Sigmund-Freud-Preis

The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Hans Blumenberg

Philosopher
Born 13/7/1920
Deceased 28/3/1996

Er hat in der Tiefe unserer geistigen Überlieferungen mythische und metaphorische Motive aufgespürt...

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Peter de Mendelssohn
Vizepräsidenten Beda Allemann, Dolf Sternberger, Eva Zeller, Beisitzer Ludwig Harig, Karl Krolow, Horst Rüdiger, Gerhard Storz, Hans-J. Weitz, Bernhard Zeller, Ehrenpräsident Bruno Snell

Laudatory Address by Odo Marquard
Philosopher, born 1928

Die Darmstädter preisen keinen, sie hätten ihn denn; und die Laudatio – als Versuch, seiner habhaft zu werden – hat also unvermeidlich etwas vom Steckbrief an sich. Wanted Hans Blumenberg, der den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa bekommen soll, Philosoph, besonderes Kennzeichen: nur besondere Kennzeichen zu haben, et cetera; das – diese Laudationaltendenz zum verbalen Lasso – kann man mildern eigentlich nur durch eine gewisse Schlampigkeit des Werfens, sprich: durch sorgfältige Nachlässigkeit, was die Ähnlichkeit jenes Portraits betrifft, das zu zeichnen ich hier beauftragt bin: aufgrund dieses Textbildes wird man Hans Blumenberg suchen und sichten können, aber nicht wirklich finden; und das ist richtig so: es gibt das Grundrecht auf Ineffabilität.
Gleichwohl jetzt das Signalement. Vor wenig mehr als sechzig Jahren – im Juli 1920 – wurde Hans Blumenberg in Lübeck geboren. Dort ging er zur Schule. Nach Gefährdungen und Verzögerungen durch die Nazis studierte er in Kiel, wo er promovierte und sich habilitierte. Er wurde Professor für Philosophie: in Hamburg, in Gießen, in Bochum, in Münster. Er war im Senat der Deutschen Forschungsgemeinschaft, war Mitbegründer der Gruppe »Poetik und Hermeneutik«, ist Mitglied der Mainzer Akademie und des Institut International de Philosophie. Er ist kein Neuling im Preistragen. Und ein wirkungsreicher akademischer Lehrer ist er auch. Seit längerer Zeit hat er sich stark zurückgezogen vom Wissenschaftstourismus und seinen Konversationsorgien und von den großen Verwaltungsturnieren der Reformuniversität, um – in »haushälterischem Umgang« mit der knappen Ressource Lebenszeit – sich (konzentriert auf enorme interdisziplinäre Lektürequanten und auf die Zwiesprache mit seinem Diktiergerät) überwiegend dem zu widmen, wofür er hier geehrt wird: dem Verfassen wissenschaftlicher, gelehrter Prosa, seinem Werk.
Von diesem Werk nenne ich hier fünf Bücher: die beiden Metaphernbücher, das frühe (Paradigmen zu einer Metaphorologie, 1960) und das späte (Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, 1979) und die drei ganz dicken Bücher: Die Legitimität der Neuzeit (zuerst 1966), Die Genesis der Kopernikanischen Welt (1975) und Arbeit am Mythos (1979). In diesen Büchern und seinen anderen Schriften steht – was gerade in der Philosophie niemals selbstverständlich und meistens unwahrscheinlich ist – ungemein viel Wichtiges; in Ultrakurzform ist es nicht referierbar. Darum weise ich hier – statt eines Referates – hin auf vier – mehr oder weniger aus all seinen Arbeiten erhebbare – besondere Kennzeichen des Werks von Hans Blumenberg. Seine Philosophie ist:
Erstens – in den Spuren Ernst Cassirers gehend – der Schritt vom Substanzdenken zum Funktionsdenken in der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte. Die Geschichte ist keine Chaussee, auf der Traditionssubstanzen transportiert werden, so daß dann Historiker streiten können, an welchem Chausseebaum welcher Unfall oder Straßenraub passierte. Sondern die Geschichte ist ein haushälterisches System von Stellen, in welche Antworten oder andere vitale Arrangements als Funktionsträger eintreten, die bei ihrem Exitus Vakanzen und Wiederbesetzungspflichten hinterlassen, deren Erfüllung ihrerseits – da fast alles mit fast allem zusammenhängt – Konsequenzprobleme nach sich zieht: so ist alles in Bewegung. Dieses – mit der Metaphorik des Personalhaushalts operierende – Umbesetzungsmodell der Geschichte schärft den Blick für historische Folgelasten und ist darum – meine ich – überaus tauglich, Gesinnungsdenken durch Verantwortungsdenken zuträglich zu ersetzen. Hans Blumenbergs Philosophie ist:
Zweitens – exemplarisch durch Kritik des historischen Beschuldigungsbegriffs der »Säkularisierung« – die bündige Zurückweisung jener Hypertrophie der Legitimationszwänge, denen heutzutage alles und jedermann unterworfen wird. Die Neuzeit aber – für die Blumenberg spricht – entstand durch Abwehr von Legitimationszwängen im Namen des Rechts auf Rechtfertigungsunbedürftigkeit repräsentativ der »theoretischen Neugierde«, des reinen Wissenwollens insbesondere der Wissenschaften. Gerade dieses Recht auf Rechtfertigungsunbedürftigkeit muß verteidigt werden, um die Neuzeit zu verteidigen gegen aktuelle Formen des Antimodernismus selbst noch dort, wo diese als Emanzipationsphilosophien auftreten. Im übrigen: das absolute Rechtfertigungsansinnen schickt die Menschen an ihren absoluten Anfang zurück; doch gerade da können Menschen nicht leben; deswegen ist Hans Blumenbergs Philosophie denn auch:
Drittens – principiis obsta! – philosophischer Antiabsolutismus. Die Menschen – meint er – sind distanzierungsbedürftige Lebewesen: sie brauchen Entlastung vom Absoluten und also Entlastung nacheinander von drei großen Absolutismen. Am Anfang – der historisch immer schon verjährt ist – war der »Absolutismus der Wirklichkeit«. Die schlechthinnige Abhängigkeit von dieser bedrohlichen Übermacht namens Wirklichkeit haben die Menschen durch Arbeit gemildert, insbesondere auch durch Arbeit am Mythos: Im Mythos distanzieren sie die Wirklichkeit zu Sujets von Geschichten, die ständig umerzählt werden und in denen die Gewalt der Wirklichkeit unter verschiedene Götter aufgeteilt wird: durch »archaische«, durch »mythische Gewaltenteilung«. Ihr widerspricht – »dogmatisch« – der »Absolutismus der Transzendenz«, der »theologische Absolutismus« des einen Gottes: auch seine Allmacht halten die Menschen nicht aus. Von ihr distanzieren sie sich durch die neuzeitliche Radikalisierung der Griechenerfindung »Theorie«. Weil die Theorie – stärker noch als der Mythos – distanziert, ist sie seit je auf Distanz aus, aufs Ferne, darum repräsentativ auf den Sternenhimmel. Der aber ist »zweideutig«. Zuerst war er Kosmos. Doch dann kam Kopernikus: er erkannte nicht nur den Menschen als Mängelwesen auch noch des Betrachterstandorts; vor allem nämlich entpuppte sich in der Konsequenz seiner konservativ gemeinten Revolution der immer größer und leerer werdende Himmelskosmos schließlich als eine Riesenwüste, die die Menschen abweist und zurückwirft auf jene einzige kosmische Oase, in der sie – unwahrscheinlicherweise – leben können: die Erde. Also auch diesen dritten, den Absolutismus der theoretischen Distanz halten die Menschen nicht aus: darum müssen sie, um in ihrer irdischen Lebenswelt und mit der Erkenntnis leben zu können, auch weiterhin erzählen; sie bleiben mythenpflichtig. Denn eines ist die Wahrheit, ein anderes, wie sich mit der Wahrheit leben läßt; der Mythos ist nicht »zuendezubringen«; die Geschichten und Bilder haben wir niemals hinter uns. Diese Einsicht läßt Hans Blumenbergs Philosophie:
viertens zu einer pointierten philosophischen These gelangen über die wissenschaftliche Prosa. Er schreibt nicht nur – eindrucksvolle – wissenschaftliche Prosa: gewissermaßen Problemdrucksteigerungsprosa, durch die philosophische Problemlagen alptraumfähig werden in seinen als gelehrte Wälzer getarnten Problemkrimis, die uns merkender machen für das, was los ist. Hans Blumenberg schreibt sie also nicht nur, er sagt auch, was wissenschaftliche Prosa ist. Von der »Metaphorologie« zur allgemeinen »Theorie der Unbegrifflichkeit« weitergehend, unterstreicht er: die exakte Kunstsprache ist nicht die unüberbietbare Gestalt der Wissenschaftssprache. Das cartesische Programm der Terminologisierung und Formalisierung der Wissenschaften ist unzureichend. Keine Wissenschaft kommt aus ohne Mythen und Bilder; gerade der Namenspatron des Akademiepreises, Sigmund Freud, ist dafür ein von Blumenberg umfassend interpretierter Kronzeuge. Und dies betrifft erst recht die Philosophie und ihre Prosa: jede ist mythenpflichtig, jede metaphernpflichtig. Wie beim Grog gilt: Wasser darf, Zucker soll, Rum muß sein, so gilt bei der Philosophie: Formalisierung darf, Terminologie soll, Metaphorik muß sein; sonst nämlich lohnt es nicht: dort nicht das Trinken und hier nicht das Philosophieren.
Von den zahlreichen besonderen Kennzeichen der wissenschaftlichen Prosa Hans Blumenbergs, seiner Philosophie, dieses beträchtlichen Stücks von ihm selber, waren das nur vier. Aber mein fangschüchterner Quasisteckbrief muß – diesseits aller »mythischen Umständlichkeit« – kurz und jetzt zu Ende sein.
Indes: wo bleibt jenes Maß an ausdrücklichem Lob, das erforderlich ist, um ihn zu einer Laudatio im Wortsinn zu machen? Ich meine: es bliebe untererfüllt durch eine noch so lobende persönliche Schätzungserklärung von mir an Hans Blumenberg; denn im übrigen auch: daß ich ihn schätze, was geht’s ihn an. Das eigentliche, das zureichendere Lob, das diese Laudatio enthält, steckt vielmehr in ihrem Anlaß: also in der Tatsache, daß die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zu Darmstadt mit der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa 1980 Hans Blumenberg ehrt in der soliden Gewißheit, sich dadurch selber zu ehren.