Sigmund-Freud-Preis

The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Hans-Georg Gadamer

Philosopher
Born 11/2/1900
Deceased 3/3/2002
Member since 1950

Er macht die Erinnerungskraft der Sprache fühlbar, die allein uns in den Stand setzt, das Gegenwärtige angemessen zu verstehen.

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Peter de Mendelssohn
Vizepräsidenten Dolf Sternberger, Eva Zeller, Beisitzer Karl Krolow, Horst Rüdiger, Bernhard Zeller, Ehrenpräsident Gerhard Storz

Laudatory Address by Werner Weber
Journalist and Literary scholar, born 1919

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht dem Philosophen Hans-Georg Gadamer den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Dem Philosophen – das sagt nicht viel. Es kommen die Fragen: Auf welchem Feld hat dieser Philosoph gearbeitet? Wie hat er gearbeitet? Im Hinblick auf Gadamers Gesamtwerk sind die Felder zu benennen: Geschichtsphilosophie, Ästhetik, philosophische Hermeneutik. Möchte man alles in einem zusammenführen, darf man sagen: Gadamers Arbeit ist Auslegung; Auslegung abendländischer Philosophie von ihrer Frühe bis zur Gegenwart; Auslegung alter und neuer Zeugnisse abendländischer Künste – und gerade da kann das Auslegen im genauen Wortsinn zum Übersetzen, zum Gestalten eines Sinnes werden. Im Philosophen wird dann der Philologe deutlich. Es ist nun aber nicht so, daß bald der eine, bald der andere in den Vordergrund rückte. Philosoph und Philologe wirken bei Gadamer ungeschieden ineinander. Er denkt über den Logos nach. Das Nachdenken über den Logos ist ein Nachdenken über das Wesen, das Sprache hat. Solche Arbeit steht im weiten Zusammenhang abendländischer Denkgeschichte. Ich nenne zwischen Antike und Gegenwart unter den vielen, von denen wir zehren, nur zwei der Vermittler und Gründer: Herder und Wilhelm von Humboldt. Es ist nicht leicht, deren Leistung mit ein paar Worten zu umreißen. Wesentliches hat Gadamer getroffen, als er sagte, die beiden hätten »die ursprüngliche Menschlichkeit der Sprache als die ursprüngliche Sprachlichkeit des Menschen erkannt und die grundlegende Bedeutung dieses Phänomens für die menschliche Weltansicht herausgearbeitet«. Zu diesem Urteil gehört Gadamers eigene Setzung, wir seien »in allem unserem Denken und Erkennen immer schon voreingenommen durch die sprachliche Weltauslegung, in die hineinwachsen in der Welt aufwachsen heißt«; insofern sei die Sprache »die eigentliche Spur unserer Endlichkeit«.
Gründet hier die Art von Gadamers eigener Rede, hier all das, was uns in seinen Arbeiten trifft? Versucht man zu ordnen, was in den Geisteswissenschaften seit dem Zweiten Weltkrieg getan worden ist, dann erscheint Gadamers Hauptwerk »Wahrheit und Methode« in wichtiger Position. Es ist 1960 herausgekommen. Es trägt den Untertitel »Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik«. Was darin aufgenommen, überwunden und verwahrt ist, wäre im Blick auf Schleiermacher, Dilthey, Husserl, Heidegger zu bedenken; die Souveränität des Philosophen Gadamer und die Subtilität des Philologen würden augenfällig, eben eines im andern. Ich kann dazu nur Andeutungen machen.
Kant hat das Horazische »sapere aude« so gefaßt, daß es zum Wahlspruch der Aufklärung werden konnte – zur Aufforderung, sich der Freiheit zu versichern, von seiner Vernunft nicht nur Gebrauch, sondern »in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen«. Wie weit diese kritische Energie dann unsere eigene Lebenswirklichkeit bestimmte und bestimmt, wie weit sie darin von Besinnungslosigkeit gestört wurde und gestört wird, das ist an den geistigen, sittlichen, materiellen Katastrophen des Zeitalters auszumessen. Solches Ausmessen hat Folgen. Ich nenne eine – ich glaube, die am schwersten wiegende: das Mißtrauen gegenüber Autorität und Tradition, das Verdächtigen von beidem, die Absage an beides.
In diesem Zusammenhang kann ich die Souveränität des Denkers Gadamer zeigen. Ich stütze mich auf den Abschnitt im zweiten Teil von »Wahrheit und Methode«, in welchem über die »Rehabilitierung von Autorität und Tradition« gehandelt wird. Der geistesgeschichtliche Horizont, in dem das geschieht, ist mit den Stichworten »Aufklärung« und »Romantik« anzudeuten. Ich gehe nicht darauf ein. Ich gebe nur Kernsätze, die aus diesem Horizont gesprochen sind. Zum Begriff »Autorität«:

Gewiß kommt Autorität zunächst Personen zu. Die Autorität von Personen hat aber ihren letzten Grund nicht in einem Akte der Unterwerfung und der Abdikation der Vernunft, sondern in einem Akt der Anerkennung und der Erkenntnis – der Erkenntnis nämlich, daß der andere einem an Urteil und Einsicht überlegen ist und daß daher sein Urteil vorgeht, das heißt vor dem eigenen Urteil den Vorrang hat.

Und noch einmal setzt Gadamer an:

Autorität beruht auf Anerkennung und insofern auf einer Handlung der Vernunft selbst, die, ihrer Grenzen inne, anderen bessere Einsicht zutraut. Mit blindem Kommandogehorsam hat dieser richtig verstandene Sinn von Autorität nichts zu tun. Ja, unmittelbar hat Autorität überhaupt nichts mit Gehorsam, sondern mit Erkenntnis zu tun.

Und nun bedenkt Gadamer die Tradition, Tradition als eine andere Form der Autorität. Er sagt:

Das durch Überlieferung und Herkommen Geheiligte hat eine namenlos gewordene Autorität, und unser geschichtliches endliches Sein ist dadurch bestimmt, daß stets auch Autorität des Überkommenen – und nicht nur das aus Gründen Einsichtige – über unser Handeln und Verhalten Gewalt hat.

Hat nun aber hier, so fragt man, auch die Vernunft ihren Ort? Gadamer kennt die Frage und antwortet so:

In Wahrheit ist Tradition stets ein Moment der Freiheit und der Geschichte selber. Auch die echteste, gediegenste Tradition vollzieht sich nicht naturhaft dank der Beharrungskraft dessen, was einmal da ist, sondern bedarf der Bejahung, der Ergreifung und der Pflege. Sie ist ihrem Wesen nach Bewahrung, wie solche in allem geschichtlichen Wandel mit tätig ist. Bewahrung aber ist eine Tat der Vernunft, freilich eine solche, die durch Unauffälligkeit gekennzeichnet ist. Darauf beruht es, daß die Neuerung, das Geplante, sich als die alleinige Handlung und Tat der Vernunft ausgibt. Aber das ist Schein. Selbst wo das Leben sich sturmgleich verändert, wie in revolutionären Zeiten, bewahrt sich im vermeintlichen Wandel aller Dinge weit mehr vom Alten, als irgendeiner weiß, und schließt sich mit dem Neuen zu neuer Geltung zusammen. Jedenfalls ist Bewahrung nicht minder ein Verhalten aus Freiheit, wie Umsturz und Neuerung es sind.

So zeigt sich die Souveränität des Denkers Gadamer – Souveränität überhaupt – als ein Verhalten aus Freiheit gegenüber allen Erscheinungsformen von Autorität, ein Verhalten, gekennzeichnet durch die Denkgebärde des Aufhebens, so daß (wie Hegel in der ›Großen Logik‹ sagt) das »Aufgehobene ein zugleich Aufbewahrtes« ist, »das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht vernichtet ist«.
Warum trifft uns diese Souveränität? Sie trifft uns, weil in Gadamers philosophischer Rede eine Not mitredet. Man muß Gadamers Arbeiten zur hermeneutischen Theorie und seine Interpretationen, die hermeneutische Praxis also, beim Studium des Hauptwerks »Wahrheit und Methode« in Betracht ziehen; erst in solcher Synopsis ist erfahrbar das bedrängte Suchen dieses Denkers nach der Sprache, die seinem philosophischen Fragen gerecht sein kann. Philosophisches Fragen, dem das Sich-Wundern verbunden ist (Platons thaumazein) führt den Fragenden in Zonen, wo das, was wir Umgangssprache nennen, hinfällig wird. Die »gewohnte Sprache der natürlichen ›Lebenswelt‹«, sagt Gadamer, halte für das, »wobei der Gedanke stutzt«, keine Sprache bereit; und er schließt, philosophisches Denken sei aus diesem Grunde »immer und notwendig ein Denken in der äußersten Sprachnot«. Für diesen Sachverhalt wären Belege leicht zu geben; aus dem neueren philosophischen Schrifttum zum Beispiel bei Heidegger. Dabei will ich mich nicht aufhalten, wohl aber bei der Frage, wie die Sprachnot behoben wird – spezieller: wie begegnet ihr Gadamer?
Wer darüber nachdenkt, wird sich auch nach Hilfen umsehen – und wird kaum etwas Förderlicheres finden als Bruno Snells Auskunft über die sprachlichen Voraussetzungen der Philosophie. Da wird, unter anderem, der Zusammenhang zwischen poetischen Gattungen und philosophischer Rede erhellt. Und so bereichert, fassen wir hellhöriger, was Gadamer selbst zur Sache sagt: zur Dichtung, die auf ihre Weise alles auszudrücken vermag, »wonach die begriffliche Anstrengung der Philosophie unterwegs ist«. Von da her ist mir Gadamers interpretierende Zuwendung zu Hölderlin, zu Rilke, zu Celan verständlich geworden: bei diesen Dichtern der Sprachnot holt er sich Rat über sprachliche Gesten, welche dem Denker in der Sprachnot dienen könnten. Aber das heißt nicht, daß Gadamer die Wissenschaftssprache mit Elementen der Dichtungssprache entmündigte. Nie macht er seine Wissenschaft »schön«, nie wird man bei ihm (ich spiele auf ein Wort Kants an) mit geschmackvollen Ausdrücken, mit Bonmots, abgefertigt, wenn man nach Gründen und Beweisen fragt. Begriff und Bild bestimmen seine Rede so, daß schließendes Fassen und öffnender Ausblick in ein dem Denken würdiges Verhältnis treten.
Ich habe gesagt, Hans-Georg Gadamers Arbeit sei Auslegung. Dazu gibt er in einem seiner jüngsten Aufsätze, »Hermeneutik und bildende Kunst«, die These: Auslegen sei nichts anderes als Lesen. Verdeutlichend fügt er hinzu: »›Auslegen‹ ist ein Wort, das in seiner eigenen spekulativen Dimension schon enthält, daß wir hier nichts zum Lesen hinzutun. Einmal meint es, daß wir nichts hineinlegen... Zweitens aber, daß das Auslegen im Grunde genommen nur das, was schon darin ist, herauslegt, um es dann wieder zusammenzulegen.« Ich möchte, diese Erklärung im Rücken, zusammenfassend sagen, worin die Kunst, worin das Verdienst des Denkers, des Gestalters Hans-Georg Gadamer besteht. Ich sage es mit Sätzen des Mannes, den ich für den bedeutendsten Leser des 19. Jahrhunderts halte: Charles-Augustin Sainte-Beuve: »L’art de la critique, en un mot, dans son sens le plus pratique et le plus vulgaire, consiste à savoir lire judicieusement les auteurs, et à apprendre aux autres à les lire de même, en leur épargnant les tâtonnements et en leur dégageant le chemin.«
Unsicheres Herumtappen – wir denken, um es zu überwinden. Einsicht in den Weg – wir denken, um sie zu gewinnen. Hans-Georg Gadamer gehört zu denen, die uns bei dieser Anstrengung helfen. Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa, den ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht, ist ein aktuelles Zeichen für eine dauernde Dankbarkeit und Verehrung.