Sigmund-Freud-Preis

The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Gustav Seibt

Historian, Literary critic and Journalist
Born 10/3/1959
Member since 2003

Ihm eigen ist ein Stil, der ebenso elegant wie genau ist und so der Wissenschaft die Lebendigkeit zurückgibt, die sie im ungelenken Fachjargon zu verlieren droht.

Jury members
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Elisabeth Borchers, Norbert Miller, Ivan Nagel, Beisitzer Iso Camartin, Eckhard Heftrich, Hans Wollschläger

Das schöne Latein der Wissenschaft

Meine sehr verehrten Damen, sehr geehrte Herren,
Lieber Herr Flasch,
die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung und Kurt Flasch haben mir so viel Ehre auf die Schultern gewälzt, daß man schon mit etwas so Monumentalem wie der Geschichte Roms vertrauten Umgang gepflogen haben muß, um sie zu ertragen. Ich bin mir zwar bewußt, daß ich dem Anonimo Romano ein schönes Denkmal errichten durfte, aber daß es dauerhafter Erz sei, muß ich selbst bezweifeln. Die Deutsche Akademie hat sich für den Freud-Preis ausnahmsweise kein Lebenswerk ausgesucht, sondern ein Gesellenstück. Sie hat also nicht nur Lob gespendet, sondern auch ein Versprechen gegeben, das ich durch meine Arbeit in den kommenden Jahren einlösen muß.
Erlauben Sie mir in dieser Lage, soviel Ehre wie möglich weiterzuwälzen auf Vorgänger und Lehrer. Wer bei einem Lehrer wie Arno Borst in die Schule gehen durfte, der konnte nie der Verachtung des historischen Stils erliegen, wie sie in den Jahren, als ich die Universität besuchte, noch gang und gäbe war; bei ihm war das Gehör für die Originaltöne der Quellen zu entwickeln, das einen davor bewahrt, sie mit dem Kauderwelsch der Gegenwart zu überstimmen. Und wer sich mit der Geschichtsschreibung der Stadt Rom befaßt, der steigt in einen Traditions- und Sprachstrom, von dem man nur ein Rinnsal ableiten muß, um höchsten Glanzes teilhaftig zu werden. Man muß ja nur übersetzen und zitieren, zusammenstellen und montieren, zeigen, wie Livius, Vergil und Lucan im Mittelalter weitergetragen und verwandelt, wie diese Autoren im Humanismus, bei Petrarca und seinen Nachfolgern, zu Modellen eines neuen Schreibens werden, an denen sich noch die Großerzähler des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts ausrichten, Gibbon, Ranke, Mommsen, Gregorovius. Die Überlieferung der Stadt Rom hat eine maniera grande ausgebildet, die noch dem kleinsten Leben bedeutende Resonanz gibt. Man braucht da wirklich nur den Gelehrtenbuckel der Begeisterung, um schönste Ziele zu erreichen.
Die Chronik, die ich untersuchte und in die Tradition einordnete, ist der erste ausführliche Text, der in Rom von römischer Geschichte nicht mehr auf lateinisch, sondern in der nachantiken Volkssprache erzählt. Dies war ein großer Schritt, wie der anonyme Autor selbst wußte, der sein Werk nach eigenem Bekunden großartig und schön machen wollte und es deshalb zuerst auf lateinisch abfaßte, um es dann ins Volgare zu übersetzen. Er wurde damit zu einem Bruder des Erzählers Giovanni Boccaccio, der mit seinen volkssprachlichen Geschichten, wie Kurt Flasch kürzlich nachgewiesen hat, nicht nur unterhalten, sondern auch der des Lateinischen unkundigen Damenwelt Grundfragen der Moralphilosophie nahebringen wollte.
So wurden gelehrte, lateinische Disziplinen, die Ethik und die Historiographie, dem alltäglichen Reden angenähert und ins Leben zurückgeführt. Volgarizzamento, Übertragung in die Volkssprache, ist im Italienischen der Fachausdruck, der eben nicht nur Übersetzung meint, sondern einen ganzen Kulturvorgang bezeichnet, letztlich die Emanzipation der Nachfolgersprachen des Lateinischen. Solches Mündigwerden war nun, wie ich glaube, keineswegs einfach ein Sieg der Volkssprachen, sondern ebensosehr ein letzter Triumph des Lateinischen. Das Lateinische nämlich hat dabei seine Formgesetze den Volkssprachen aufgeprägt, es hat etwa bei Boccaccio das Italienische weitausholend und fein differenziert gemacht wie Ciceros Stil und es in den dramatischen Erzählungen des Anonimo Romano so prunkvoll klingen lassen wie die spätantiken Epiker. Die heute noch überwältigende Schönheit dieses literaturgeschichtlichen Moments besteht in solchem Ausgleich: die lebendige, ausdrucksvolle Sprache der Plätze und Märkte, der Prediger, Händler und Liebenden wurde in der Schrift frei und reich und wohlgeformt, sie gewann geschichtliche Tiefe und deshalb auch eine Zukunft, von der, um in der Urbs zu bleiben, noch die Rom-Historiographie des vergangenen Jahrhunderts zehrte, die sich ein letztes Mal die rhetorischen Muster der antiken Geschichtsschreibung anverwandelte. Zugleich wurden die Sprachen des Alltags diszipliniert für Argumentation und Forschung, für Recht, Philosophie und Historie. Das Hin- und Herübersetzen zwischen der alten Gelehrtensprache und den frischen Umgangssprachen machte die Vergangenheit lebendig, so wenn man den tribunus plebis der antiken Quellen als Bruder des capitano del popolo in der eigenen Stadt erkannte; umgekehrt gewann das gegenwärtige Leben Tiefe und Vergleichsmöglichkeiten, wenn man den frisch gekürten capitano mit dem Bild seines antiken Vorfahren, eben des tribunus konfrontieren konnte, oder aber wenn man podestà und consul als einen Typus begriff.
Diese fernen Vorgänge stehen uns viel näher, als mancher vielleicht glaubt. Die Doppelung von Latein und Volgare hat sich in den seither vergangenen Jahrhunderten immer da wiederholt, wo die Wissenschaften ausgeprägte Sondersprachen entwickelt haben. Jede Wissenschaft neigt dazu, wieder Latein zu werden, ihre Sprache zu verfestigen, mit Erinnerung aufzuladen und sich von der Rede des täglichen Umgangs möglichst weit zu entfernen. Daß dieses Latein lebendig bleibe, daß es nicht Eigentum einer kleinen Gruppe von Spezialisten werde, sondern sich wieder verbinde mit den Erfahrungen, die in einer sich unaufhörlich wandelnden Gesellschaft gemacht werden, das scheint mir der Sinn des Ausdrucks »wissenschaftliche Prosa« zu sein. Die Forderung nach Klarheit und Schönheit, die in ihm enthalten ist, meint doch nichts anderes als das Verlangen nach immer neuen volgarizzamenti, in denen die Fachsprachen und die lebendige Rede der Gesellschaft sich verbinden.
Wir haben vor etwa zehn Jahren in Deutschland einen solchen Kampf um ein neues volgarizzamento erlebt, als die Forderung erhoben wurde, die Historie solle wieder erzählen und sich den Bedürfnissen eines allgemeinen Publikums öffnen. Ein Blick in die Buchläden zeigt, daß der Kampf erfolgreich war. Heute haben wir fast schon im Übermaß historische Darstellungen, die ebenso breit wie fundiert sind, die von Fachleuten geschrieben wurden, aber von sehr vielen gelesen werden. Die Öffentlichkeit kann dies als einen wichtigen Sieg verbuchen.
Mir scheint freilich, daß die Wissenschaft mittlerweile viele Gründe hat, wieder fester auf ihrem Latein zu bestehen. In unserer Welt findet der Ausgleich zwischen den Fachsprachen und der geselligen Sprache ja nicht mehr direkt statt wie noch bis vor zwei- oder dreihundert Jahren. Dazwischen liegen die Institutionen der Öffentlichkeit, Presse und Medien, und sie zeigen ebenso wie die Wissenschaften die Tendenz, sich zu verfestigen, eigene Gesetzmäßigkeiten auszubilden und so Erfahrungen zu beschneiden. Wir haben in jüngster Zeit in Deutschland immer wieder Pressefehden erlebt, die mit den Sachgehalten der umstrittenen Gegenstände nur noch wenig zu tun hatten, sondern eher die presseinternen Tendenzen zu politischer Lagerbildung, sensationeller Zuspitzung und Personalisierung mechanisch wiederholten. Man hat, jedenfalls in der Kulturpresse, gelegentlich den Eindruck, sie funktioniere nach Art eines Luhmannschen Systems, das Anstöße von außen, also die Sache, nur noch als beliebige Umwelt aufnimmt, die die interne Mechanik der Medien mit Material versorgt. Was den Gegenständen der Kunst und der Wissenschaften dabei widerfährt, ist mit dem Ausdruck »Vulgarisierung« meist noch viel zu schonend bezeichnet. Nicht selten ist es der bare Ruin. Diese Tendenzen werden verstärkt durch die Unsicherheit eines in Bewegung geratenen Markts, auf den immer lauter geschrieen werden muß, um die Konkurrenten zu übertönen.
Ich vermute, daß das Publikum davon auf Dauer eher gelangweilt und entnervt wird. Zudem lehrt die Erfahrung, daß die unmittelbare sensationelle Wirkung schnell verfliegt, weil ihr die Unglaubwürdigkeit sofort abzulesen ist. Eine Sprache, die sich auf Sachlichkeit verpflichtet, besitzt ein längeres Gedächtnis und hat deshalb auch Aussicht auf längere Wirksamkeit. Daran erinnert die Tradition, auf die Herr Flasch und ich hier uns hier beziehen durften. Vor seinen generösen Worten stehe ich beschämt. Der Deutschen Akademie danke ich dafür, daß sie mich ermuntert, das beim Anonimo Romano Gelernte an der Stelle anzuwenden, an der ich heute arbeite.