Sigmund-Freud-Preis

The »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« (Prize for Academic Prose) was first awarded by the German Academy for Language and Literature in 1964.
It is granted to scholars who publish in German and contribute decisively to the development of language usage in their fields of study through excellent linguistic style.
The Sigmund Freud Prize is sponsored by the HSE Foundation and is awarded annually at the autumn conference of the German Academy in Darmstadt.
The prize has been endowed with €20,000 since 2013.

Dan Diner

Historian
Born 20/5/1946

In luzider Prosa beantwortet er praktisch, theoretisch und ideologiekritisch die Frage, wie nach dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus der Geschichtszusammenhang neu zu denken ist.

Jury members
Ingo Schulze, Rita Franceschini, Olga Martynova, Lothar Müller, Lukas Bärfuss, Daniel Göske, Felicitas Hoppe, Joachim Kalka, Daniela Strigl, Michael Walter

Laudatory Address by Stephan Malinowski

Lieber Herr Diner,
Meine Damen und Herren,

Zu den Begriffen aus dem Militärjargon, die seit dem russischen Überfall auf die Ukraine dem Vergessen entrissen worden sind, gehört das Wort Minenfeld. Auf einem solchen beginnt diese Laudatio nicht deshalb, weil sich die Sujets in Dan Diners Werk durch ideologisch und politisch verminte Felder bewegen, auf denen sich jede Form der Differenzierung mit äußerster Vorsicht zu bewegen hat. Dies gilt dort, wo Diners Arbeiten Israel-Palästina umkreisen. Es gilt nicht weniger dort, wo sie Kontinuität und Fragilität der jüdischen Geschichte, das Zerstörungswerk nationalsozialistischer Mordapparate und das nachfolgende Ringen gegenläufiger Gedächtnisse behandeln. Auf einem Minenfeld beginnt diese Laudatio, um einen historischen Moment aufzusuchen, der in Diners Arbeiten vielfach auftaucht. Diner, der eine eigene Sorte Globalgeschichte entwickelt hatte, lange bevor diese auch deutsche Universitäten eroberte, findet hier einen der Punkte, über die sich vermeintlich bekannte Geschichten gegen die vorherrschenden Überlieferungsströme neu erzählen lassen.

Im Herbst 1942 hatten deutsche und italienische Truppen in der ägyptischen Wüste Sperrfelder mit einer halben Million Minen angelegt. Bei El Alamein, westlich von Alexandria, stehen General Montgomery fast 200.000 Mann zur Verfügung, nur etwa ein Drittel davon sind Briten, die von Indern, Australiern, Griechen, Kanadiern, Tschechen, Neuseeländern, Südafrikanern, Polen, Franzosen, Ägyptern und palästinensischen Verbänden mit jüdischen und arabischen Soldaten unterstützt werden. Unter den Pioniereinheiten, den es gelingt, Schneisen in die Minenfelder zu schneiden, und die Voraussetzungen des britischen Vorstoßes zu schaffen, zeichneten sich indische Regimenter aus Bombay, Madras und Bengal aus. Die imperialen Truppen waren alles, was zwischen der deutschen Vernichtungswalze und den etwa 500.000 in Palästina lebenden Juden stand. In der Folge der Schlacht zogen die deutschen Verbände nicht nach Jerusalem, sondern über 2.000 Kilometer rückwärts. Wenn Palästina fünf Jahre später zu einer Heimstätte überlebender Juden werden konnte und wenn sich die Vernichtungsszenarien von Warschau über Bordeaux bis Rhodos an der Levante nicht entfalteten, so ist dies weniger der zionistischen Wehrhaftigkeit vor Ort als den militärischen Erfolgen der britisch-imperialen 8. Armee in der ägyptischen Wüste zu verdanken.

Diner hat diese zweite Schlacht von El Alamein in immer neuen Zusammenhängen als weltgeschichtliches Scharnier verstanden. Seine Darstellung dieses „anderen Krieges“, wie er ihn in seinem großen Buch nennt, dreht die Darstellung des Zweiten Weltkrieges, von Süden und von den Kolonialreichen aus erzählt, auf verblüffende Weise um.

In der Verknüpfung von geographischer Statik und der Unberechenbarkeit von Ereignisketten, der Kombination präziser Detailbeobachtung mit weiten Übersichten, der Rückwirkung der Peripherie auf die vermeintlichen Zentren, dem global ausgreifenden Blick auf nicht-europäische Akteure und der Verzahnung verschiedener Handlungslogiken leuchten einige der Elemente auf, welche die hier zu preisende Erzählkunst ausmachen. So ist der stetige Wechsel zwischen groß und klein, die Kunst, Landschaften, Wüsten, Meeresengen, kurz, die Geografie zum Sprechen zu bringen und die Erzählung zwischen kleinen und großen Räumen schwingen zu lassen, die erste Qualität, die ich hervorheben möchte.

Der Wechsel zwischen Präzision im Detail und weiten Übersichten ist mit einer Erzähltechnik verbunden, die ständig den Fokus verändert. In einem Labor entspräche dies dem sogenannten Objektivrevolver an einem Mikroskop, der Objektive verschiedener Vergrößerungsstärken hält, die durch einfache Drehbewegungen variiert werden könnten. In Diners Texten changieren Passagen, die Augenblicke, Momente, und Einzelfiguren wie in 200-facher Vergrößerung erzählen, in schnellen Wechseln zu großer Flughöhe.

Spürbar ist, dass der sehr junge Dan Diner Tage und Monate mit dem Betrachten von Karten verbrachte, um diese dann aus dem Gedächtnis möglichst genau nachzuzeichnen. Die Texte des späteren Historikers Dan Diner gleiten so souverän durch den Raum, dass der Leser zum Weltatlas, Globus oder zu Google Maps greifen muss, um den Bewegungen folgen zu können. Auf den ersten Blick erinnert dieser Zugriff an die Lehren der französischen Annales und ihre Betonung der „longue durée“. Der berühmten Kritik, die Fernand Braudel an der Ereignisgeschichte formuliert hatte, der Vorstellung, nach der politische Ereignisse wenig mehr sind als auf der Oberfläche der Meere zitternder Schaum, folgen Diners Texte allerdings nicht. Und als der Aufsatz des Frühneuzeitlers Braudel 1958 erschien, hatten die sogenannten Ereignisse die langfristigen Unterströmungen bereits mit einem unübersehbaren Schaumteppich überzogen. Zwei Weltkriege, steckengebliebene Weltrevolutionen, die Dekolonisationskriege und der Holocaust stellen die langfristige Regelhaftigkeit, nach welcher sich Geschichte angeblich bewegt, in Frage. Phasen extremer Beschleunigung wie die des Juli 1914 oder wie jene den Kern des Holocausts umfassenden Jahre 1941 bis 1943 sind mit der Vermessung der Unterströme kaum zu fassen. Bei Braudel liegt die Chance zur Erkenntnis tief unter den Ereignissen. Bei Diner liegt sie unter, in, hinter, auf, neben, über und zwischen den Ereignissen. Im kunstvollen Umgang mit verschiedenen Geschichts-Geschwindigkeiten liegt eine zweite Besonderheit in Diners Erzählen. Von Braudel und – vor allem – von Marx hat sich Diners Werk immer weiter entfernt. Neben der Betonung des Unvorhersehbaren herrscht, dies wäre eine dritte Eigenheit, ein stark pessimistischer Grundton, der sich dem Glauben an einfache Wahrheiten und dem Glauben an den Fortschritt verweigert. Diese Skepsis steht in der Tradition der berühmten neunten These Walter Benjamins und insgesamt in der Tradition des Frankfurter Grand Hotel Abgrund, in das sich Dan Diner früh einbuchte und aus dem er niemals ausgezogen ist.

Die spezifische Dialektik des Voranschreitens, über die jüdische Exilanten in Kalifornien und dann wieder in Frankfurt nachdachten, spielt in Diners Werk eine wichtige Rolle und spiegelt sich – dies wäre eine vierte Eigenart – in der Mischung des Uralten mit dem Brandneuen, des Zufälligen mit dem Gegebenen. In ironischer Distanz zu einer berühmten Formel Hans Mommsens spricht Dan Diner von den Wirkungen kumulativer Kontingenz. Die tausendfach geschilderte Szene am 30. Januar 1933 etwa, in der Staatssekretär Otto Meißner in den Besprechungsraum dringt, mit der Taschenuhr wedelt, um die streitenden Herren Hugenberg und Hitler mit dem Argument, man könne den Reichspräsidenten nicht länger warten lassen, zur Vereidigung Hitlers zu drängen, beschreibt Diner als „Szene, die wie keine andere die Emblematik des Zufälligen am Ende Weimars in ein Bild fasst.“ Diners Schilderung der letzten Wochen vor der Machtübergabe als „Panoptikum des Grotesken“ lässt Zufällen und Querschlägern viel Raum. Dabei hat Diner stets auf die Grenzen der „kumulativen Radikalisierung“, also der Erklärungskraft der strukturalistischen Interpretation des Holocaust verwiesen. Die extreme Vernichtungsenergie, die sich zuerst und zuletzt auf die Juden richtete und sich in der Vernichtung als Selbstzweck den für stabil gehaltenen Regeln der Rationalität und des Kalküls entzog, hatte in der Wahl ihrer Opfer keinen Raum für Zufälle. Der Begriff Zivilisationsbruch, den Diner geprägt hat, wird auch dann noch Generationen von Historikern beschäftigen, wenn ihn einige Kritiker für einen zionistischen Trick halten.

In einer der schärfsten Formeln über den Bielefeldismus hatte Thomas Nipperdey 1975 im ersten Heft von Geschichte & Gesellschaft formuliert, es sei nicht die Aufgabe des Historikers, die Vergangenheit über ihre eigentlichen Aufgaben zu belehren. In Diners Texten ist von Versuchen dieser Art – meine fünfte Beobachtung – nichts zu spüren. Die in der Ausbildung meiner eigenen Historikergeneration dominierenden, stark auf Deutschland, Westeuropa und die USA konzentrierten Erzählungen waren nicht frei von teleologischen Kräften. Geschichte schien in jene Grundkategorien zerlegbar, die sich Max Weber in Heidelberg ausgedacht hatte, der Weg nach Auschwitz folgte auf eine sonderbare Abdrift der Deutschen von westlichen Modernisierungswegen, bevor ein dunkler Umweg nach Westen das Land doch noch auf die sichere Seite führte. Diners Texte bieten dazu implizit Gegenmodelle, geschrieben aus einer Welt, die über Deutschland und den Westen deutlich hinausdenken konnte. Die filigrane Beschreibung der Nichtzugehörigkeit und Verletzlichkeit von Menschen zwischen den Blöcken sowie die seismographische Aufmerksamkeit für das ungeschützte Leben reichen bei Diner über die jüdische Geschichte weit hinaus.

Die sehr frühen Texte enthalten im Klangbild noch Sounds und Beats aus dem Spektrum der marxistischen Sprechmaschine, auf sehr eigene Weise abgemischt mit dem hohen Ton des späten Carl Schmitt. Die späteren Werke, darunter Das Jahrhundert verstehen und Der andere Krieg finden zu anderen Klangfarben und Ausdrucksformen: Eine oftmals äsopische Redeweise – die Allegorie, die Parabel, die Anekdote, das Puzzle, und das Kaleidoskop. Flaschenpost, deren Inhalt über einen Ort spricht, jedoch einen anderen meint. Ähnlich wie in den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft, die Hannah Arendt in ihrem historischen Hauptwerk wie Puzzleteile verwendet, zeichnet das kaleidoskopische Erzählen auch Diners Werk aus. Und wie bei Arendt wird das Puzzle niemals fertiggestellt, hinterlässt Leserinnen und Leser jedoch mit dem Eindruck, im Text den entscheidenden Elementen oder Puzzleteilen begegnet zu sein. Diese Puzzleteile sind weltweit aufgesammelt – nicht wenige wurden im sogenannten Orient zusammengetragen, einige davon in Nordafrika und hier zuvorderst in Algerien. Mit dem Verweis auf den 8. Mai 1945, der in Europa das Kriegsende, in Algerien ein Massaker französischer Kolonialtruppen mit Zehntausenden von Opfern und den Beginn eines Krieges markiert, der in postkolonialer Lesart bis in die Gegenwart anhält, hatte Diner sehr früh auf einen wichtigen Punkt hingewiesen, an dem sich radikal verschiedene Wahrnehmungen und Zeitrechnungen in verschiedene Linien aufspalten. Mit Albert Camus, dessen Kritik an der französischen Kolonialpolitik so luzide wie beschränkt blieb, hat sich Diner eine keinem Lager angehörige Figur als Begleiter gewählt, die in den letzten Jahren vor ihrem unzeitigen Tod im Schraubstock zwischen ideologischen Blöcken immer fester eingeklemmt wurde, um schließlich zu verstummen. Wäre Camus Auftreten gegen den Terror aller Seiten eine Philosophie für Oberschüler, wie die Pariser Sessel-Mandarine um Sartre und Jeanson spotteten, wäre im Rückblick zu fragen, für welche Bildungsstufe das ideologische Gebrabbel Sartres angemessen gewesen wäre. Camus blinde Flecken sind die eine, Diners Insistieren, Camus als Stimme zurückzuholen, die sich groben Vereinfachungen standhaft verweigert hat, sind die andere, und in der Gegenwart wichtigere Seite.

Und dies führt zum letzten Eigenheit, die ich hervorheben möchte: Diners abstrahierendes Geschichtsdenken, dem das Konkrete nie aus dem Blick gerät. Diners Arbeiten zeichnen sich durch die fortlaufende Mischung verschiedener Perspektiven, durch die Verweigerung ideologischer Zurichtungen, Vereinfachung und Dekontextualisierung aus. In einer Diskussion mit Hans-Magnus Enzensberger, der Auschwitz und Hiroshima in dieselbe Abteilung einsortiert hatte, wandte sich Hannah Arendt 1965 gegen die, wie sie es nannte, „Sauce des Allgemeinen“, und formuliert dazu: „Wir tun dies gelegentlich alle, fortgerissen, wie mir scheint, nicht vom »Strom der Geschichte« oder der berechtigten Sorge um die Zukunft, sondern von dem Zuge unserer Assoziationen. Die Gefahr liegt im Metier. Man kann ihr begegnen durch den immer erneuten Versuch, sich am Konkreten festzuhalten und Unterschiede nicht zugunsten von Konstruktionen zu verwischen.“ Nicht zuletzt dies ist, was Dan Diner seit Jahrzehnten gelingt und ihn als herausragenden Historiker, Erzähler und Weltenverbinder auszeichnet.

© Stephan Malinowski