Sigmund-Freud-Preis

The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Norbert Miller

Literary scholar
Born 14/5/1937
Member since 1985

... mit kompetenter Übersicht und großer Gelehrsamkeit seine Kenntnisse der Kunstgeschichte und Weltliteratur sowie der Musikgeschichte in einer ebenso anregenden wie genauen Sprache zusammenführt.

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Günter de Bruyn, Hartmut von Hentig, Ivan Nagel, Beisitzer Walter Helmut Fritz, Oskar Pastior, Lea Ritter-Santini, Peter Wapnewski, Hans Wollschläger

Laudatory Address by Peter Wapnewski
Mediaevalist, born 1922

Sätze und Einsätze

I

»Goethes Reise durch Italien pflegt Assoziationen des Glücklich-Heiteren, des Klassizistisch-Bedeutsamen auszulösen. Man hat den Dichter im Hinblick auf die Art, wie er seine Reise dargestellt hat, zum Schöpfer eines Italien-Mythos für die deutsche Kultur erklärt« (Norbert Miller in: Goethe, Sämtliche Werke, Münchner Ausgabe 3,I; 1990, S. 591).
Hier äußert sich ein Germanist.
»Die Todesanzeige nennt Beaumarchais einen homme de lettres, einen Mann der Feder, einen Literaten, und diese Rolle hatte sich der alternde Abenteurer, Geheimagent, Politiker, Waffenhändler und Finanzmagnat selbst für die letzten Jahre seines Lebens zurechtgelegt...« (Norbert Miller im Nachwort S. 347 zu: Beaumarchais, Die Figaro-Tribgie, Deutsch von Gerda Scheffel, insel taschenbuch 228,1976, S. 347).
Hier nimmt der Romanist das Wort.
»Kaum eine Gattung der Literatur läßt sich wohl mit ähnlicher Genauigkeit datieren wie der englische Schauerroman ...« (Norbert Miller, Strawberry Hill. Horace Walpole und die Ästhetik der schönen Unregelmäßigkeit, Einsatz von Kap. IV, S. 177, München Wien 1986).
Hier offenbart sich die Kompetenz des Anglisten.
»Die gleiche Enttäuschung wie seine großen Zeitgenossen erwartete auch den jungen Giovanni Battista Piranesi, als er im Frühjahr 1740, noch nicht zwanzigjährig, im Gefolge des neubestimmten venezianischen Gesandten Marco Foscarini aus seiner Vaterstadt nach Rom kam« (Norbert Miller, Archäologie des Traums. Versuch über Giovanni Battista Piranesi, München Wien 1978, Einsatz des I. Kapitels, S. 23).
Hier entwirft der Kunsthistoriker den Prospekt einer weitgefaßten Darstellung.
»Donizetti komponierte Anna Bolena für eine Gruppe reicher Adliger und Kaufleute in Mailand, die im Winter 1830/31 das kleine Teatro Carcano für eine besonders glanzvolle Stagione benutzen wollten« (Norbert Miller, Einsatz des Artikels zu Donizettis Anna Bolena in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, hg. von Carl Dahlhaus u. a., Bd. I, München Zürich 1986, S. 741).
So der Musikwissenschaftler und Opernhistoriker.
Und ich vermerke an dieser Stelle schon, daß es sich jeweils um erste Sätze handelt. Um Eingangssätze von Büchern, von Artikeln, von Kapiteln.
Man lasse sich nicht irreführen, es handelt sich nicht um apart herausgesuchte Exzentrizitäten, sondern es handelt sich um durchaus beliebig oder doch zufällig in den Blick gefaßte Facetten eines großen Œuvres. Des Œuvres eines einzigen Verfassers, Norbert Miller sein Name, Inhaber eines Lehrstuhls fur Komparatistik. Indessen geht es dieser Wissenschaft nicht primär um das Geschäft des Vergleichens, das, als Selbstzweck mit statistischem Eifer betrieben, sich sehr bald als müßig entlarven würde. Vielmehr fordert sie die umfassende Kennerschaft des einen wie des anderen wie des dritten Objekts, aus der sich, wo irgend sinnvoll, auch der Vergleich andrängen kann, und zwar nicht als von vornherein gestellte Aufgabe sondern als organisch sich entfaltendes Resultat des Erkennens. Wobei die Erfassung des Kunstwerks und seines Schöpfers und seiner Zeit auch die Konturen der Zeit des gelehrten Betrachters erhellen wird. Demnach wäre der Begriff des Komparatisten besser zu ersetzen durch den des Generalisten, – doch erweist sich dieser Begriff durch banale Vernutzung auf politischer Ebene leider diskreditiert.
Die Zitate also als Signale überlegener Zuständigkeit in mannigfaltigen Provinzen der Kunst, der Literatur, der sich ablösenden Zeitalter und der den jeweiligen Problembereichen zubestimmten Methoden prunken nicht als Girlande eleganter Arabesken, sondern sie sind Symptom. Symptom fur die Kunst eines homme de lettres, eines, wie gesagt, »Mannes der Feder«, – auf den nun freilich nicht eine einzige der dann anschließend folgenden Charakterisierungen zutrifft, wie sie unser Autor jenem Manne der Feder Beaumarchais zuerkennt.
Ich schulde der Kleingläubigkeit des Zweifelnden einen tour d’horizon und stelle zuvörderst den Germanisten vor. Miller begann mit Jean Paul (und ist ihm treu geblieben), er hat Goethe durch die Jahrzehnte mit profunden Kommentaren begleitet, hat Musäus und Marie Luise Kaschnitz, Nietzsche und E. T. A. Hoffmann, Chamisso und Friedrich Schlegel, Paul Heyse und Berthold Auerbach, hat Kleist und Rudolf Borchardt und Walter Höllerer seine gelehrte Aufmerksamkeit zum großem Nutzen dieser Autoren und ihrer Leser zugewandt, – und damit auch die durch sie repräsentierten Lebenskreise besser zu verstehen gelehrt.
Der Romanist Miller hat sich verdient gemacht nächst Beaumarchais um Marivaux und Victor Hugo, um Gérard de Nerval und den Herzog von Saint-Simon, um Alexandre Dumas und Jules Vernes und um Scribe.
Der Anglist hat die Schriften Henry Fieldings erschlossen und in Strawberry Hill den Architekten und Literaten Horace Walpole ergründet und Daniel Defoe und Chesterton und W. H. Auden und E. A. Poe und Thomas de Quincy gedeutet.
Der Kunsthistoriker Miller hat in seinem großen Buch die Dunkelheiten der Traumwelt Piranesis und also Roms erhellt und die künstlichen Paradiese des Landschaftsgartens durchstreift und Watteau und Jacob Philipp Hackert und Chodowiecki und Delacroix und Simone Martini und Johann Heinrich Füßli; und hat die Vedute als »Anschauungsform« erforscht.
Der Musikhistoriker Miller hat Noten hörbar, Musik lesbar gemacht nicht nur in der Darstellung von 24 Opern Donizettis sondern auch der Werke Mendelssohns und E. T. A. Hoffmanns und Liszts und Berlioz’ und Spontinis und Henzes und Peter v. Winters und Johann Christoph Vogels und des Prinzen Louis Ferdinand und Meyerbeers und Carl Marias v. Weber und Rossinis und Mozarts und Glucks und Dittersdorfs:
Und in all diesem, das hier unzulänglich in der Form von Namen, Stichworten und Titeln Revue passieren mußte, erfahren wir nicht zwar die Bruchstücke einer großen Konfession wohl aber die Partikel einer großen Komposition, denn
O splendor, it all coheres!

Das aber meint »Alles hängt mit allem zusammen« im Sinne der pädagogischen Provinz-Maxime Hartmut von Hentigs AHMAZ, eine Feststellung, die wiederum andeutend deutlich wird in der Zitation der Kombinations-Titel über den Arbeiten Millers, die programmatisch verbinden: Victor Hugo und Franz Liszt, Hoffmann und Spontini oder Weber, Walpole und Piranesi, Théophile Gautier und Berlioz, Eugène Scribe und Meyerbeer, Watteau und Marivaux, deutsches Bildungsbürgertum und italienische Oper, Piranesi und den Turm zu Babel ...
Komplexe, die zwangsläufig hinführen zu den systematischen Arbeiten Millers, die es zu tun haben mit dem Verfertigen von Kunst, von Literatur. Schriften also zur Poetik und Poetologie, etwa zu Leo Spitzers Methode Literatur zu interpretieren; oder Bausteine zu einer Poetik der Moderne, oder Überlegungen zur Synästhesie (Musik in der modernen Dichtung), zu Erlebter und verschleierter Rede, zur Rolle des Zitierens, zur Kunst unterm Primat der Moral, zum Lied als Kunstform, zum Genre der Reisebeschreibung und zur Stilhaltung des Philhellenismus, zur Erfundenen Wirklichkeit und zur Theorie der Landschaft nach 1800. Dies alles leitet mich unaufhaltsam zu Millers Buch aus dem Jahre 1968, das Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts vorlegt unter dem Titel Der empfindsame Erzähler. Dessen Anfang aber lautet: »Die nachfolgende Arbeit sollte als Versuch aufgefaßt werden«. Versuch: da knüpft sich eine Beziehung – »it all coheres« – zu dem Merck-Preisträger dieses Jahres 1993 und seinem Bekenntnis zum Essay.

II

Romananfänge:
Die literarische Figur des Anfangs, des Einsatzes soll uns in unserem Zusammenhang als heuristisches Prinzip dienen, um die stilistische Leistung des Literar- und Kunsthistorikers, des Komparatisten Norbert Miller zu würdigen. Denn um den Stil der wissenschaftlichen Prosa geht es bei der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises. Als Versuchsreihe sollen uns jene Sätze dienen, die ich meinerseits zum Anfang verlesen habe und die, wie sich zeigen wird, gemäß den Regeln der musikalischen Temperamentenlehre komponiert sind.
Zum Zwecke der methodischen Rechtfertigung meines Verfahrens zitiere ich aus Millers Einleitung zum Empfindsamen Erzähler:
»In der Tat spiegelt der Mikrokosmos des Romaneingangs in seinen Stilmöglichkeiten und -Variationen auffälliger als wohl jedes andere Detail den Makrokosmos des Romans: der erste Satz, oft bereits das erste Wort bedeutet eine Vorentscheidung des Autors für die Tonlage, die Stilebene und das Genre seiner Erzählung« (S. 9).
Diese Aussage läßt sich mutatis mutandis unschwer anwenden auf die entsprechenden Verhältnisse der wissenschaftlichen Prosa. Wir befragen Norbert Millers Einsätze, beginnend mit seiner Einleitung in das Tagebuch der italienischen Reise für Frau von Stein 1786. Das hebt an: »Goethes Reise durch Italien pflegt Assoziationen des Glücklich-Heiteren, des Klassizistisch-Bedeutsamen auszulösen«. Andante moderato: Gemäß den klassischen Regeln der Rhetorik werden Titel und Thema vorangeschickt. Die Kürze gibt dem Satz sein markantes Gewicht. Aber die Aussage, mit dem Anspruch des Verbindlichen vor den Leser tretend, setzt behutsam doch sogleich den Hebel an zu ihrer eigenen Relativierung, ja Infragestellung. Das macht das Wörtchen »pflegt«. Und so deutet bereits der Stil des Beginns ein Programm an, der Interpret wird zeigen, so verheißt es das unverdächtige Wörtchen »pflegt« (mit dem ihm folgenden Hinweis auf die Tradition des konventionellen Verständnisses), daß die bisher ausgelösten Assoziationen der Korrektur bedürftig, daß sie irreführend sind.
Nun zu Millers Vorstellung des Autors der Figaro-Trilogie:
Der Anfangs-Satz assoziiert das Ende, indem er den »Helden« Beaumarchais mit seiner Todesanzeige vorstellt. Die einfache Summe, gezogen am Ende eines nicht eben einfachen Lebens, sie lautet auf den homme de lettres. Der Interpret aber fügt nun – wiederum gemäß klassischen Regeln – das Moment des Überraschenden mit bewußt schockierender Wirkung hinzu. Der hier als Literat vorgestellt werden soll und will, wird im gleichen Atem des ersten Satzes – Allegro espressivo – enthüllt in all seiner Abenteuerlichkeit: so als Geheimagent, Politiker, Waffenhändler, Finanzmagnat. Die Demaskierung als spannungssteigerndes Moment.
Zum dritten Fall:
Der Kapiteleingang des Buchs über Horace Walpole hält es wieder mit dem Monumentalstil und seiner Widerspruch ausschließenden Wirkung, grave sostenuto: »Kaum eine Gattung der Literatur läßt sich wohl mit ähnlicher Genauigkeit datieren wie der englische Schauerroman«. Man irre sich nicht, gemeint ist mit »kaum eine«: keine Gattung, aber die Höflichkeit des Autors, die ja Teil seiner Stileigentümlichkeit ist, legt es ihm nahe, die peremptorische Wucht der Behauptung, die den Charakter des Unbeirrbaren hat, durch das Stilmittel des behutsam mildernden »kaum« sanft abzufangen. Und nichts anderes bezweckt das gleichfalls dämpfende darauffolgende »wohl«: Martellato ma con sordino.
Um die Irritation mit Hilfe so aufschlußreicher wie unerwarteter Information und die solchermaßen zu erregende Aufmerksamkeit des Lesers geht es in dem anspruchsvollen Einsatz des Kapitels I des Piranesi-Buchs: »Die gleiche Enttäuschung wie seine großen Zeitgenossen erwartete auch den jungen Giovanni Battista Piranesi, als er im Frühjahr 1740, noch nicht zwanzigjährig, im Gefolge des neubestimmten venezianischen Gesandten Marco Foscarini aus seiner Vaterstadt nach Rom kam«. Ein Meister-Satz, er verbindet mäandernd eine Fülle von Informationen mit dem dramaturgischen Element der epischen Vorausdeutung: Adagio appassionato. Wir erfahren den Namen des Helden, sein Alter, seine Heimatstadt, seine Position in der Entourage, sein Reiseziel. Dazu die Andeutung veränderter politischer Verhältnisse (»des neubestimmten Gesandten«). Vor allem aber wird der Leser von allem Anfang an in den Spannungszustand der erhöhten Aufmerksamkeit versetzt, denn von der Art der angekündigten »Enttäuschung« wird erst vier Seiten später die Rede sein.
Schließlich der Eingang des Artikels über die Oper Anna Bolena: »Donizetti komponierte Anna Bolena für eine Gruppe reicher Adliger und Kaufleute in Mailand, die im Winter 1830/ 31 das kleine Teatro Carcano für eine besonders glanzvolle Stagione benutzen wollten«. Nach klassischer Manier Titel, Auftraggeber, Ort, Datum und Schauplatz sowie Funktion nennend, animato ma non troppo.

III

Sprache als Autorität. Stil als Botschaft. Der Einsatz der Sätze als Programm, jeweils dem Gegenstand gemäß auf je andere Weise formiert, jeweils dazu eingerichtet, mit Hilfe eines subtilen Zeichensystems die Beziehung zwischen Autor, Materie und rezipierendem Leser regel-recht herzustellen. Umso überzeugender, als der Autor als Person die angemaßte Scheinvernunft alltäglichen Regelwesens so wunderbar wie erfolgreich ständig widerlegt.
Ich zitiere zum Ende meiner Begründung der Verleihung des Sigmund- Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa an Norbert Miller ein letztes Mal einen Satz als Einsatz. Und zwar den des Vorwortes, das Miller der Festschrift für Carl Dahlhaus, zu dessen 60. Geburtstag vorausschickte (Laaber-Verlag 1988). Die Worte, dem Freunde und Kollegen gewidmet, fallen auf ihren Autor zurück:
»Das Außerordentliche sperrt sich der Beschreibung. Die Lobrede verbirgt, was sie im Nacheinander der Aufzählung erhellen will: die Einheit der Persönlichkeit, die dem immer mehr ins Weite sich entfaltenden Wirken das Gepräge gibt.«