Erschaffung einer neuen, noch unbekannten Sprache zu werden, bei der Urszene der Sprachentstehung anwesend zu sein, in dem Augenblick, an dem sich noch keine Differenz zwischen Wort und seiner Bedeutung aufgetan hat. Der Traum von einer solchen utopischen, ursprünglichen Sprache hat viele Autoren der Moderne fasziniert und bewegt. Man spürt die Ekstase der Annäherung an diesen Traum auch in vielen Texten von Sloterdijk. Inzwischen haben viele Autoren versucht, die Sloterdijkschen Wortschöpfungen und syntaktischen Figuren zu imitieren. Das ist ihnen zumeist nicht gelungen, denn man kann in diesem Fall die Sprache von dem Denken, das sie in sich trägt, nicht trennen. Ein Werk zusammenzufassen, in dem Sprache und Denken eine solche Einheit bilden, scheint ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Dennoch kann ich mich dieser Aufgabe nicht entziehen – und so werde ich jetzt in aller Kürze eine allgemeine Charakterisierung des Sloterdijkschen Werks riskieren.
Dabei möchte ich mit der Behauptung beginnen, daß Peter Sloterdijk am konsequentesten die Folgen gezogen hat aus dem Unbehagen an der heutigen Philosophie, welches sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend bemerkbar gemacht hat. Jeder, der Philosophie treibt, ist unausweichlich vom Ehrgeiz getrieben, ein neues Wort in der Philosophie zu sagen, einen nächsten Schritt zu machen in der Entwicklung des philosophischen Denkens. Aber man kann ein neues Wort in der Philosophie nur dann sagen, wenn man eine stabile, allgemein anerkannte philosophische Tradition hinter sich weiß – wenn man also weiß, welche Worte als alte, schon ausgesprochene Worte gelten dürfen. Und gerade dieses Wissen ist uns während der letzten Jahrzehnte abhanden gekommen. Fast jeder Autor, der heutzutage über die Geschichte der Philosophie schreibt, tendiert dazu, neue, bisher »übersehene« Autoren in diese Geschichte zu integrieren – und andere, bekannte Autoren wenn nicht gar aus dieser Geschichte auszuschließen, dann zumindest ihre Bedeutung zu relativieren und damit zu mindern. Doch auch diejenigen Autoren, welche die philosophische Tradition nicht umschreiben wollen, versuchen, sie anders zu interpretieren oder gar zu dekonstruieren. Jahrzehnte hermeneutischer Arbeit, inklusive der Arbeit der Dekonstruktion, haben unsere Lektüre der philosophischen Tradition völlig destabilisiert, diese Tradition ungewiß, ja sogar unkenntlich gemacht. Wir wissen nicht mehr, welche Worte alte Worte sind – und wenn wir es wissen, dann wissen wir nicht mehr, was diese Worte eigentlich sagen wollen. Das einzige, was einem Autor unter diesen Bedingungen bleibt, besteht darin, eine weitere Interpretation der philosophischen Tradition zu schreiben – statt ein neues Wort sagen zu wollen. Dieses Ziel ist auch ehrgeizig, aber nicht ehrgeizig genug – und so leidet die heutige akademische Philosophie vor allem unter der Herabsetzung ihres Ehrgeizes.
Nun ist dies aber genau der Punkt, an dem der Diskurs von Peter Sloterdijk ansetzt. Sloterdijk will nicht die Philosophiegeschichte neu erzählen. Stattdessen lenkt er die Aufmerksamkeit des Lesers von dieser Geschichte weg auf den Raum, in dem diese Geschichte erzählt wird – auf die Szene des Erzählens, auf die Bühne, auf der die Erzählung vorgetragen wird. Hier wird der Raum als primär und die Zeit, die Geschichte als sekundär verstanden. Denn was ist eine Geschichte, inklusive der Geschichte der Philosophie? Eine Geschichte ist nichts anderes als der Versuch, einen bestimmten Raum zu erzählen. Zunächst einmal betritt der Mensch als Besucher den Raum einer Bibliothek oder eines Museums oder auch einen durchaus alltäglichen Raum – und erst dann beginnt der Vorgang des Geschichtenerzählens. Es werden Geschichten über einzelne Dinge inklusive ihrer Vorgeschichten erzählt, es wird aber auch der Grund angegeben, warum sich diese Dinge in diesem Raum befinden, und es wird beschrieben, in welchen Relationen diese zueinander Dinge stehen. Man kann sagen, daß Peter Sloterdijk in seinen Schriften genau solche Räume schafft – aber nicht etwa als ein Kurator, der vom Staat dafür angestellt ist, auch nicht als ein Privatmann, der seine Wohnung möbliert, sondern als ein Autor, der kraft seiner Sprache mentale, virtuelle, narrative Räume schafft. Und Sloterdijk vermag diese Räume so überzeugend zu gestalten, sie so plastisch zu beschreiben, daß man fasziniert, bezaubert und bereit ist, die Geschichten, die der Autor über diese Räume und einzelne Gegenstände, die sich in diesen Räumen befinden, erzählt, mit Begeisterung zu verfolgen. Es handelt sich dabei um subjektive, frei geschaffene, individuell kuratierte Räume, in denen oft auf eine durchaus ungewöhnliche Weise unterschiedliche Gegenstände, Ereignisse, Texte, Bilder, historische Monumente und persönliche Reminiszenzen platziert werden, die ungeahnte Verbindungen eingehen. Schon in seinem früheren und überaus erfolgreichen Buch Kritik der zynischen Vernunft behandelt Peter Sloterdijk den Kynimus weniger als eine bestimmte Denkrichtung, die der Geschichte der Philosophie angehört, sondern vielmehr als einen Topos, als einen Ort, der zu jeder Zeit erneut in Anspruch genommen, besetzt und appropriiert werden kann. In einem anderen seiner Bücher beschreibt Peter Sloterdijk Nietzsche als einen Denker auf der Bühne. Aber vor allem schafft Sloterdijk in seinem Hauptwerk, der dreibändigen Schrift Sphären, virtuelle Ausstellungsräume – eben Sphären genannt –, in denen aus der Geschichte der Philosophie bekannte Diskursfiguren zusammen mit Beschreibungen von Alltagserlebnissen, Beispielen aus Kunst und Wissenschaft, psychologischen Beobachtungen und historischen Reminiszenzen zusammen ausgestellt sind und vom Leser besichtigt werden können. Das Sphären-Werk demonstriert besonders deutlich das untrügliche Gespür für die Aktualität, für das historische Jetzt, welches das Werk von Peter Sloterdijk auszeichnet. Sloterdijk operiert zwar gern mit geschichtlichen Beispielen. Doch die Art, wie er mit diesen Beispielen operiert, kann man nur mit den avanciertesten kuratorischen Praktiken unserer Tage vergleichen.
Nun muß dabei aber unterstrichen werden, daß bei aller subjektiven Freiheit, mit der Sloterdijk seine virtuellen Räume ausstattet und kuratiert, diese niemals beliebig – und auch niemals rein künstlerischer Natur sind. Die Schriften von Sloterdijk sind insofern in erster Linie philosophisch, weil sie dem Auftrag der Philosophie treu bleiben, Verhältnisse aufzuklären, Dinge und Positionen klar und deutlich zu machen. Die räumlichen Konstellationen und Kontexte, die Peter Sloterdijk in seinen Büchern schafft, sind zwar frei imaginiert, aber sie dienen jedes Mal dem Ziel, einen Begriff, eine Denkfigur, eine Position, einen Diskurs zu erklären und zu verdeutlichen, die der Autor inmitten eines von ihm geschaffenen Raums ins Licht stellt. Philosophie, wie sie von Peter Sloterdijk praktiziert wird, ist Philosophie im Kontext und Philosophie als Kontext – ein Raum mit einer komplizierten und zugleich durchaus zugänglichen Architektur, mit vielen Eingängen und Ausgängen. In erster Linie dient diese Architektur dem Zweck, die traditionelle scharfe Trennung zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie in Frage zu stellen. Philosophie ist hier alles, was sich in der Sphäre der Philosophie verorten und installieren läßt – also nicht nur die philosophischen Texte als solche, sondern auch alle ihre scheinbar unphilosophischen, alltäglichen, künstlerischen, historischen und kulturellen Kontexte. Auf diese Weise erhält die Philosophie wieder das Recht und die Möglichkeit, über das Ganze der Welt zu sprechen – über die Welt nicht als Gegenstand der Betrachtung von einer Position außerhalb der Welt, sondern über die Welt als Innenraum der Philosophie, als ihr Kontext, als Bühne ihres geschichtlichen Auftretens. Das Werk von Peter Sloterdijk öffnet die Philosophie für ihre Welt, für ihren Kontext, für den Raum ihrer Praxis – und wir, da wir auch zu diesem Kontext gehören, danken ihm für diese neue Offenheit.