Sigmund-Freud-Preis

The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Harald Weinrich

Teacher of Romance languages and Germanist
Born 24/9/1927
Deceased 26/2/2022
Member since 1970

... Sprachanalyse mit literarischer Kennerschaft von großer Reichweite...

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Peter de Mendelssohn
Vizepräsidenten Karl Krolow, Horst Rüdiger, Dolf Sternberger, Beisitzer Horst Bienek, Walter Helmut Fritz, Rudolf Hagelstange, Geno Hartlaub, Gerhard Storz, Wolfgang Weyrauch

Laudatory Address by Gerhard Storz
educationalist, Literary scholar and Minister of cultural affairs, born 1898

Bei der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa hat die Akademie jeweils versucht, mit der Wahl des Preisträgers einen Wechsel der Wissenschaftsfächer weiterzuführen. So erschienen denn in den Personen der Preisträger nacheinander die Philosophie, die Theologie, die Physik, die Zoologie, und noch andere Disziplinen mehr. Mit welchem Wissenschaftsfach soll nun aber der neue Laureat, Harald Weinrich, verbunden werden? Mit der Romanistik? oder mit der Literaturwissenschaft? oder mit der Linguistik? Denn für jedes dieser Fächer enthält die umfangreiche Liste seiner Publikationen zahlreiche, fachspezifische Titel. Die Jury hätte vielleicht fragen können, in welchem der drei Fächer es wohl am schwierigsten sei, gute Prosa zu schreiben, und diese Frage hätte dann doch wohl zugunsten oder vielmehr zulasten der Linguistik beantwortet werden müssen. Aber es gibt auch einen faktisch-pragmatischen Grund dafür, den diesjährigen Preisträger für die Linguistik in Anspruch zu nehmen: als Linguist trat Harald Weinrich zum ersten Mal in den Gesichtskreis unserer Akademie.
Das war im Herbst 1965, als die Antworten auf die erste Preisfrage der Akademie »Kann Sprache die Gedanken verbergen?« vorlagen. Weinrichs preisgekrönte Schrift trägt den Titel »Linguistik der Lüge«, und beiden Begriffen kommt gleiches Gewicht zu: der Lüge insofern, als auf die Preisfrage eine negative Antwort auf Grund subtiler Argumentation gegeben wird, – der Linguistik, weil der Essay zugleich eine Einführung in Grundbegriffe der modernen Linguistik vornimmt. Seiner Preisschrift hat Weinrich im Lauf von 12 Jahren eine lange Reihe von linguistischen Arbeiten folgen lassen. Ich muß mich also hüten, hier den Eindruck entstehen zu lassen, als sei die »Linguistik der Lüge« etwa sein zentrales Werk. Trotzdem halte ich es für erlaubt, ein wenig noch bei ihr zu verweilen. Denn was es bedeutet, den fachfremden Leser, etwa den Schriftsteller, in die Perspektive der neueren Sprachwissenschaft wirklich hinein zu führen, und dies auf wenigen Seiten, – das kann wahrscheinlich nur durch eine knappe Gegenüberstellung der neueren mit der älteren Sprachwissenschaft einsehbar gemacht werden. Die ältere gründet sich auf ein spontanes Reagieren gegenüber der Sprache, das sich intuitiv in sie einfühlt. Dabei wird Sprache vornehmlich als aktives, produktives Vermögen gesehen, weshalb dem Betrachter mehr der Sprecher, als der Hörer vor Augen steht. Weniger bei der Sprache als einem auf den Menschen an und für sich weisenden Phänomen verweilt die ältere Sprachwissenschaft, sie wendet sich vielmehr vorzugsweise einzelnen, bestimmten Sprachen zu, studiert ihre Systeme, ihre Verschiedenheiten und Übereinstimmungen und fragt nach deren Entstehen. So ist sie denn weithin zu einer vergleichenden und geschichtlich betrachtenden Wissenschaft geworden.
Die neuere hingegen findet ihr Objekt in der Aktualität der Sprache als einem Geschehen zwischen Sprechern und Hörern, also in ihrer kommunikativen Funktion. Deshalb sieht sie Sprache als System von Zeichen, deren kommunikative Wirkung sie jedoch nicht als von vornherein feststehend, auch nicht als unveränderlich betrachtet. Demzufolge erscheint Sprache als Ergebnis der Verabredung, also als Code, ein Grundwort der neueren Linguistik. Aus diesem Begriff von Sprache ergibt sich stete Nötigung zur Abstraktion, auch zu strenger Methodik, die versucht, Sprachlaut und Sinn solange wie möglich getrennt voneinander zu halten. Denn intuitive Einfühlung in die Sprachphänomene soll auf gegeben und die Distanz eines gleichsam sprachfremden Betrachters gewonnen werden. Daher kommt der formale Charakter dieser Sprachwissenschaft, darauf zielt ihre Ausbildung einer neuen Terminologie in ausladendem Umfang. Diese will nicht nur Präzision, sondern zu gleich so etwas wie Verfremdung, will sagen Aufhebung der Selbstverständlichkeit, was das Verstehen von Sprache angeht. Doch nun genug, nicht mehr an kommentierendem Fürwitz des Dilettanten, aber soviel war auch nötig, damit die Leistung der Preisschrift »Linguistik der Lüge« erfaßt und gewürdigt werden kann. Der Leser bleibt ihrem Autor präsent, auf seine Mühe zu verstehen geht dieser Autor ein, und so wird eine gewisse Umgänglichkeit zum Merkmal seiner Prosa. Sie verzichtet auf das Auffällige, bleibt einfach, ist aber beileibe nicht simpel, sondern urban, weil sie Präzision mit Leichtigkeit zu verbinden weiß.
Hat der Verfasser der Preisschrift den Leser als angeredete Person im Blick, so wird in Weinrichs Büchern vom Fach und von einigem Umfang – beispielsweise in »Sprache in Texten«, diesem Kompendium linguistischer Forscherarbeit – der Leser zum kategorialen Beziehungspunkt einer Analyse, die mehr dem Verstehen von Sprache gilt, als der Leistung des Sprechens oder des Schreibens. Im fachspezifischen Werk muß, wie sich versteht, mit der terminologischen Apparatur des Faches hantiert werden, aber es geschieht – dankbar bezeuge ich es – in einem für Laien erträglichen Maß. Dadurch ist auch schon die Diktion von »Tempus« –, Weinrichs erstem, imposanten Fachbuch, bestimmt. »Tempus« – dieser Titel meint das Formensystem des Zeitworts, nein –, richtiger des Verbums. Denn gerade die Loslösung jener Formen von Zeitbegriffen ist die kühne These dieses Buches. Verbindet sich in ihm die linguistische Betrachtungsweise mit der philosophischen, so kombiniert Weinrich in einer neueren Arbeit Linguistik mit einer konkret-anschaulichen Perspektive, nämlich mit der Orientierung an der Leiblichkeit der Sprachpartner, indem er von ihrem Gegenüberstehen im Raum, von ihrem Mienenspiel, von ihren Gebärden ausgeht und von hier aus eine Wortart – die Präpositionen – grammatisch analysiert. So kommt er denn, wie es der Titel ankündigt, zu einer »Grammatik mit Augen und Ohren, Händen und Füßen«.
Aber zurück zu »Tempus«. Die Zeit als perspektivischer Fluchtpunkt des verbalen Formensystems, wird, wie gesagt, verworfen. An ihre Stelle setzt Weinrich zwei alternative Sprechsituationen – die des Erzählens und die des Besprechens, oder – im Anklang an Heidegger – des Besorgens. Ob diese Grundlegung die sprachlichen Formen des Verbalsystems und ihre Bedeutungsfunktion in ihrem ganzen Umfang trägt oder nur teilweise, ob der Zeitcharakter vom Verbalsystem völlig abgelöst werden kann, – diese Frage steht hier nicht zur Diskussion. Für uns ist wesentlich die Weite dieser linguistischen Sicht, die in das Gebiet der Stilanalyse, ja der Poetologie hinüberreicht, beispielsweise zur Analyse von Erzählstrukturen des Mythos. Der Grenzübertritt zeigt sich schon in einer Äußerlichkeit an: Weinrich demonstriert nie an ad hoc konstruierten und deshalb inhaltsschwachen Beispielsätzen, wie wir sie aus alten Schulbüchern kennen und wie sie neuerdings in der Linguistik wieder üblich sind, sondern stets an Ausschnitten aus echten, meist literarischen Texten, die ihm, dem Romanisten, seine ungemeine Belesenheit liefert.
Dieses Zurückgreifen auf das Authentische eines Textes, also auf echte, sozusagen unbeabsichtigte Sprache, hat zunächst der erkenntniskritischen Redlichkeit zu dienen. Zugleich will Weinrich die künstliche Isolierung von Sprachelementen so weit, wie es die linguistische Argumentation irgend zuläßt, aufheben. Sieht er doch die Sprachwirklichkeit als vielfältiges Zusammenhängen und Zusammenspielen innerhalb eines Ganzen aus Sprache, also eines Textes. So wurde denn Linguistik für ihn mehr und mehr zur Text-Linguistik, wie es sich in dem Buchtitel »Sprache in Texten« gewissermaßen programmatisch ausspricht. Mit dem Verlangen nach Totalität des linguistischen Aspekts verbindet sich das Interesse des Homme lettré an Erscheinungen, die für die Literaturwissenschaft so wichtig sind wie für die Linguistik, beispielsweise an der Metapher, aber auch am »Sprachwandel in der Lyrik seit Mallarmé«, an den Sprach-spielen und Sprachmeditationen der Späteren, insbesondere Celans.
Schließlich traten die Literatur überhaupt und die Literaturwissenschaft schlechthin in seinen Gesichtskreis. Aber schon die Titel »Kommunikative Literaturwissenschaft«, »Literaturgeschichte des Lesers«, »Literatur für Leser«, schon die Betonung der Rezeption in diesen Titeln läßt merken, daß über dieser Zuwendung zu den »belles lettres« die Linguistik nicht im Stich gelassen wurde. Dem korrespondiert von der linguistischen Seite ein Bekenntnis aus einer frühen Schrift Weinrichs, das beiläufige, beiseite gesprochene Bekenntnis »...eine amusische Sprachwissenschaft ist ein Greuel...«
Zur höheren Ehre des Faches Linguistik hätte ich unseren Preisträger gerne von der Romanistik und der Literaturwissenschaft abgetrennt. Dieser Versuch konnte, wie ich nachträglich sehe, nicht überzeugend gelingen. Aber das braucht weder mich, noch Sie, meine Damen und Herren, zu betrüben. Denn daß sich die Dreiheit der Fächer als Einheit darstellt, und dies sichtbar, nämlich in der Person des Gelehrten und in seinem Werk – das gibt doch wahrhaftig ein preiswürdiges Schaustück ab, und überdies ist die trinitarische Wirksamkeit der Prosa, welcher der Sigmund-Freud-Preis gilt, der Prosa, die Harald Weinrich schreibt, bestens zustatten gekommen.