Sigmund-Freud-Preis

The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.

IIse Grubrich-Simitis

Psychoanalyst
Born 22/2/1936

... für ihr über Jahrzehnte sich erstreckendes Bemühen um die Lesbarkeit des Werkes von Sigmund Freud, dem ihre Sorge ebenso in philologischer wie in hermeneutischer Hinsicht gilt.

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Christian Meier
Vizepräsidenten Elisabeth Borchers, Peter Hamm, Norbert Miller, Beisitzer Giuseppe Bevilacqua, Kurt Flasch, Adolf Muschg, Erica Pedretti, Klaus Reichert

Sprache: Königsweg zum Unbewußten

Herr Präsident,
meine Damen und Herren,
lieber Walter Boehlich
Meine Dankrede beginnt mit drei Freud-Zitaten. Das erste: »Die Selbstbeobachtung zeigt jedermann, daß es mehrere Arten des Lesens gibt [...]. Wenn ich Korrekturen lese, wobei ich vorhabe, den visuellen Bildern der Buchstaben [...] besondere Aufmerksamkeit zu schenken, entgeht mir der Sinn des Gelesenen so sehr, daß ich für stilistische Verbesserungen der Probe einer besonderen Durchlesung bedarf. Lese ich ein Buch, das mich interessiert, z. B. einen Roman, so übersehe ich dafür alle Druckfehler, und es kann mir geschehen, daß ich von den Namen der darin handelnden Personen nichts im Kopfe behalte als [...] die Erinnerung, daß sie lang oder kurz sind und einen auffälligen Buchstaben, ein x oder z, enthalten. [...] Es sind dies Phänomene der geteilten Aufmerksamkeit [...].«
Die Sätze stehen im Kontext einer Erörterung der verschiedenen »Sprachverrichtungen« – Sprechen, Nachsprechen, Buchstabieren, Lesen, Schreiben – und finden sich in Freuds neurologisch-psychologischer Studie über die durch Hirnschädigungen verursachten Sprachstörungen. Er hat sie 1891 unter dem Titel Zur Auffassung der Aphasien(1) veröffentlicht und darin nicht allein die moderne dynamisch-funktionalistische Vorstellung von den Hirnleistungen vorbereitet, im Gegensatz zum bisherigen anatomisch-lokalisatorischen Verständnis, sondern zugleich theoretische Grundlagen der späteren Psychoanalyse formuliert. Heute wird die Ansicht vertreten, daß von dieser knappen, halbvergessenen Frühschrift über den Sprachapparat die zukünftige, wechselseitig inspirierende Zusammenarbeit zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften ausgehen könne.
Das zweite Zitat handelt von der Patientin Cäcilie M., bei der körperliche Sensationen, die sonst als organisch bedingt gelten, psychischen Ursprungs waren; sie bot Freud Anlaß, die Rolle der Symbolisierung in der neurotischen Symptombildung zu untersuchen: »Indem sie den sprachlichen Ausdruck wörtlich nimmt, den ›Stich ins Herz‹ oder den ›Schlag ins Gesicht‹ bei einer verletzenden Anrede wie eine reale Begebenheit empfindet, übt sie keinen witzigen Mißbrauch, sondern belebt nur die Empfindungen von neuem, denen der sprachliche Ausdruck seine Berechtigung verdankt. Wie kämen wir denn dazu, von dem Gekränkten zu sagen, ›es hat ihm einen Stich ins Herz gegeben‹, wenn nicht tatsächlich die Kränkung von einer derartig zu deutenden Präkordialempfindung begleitet und an ihr kenntlich wäre?«
Quelle dieses Zitats sind die gemeinsam mit Josef Breuer 1895 publizierten Studien über Hysterie(2) Sie sind insofern das »Urbuch der Psychoanalyse«, als darin, kurz gesagt, folgendes dokumentiert ist: Zwei Ärzte hatten damit begonnen, ihre Ohren auf eine ganz neue Weise aufzumachen, nämlich ihren Patientinnen in der Überzeugung zuzuhören, daß diese über ihr Leiden, den Sinn ihrer Symptome, wenngleich noch nicht verfügbar, grundsätzlich mehr wüßten als ihre Behandler. Diese intensive und geduldige Hellhörigkeit gegenüber allem, was die Patientinnen zu sagen hatten, hieß, sie gleichsam in sich hineinzulassen, sich ihnen mit dem eigenen Innersten zur Verfügung zu stellen. Und in dieser Verminderung der Entfernung zwischen den Beteiligten des therapeutischen Prozesses deutete sich bereits das auch heute noch ängstigende Durchlässigwerden der Abgrenzung zwischen seelischer Normalität und Pathologie an. Solange der Sehsinn das diagnostische Arbeiten beherrscht hatte, waren Beobachter und Beobachtungsobjekt säuberlich getrennt geblieben. Die Breuer-Freudsche radikale Veränderung des klinischen Wahrnehmens öffnete die Dimension des Semantischen, des hochdifferenzierten wortbezogenen Verstehens von Fremdseelischem. In den Brennpunkt rückte das Erzählen, die Sprache selbst; im Behandlungsprozeß, aber auch in der wissenschaftlichen Falldarstellung trat der psychisch Kranke erstmals als Subjekt in Er-scheinung, zuweilen bis in die Details seines Dialekts in der direkten Rede.
Nun das dritte Zitat: »Der Text aber, wie er uns heute vorliegt, erzählt uns genug [...] über seine eigenen Schicksale. [...] Einerseits haben sich Bearbeitungen seiner bemächtigt, die ihn im Sinne ihrer geheimen Absichten verfälscht, verstümmelt und erweitert, bis in sein Gegenteil verkehrt haben, anderseits hat eine schonungsvolle Pietät über ihm gewaltet, die alles erhalten wollte, wie sie es vorfand, gleichgültig, ob es zusammenstimmte oder sich selbst aufhob. So sind fast in allen Teilen auffällige Lücken, störende Wiederholungen, greifbare Widersprüche zustande gekommen, Anzeichen, die uns Dinge verraten, deren Mitteilung nicht beabsichtigt war. Es ist bei der Entstellung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung ihrer Spuren. Man möchte dem Worte ›Entstellung‹ den Doppelsinn verleihen, auf den es Anspruch hat, obwohl es heute keinen Gebrauch davon macht. Es sollte nicht nur bedeuten: in seiner Erscheinung verändern, sondern auch: an eine andere Stelle bringen, anderswohin verschieben. Somit dürfen wir in vielen Fällen von Textentstellung darauf rechnen, das Unterdrückte und Verleugnete doch irgendwo versteckt zu finden, wenn auch abgeändert und aus dem Zusammenhang gerissen.«
Der Text, von dem hier die Rede ist, ist der Hexateuch, und es geht um die Frage, inwieweit der biblische Bericht Freuds Rekonstruktion der Urgeschichte des Volkes Israel überhaupt als Basis dienen könne. Die Passage steht im Alterswerk Der Mann Moses und die monotheistische Religion,(3) das 1939 erschien, kurz vor Freuds Tod im Londoner Exil.
Die drei Zitate sollten Ihnen zeigen, daß Freud nicht nur ein großer Prosaist gewesen ist, sondern zugleich ein enzyklopädischer Sprach- und Textforscher, buchstäblich von seinem ersten bis zu seinem letzten Buch. Er hat mit der Methode der freien Assoziation eine Worttherapie entwickelt. Und er hat unzählige Verbalphänomene in seine Betrachtung gezogen: das Versprechen, Verlesen, Verschreiben, Wortbrücken und Wortspiele, die »Silbenchemie«, jenes vor allem beim Träumen zur Herstellung neuer Bedeutungen genutzte Zerbrechen und Neukombinieren von Wortpartikeln. Die Dialekte der Neurosen suchte er zu entziffern, die Sprache der Hysterie ebenso wie die der Zwangsneurose, und wenn er den latenten Trauminhalt aus dem manifesten Traumtext erschloß, betätigte er sich gleichsam als Übersetzer des Unbewußten. Dabei fällt auf, wie hautnah er mit der »geliebten Muttersprache«, so nannte er das Deutsche, zusammenarbeitete; immer wieder spricht er fast zärtlich von »unserer Sprache« und behandelt sie respektvoll wie ein Lebewesen, das ein langes Gedächtnis besitzt, in dem Schätze an Erfahrung und Weisheit hinsichtlich der unbewußten psychischen Belange aufbewahrt sind. Man brauche sie bloß zu heben, indem man wachsam auf die Fingerzeige des Sprachgebrauchs achte. Freud hat diese Einstellung sogar hinsichtlich der psychoanalytischen Begriffs- und Theoriebildung geübt; denn bekanntlich ist er mit seiner beweglichen Terminologie der lebendigen Alltagsrede verbunden geblieben und hat bestimmte strukturelle Merkmale des Deutschen virtuos für seine Konzeptualisierungen genutzt.
Sein berühmtes Diktum, die Traumdeutung sei die Via regia zur Kenntnis des Unbewußten, ließe sich also auf einer etwas höheren Abstraktionsstufe variieren, nämlich dergestalt, daß Spracherforschung für ihn dieser Königsweg gewesen ist. Der Rang seiner Prosa ist jedenfalls nichts Äußerliches, schon gar nichts Ornamentales. Vielmehr war Sprache sein eigentlicher Arbeitsstoff. Ich unterstreiche das so nachdrücklich, weil der »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« eine Verlockung zur Ästhetisierung, zur Aufspaltung nach Inhalt und Form zu enthalten scheint. Der eine oder andere meiner verehrten Vorgänger hat denn auch in seiner Dankrede den Schriftsteller Freud vom Wissenschaftler Freud getrennt, dem einen seine Bewunderung, dem anderen seinen Unglauben bezeugt.
Auf der Untrennbarkeit von Inhalt und Form zu beharren, ist freilich gerade jetzt notwendig – angesichts der Grobheit, ja Gewalttätigkeit der Attacken, denen Freud und die Psychoanalyse derzeit in den Medien ausgesetzt sind. Das jüngste Beispiel ist jene unsägliche Titelgeschichte des Spiegel, deren Autor, auf der Linie des zumal in USA modischen »Freud-Bashing«, dem Leser eine Schimäre zumutet, die von der diesjährigen Büchner-Preisträgerin Elfriede Jelinek in einem Leserbrief mit wenigen sarkastischen Sätzen verdientermaßen vollends ad absurdum geführt wurde. Hier konturiert sich ein gesellschaftliches Phänomen, das noch gänzlich unverstanden ist. Normalerweise geht das Veralten wissenschaftlicher Ergebnisse und Theorien leise, für die Öffentlichkeit kaum merklich vor sich. Etwas ist dann einfach nicht mehr der Rede wert. Die Psychoanalyse aber scheint in toto totgeschrien, ihr Begründer aggressiv unglaubwürdig gemacht werden zu müssen. Zwar hat dieses Medien-Getöse so gut wie nichts mit dem zu tun, was sich in hochdifferenzierter, seit Freuds Tod in vielfältiger Hinsicht weiterentwickelter analytischer Forschungs- und Behandlungsarbeit heute wirklich abspielt; eines aber scheint es immerhin zu beweisen: die stupende Vitalität des Freudschen Erbes. Ob es ein kollektives Bedürfnis geben könnte, das, was die Psychoanalyse an unliebsamen, aufrührerischen Erkenntnissen zutage gefördert hat, ein für allemal im demnächst abgeschlossenen zwanzigsten Jahrhundert hinter sich zu lassen, zumal die Erkenntnis, daß wir Geschöpfe sind, die unablässig unbewußte Bedeutungen hervorbringen, welche, ob wir es wollen oder nicht, als Wünsche, Phantasien, Träume unser Denken und Handeln auf nicht kontrollierbare, nicht programmierbare, aber höchst wirksame Weise beeinflussen? Könnte es darum gehen, mit der Psychoanalyse auch das sperrige Subjekt im Sinne der Aufklärung liquidieren zu wollen, also das Gelände zu planieren für die vermeintlich unbegrenzte technizistische Perfektionierung der Spezies in der Zukunft?
Endlich meinen Dank: Als ich vor einigen Monaten das Telegramm mit der Nachricht von der Zuerkennung des Preises erhielt, war ich vollkommen überrascht, beglückt und zugleich erschrocken – kaum verwunderlich angesichts der illustren Reihe der früheren Preisträger. Damals rätselte ich, in Unkenntnis noch der Laudatio und des Urkundentexts, was die Gründe für diese Wahl gewesen sein mochten. Es hätte meine langjährige editorische Arbeit am Werk Sigmund Freuds sein können; freilich wäre der Jury nicht entgangen, daß, ungeachtet vieler Einzeleditionen, die heute in die großen Freud-Ausgaben einbezogen werden, welche sich in anderen Ländern im Aufbau oder in Revision befinden, ich in einem Punkte mich nicht habe durchsetzen können: es gibt hierzulande zwar die Studienausgabe, aber noch immer keine kritische Gesamtausgabe. Und man muß unnachgiebig festhalten: solange die in London entstandenen Gesammelten Werke nach wie vor die umfassendste deutschsprachige Edition sind, ist der große Autor Sigmund Freud nicht aus dem Exil zurückgekehrt. Ein anderer Grund hätte mein Buch Zurück zu Freuds Texten sein können, also ein Nachdenken der Jury über den Preis selbst; denn ich rekonstruiere darin anhand der Handschriften die Entstehung der Freudschen Prosa in ihrer Nüchternheit, Natürlichkeit und Durchsichtigkeit, ihrer vorbildlichen Höflichkeit gegenüber dem Leser. Wenn es mir gelungen wäre, in diesem Buch Freuds Ideal der Einfachheit – daß die Sätze eben nicht nach dem Gedanken schielen sollten – hier und dort nahezukommen, könnte dies die Darmstädter Entscheidung erleichtert haben. Und schließlich dachte ich mir noch: vielleicht hat ja die Jury das Anschwellen jener wüsten Attacken beobachtet und in der Öffentlichkeit eine Gegengeste machen wollen, indem sie den Preis einer Psychoanalytikerin und Freud-Forscherin zuerkannte und so die tendenzielle Spaltung von Inhalt und Form aufhob. Es wäre dann gleichsam eine Vergegenwärtigung der Zeit gewesen, in welcher der Preis gestiftet wurde – erste Hälfte der sechziger Jahre, als die vom NS-Regime vertriebene Psychoanalyse hierzulande wieder Fuß zu fassen begann. Dafür allein schon gebührte der Akademie Dank, daß sie durch die Stiftung des Preises dazu beigetragen hat, Namen und Denken Sigmund Freuds wieder in den intellektuellen Stoffwechsel einzuführen und die psychoanalytische Methode neu zu etablieren. Denn wenn bedachtsam, also nicht aus einer Position reduktionistischer Überheblichkeit angewendet, ist diese Methode auch heute noch das mit Abstand feinste wissenschaftliche Instrument zur Erforschung der Subjektivität – mit der größten Achtung vor dem, was wir nicht wissen, vor der Fremdheit, der unerhörten Komplexität der inneren Welt eines anderen Menschen.
Neben den Mutmaßungen, die das Telegramm in mir auslöste, stand damals aber schon die eine Gewißheit, daß meiner Arbeit durch den Sigmund-Freud-Preis die denkbar höchste Ehrung zuteil geworden ist. Ich danke von Herzen: der Akademie für die Verleihung und Walter Boehlich für seine »nicht herkömmliche«, liebevolle Lobrede.