Friedrich-Gundolf-Preis

The »Friedrich-Gundolf-Preis« has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964.
As a »Prize for German Scholarship Abroad«, for 25 years it was exclusively awarded to linguists and literary scholars at foreign universities.
However, the prize has also been awarded to persons outside of academia who are committed to imparting German culture and cultural dialog since the prize was renamed the »Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland« (Prize for the Imparting of German Culture Abroad) in 1990.
The Friedrich Gundolf Prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy. It has been endowed with €20,000 since 2013.

Tomio Tezuka

Germanist
Born 29/11/1903
Deceased 12/2/1983

... den angesehenen Essayisten, den Lehrer bedeutender Schüler, den Nestor der Germanistik Japans.

Jury members
Kommission: Beda Allemann, Claude David, Eduard Goldstücker, Herman Meyer

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Laudatory Address by Hikaru Tsuji

Probleme deutscher Literaturwissenschaft im Inselreich Japan

Wenn ein Europäer − denn, sich als Europäer zu verstehen, betonen die meisten Deutschen oft gerne und eifrig − also, wenn ein Europäer in Japan auf Japanisch eine Rede halten sollte, ergäbe sich für uns Japaner, wenn wir nicht zufällig moderne Linguisten oder Sozialwissenschaftler sind, eine Unstimmigkeit zwischen Augen und Ohren, so etwas wie ein leichter Stilbruch. Nur durch die sprachliche oder japanbedingte gedankliche Faszination, die vom Redner ausgehen müßte, wäre dieses Unbehagen zu beseitigen.
Wenn aber ein Europäer, der als solcher eine ideelle Identität bleiben muß, sich so verhielte wie ein Japaner, mit Kichern, Trippeln und wiederholten Verbeugungen, dann wäre es schon eine Verfremdung, die ans Groteske grenzt.
Nicht nur wegen der fehlenden Anzahl der Beispiele, sondern wegen der Ästhetik der Sprachkunst überhaupt, die uns in erster Linie hier beschäftigt, und die heute uns alle hier verbindet, ist diese Diskrepanz ein quälendes Moment der Auslands- oder vielleicht außerindoeuropäischen Germanistik. Das Erlebte und das Angeeignete kann für das empfindliche Stilgefühl weder in dem Land des Forschungssubjekts noch des Forschungsobjekts volle Geltung gewinnen.
Zeremonie, Ritual und Zelebration, wie die besonderen Formen einer Ehrung auch immer hier genannt sein mögen, bieten sowohl einem Wissenschaftler als auch einem Künstler, engverbunden mit diesem sensiblen Stilgefühl, einen schwermütigen Anlaß, über die Vielschichtigkeit des Ichs nachzudenken, über die gewollte, aber zugleich gezwungene Zugehörigkeit der einzelnen Ich-Schichten zur Gesellschaft, über die zeitlich und örtlich gebundenen Wechselwirkungen zwischen Individuum und sozialer Umwelt zu grübeln. Das Rituelle ist nämlich als Gewalttat etwas Geschichtliches und zugleich Individuum-Erweckendes. Ob dieses Rituelle Ost − ich meine Fernost − und West noch zugleich vertreten kann, darauf kommt es an.
Nun ist diese vorausgeschickte kleine Besinnung, soweit sie die Institution selbst betrifft, in der man sich befindet, nicht die Sache des Preisträgers. Die Reflexionen, die auch leise die Möglichkeit andeuten, unter Umständen in Selbstzerfleischung auszuarten oder aber den Reflektierenden als Spielverderber erscheinen zu lassen, lehnt Tomio Tezuka ab. Er hat immer von Goethe lernen wollen, lebendig zu leben. Das ist nun wieder für Tomio Tezuka ein berechtigter Grund, daß er sich länger als ein halbes Jahrhundert mit Hölderlin befaßt hat. »Ich habe Hölderlin gegenüber immer eine Art von Gewissensbissen, sozusagen Mitleid mit ihm gehabt«, erzählt er.
Professor Tomio Tezuka, wegen Erkrankung heute nur durch sein achtbändiges Gesamtwerk hier vertreten, ist 1903 geboren, studierte in den zwanziger Jahren an der Universität Tokyo Germanistik, schloß sein Studium ab mit einer Abhandlung über Goethes »Tasso«, an deren Inhalt er sich nicht mehr erinnern kann. War es doch die Zeit, in der die Japaner gierig europäische Kultur, vor allem Naturalismus, Symbolismus und Expressionismus aufnahmen und alle Studenten für ihre Bildung wenigstens einmal den »Weither« gelesen haben mußten. War es doch die Zeit, in der die Rezeption immer mit dem künstlerischen Schaffen Hand in Hand ging, in der das Nebeneinander oder die Symbiose des peinlichen Positivismus und der schöpferischen Mißverständnisse für die japanische Germanistik allmählich Tradition wurde, auf die die etablierte und zugleich gewissermaßen vergeistigte deutsche Geisteswissenschaft von Dilthey bis Gundolf einen großen Einfluß ausübte. Die besondere Anfälligkeit der heutigen japanischen Germanisten gegenüber Vokabeln wie Echtheit, Höhe, Weite, das Große, das Schöne, das Wahre, das Universelle, das Dämonische wäre ohne diese Rezeption nicht denkbar.
So war auch Tomio Tezuka zuerst einer derjenigen, die lieber sich selbst literarisch prüfen wollten als die Literatur wissenschaftlich. Er schrieb und veröffentlichte mehrere Erzählungen, die nach dem Krieg in dem Band »Der Zurückkehrende« zusammengestellt wurden.
Nach dem Studium arbeitet Tomio Tezuka als Deutschlehrer an einem Obergymnasium in der Provinz, siebzehn Jahre lang, wo er »Käthchen von Heilbronn«, den »Zerbrochenen Krug«, Hesses »Siddhartha« und Kolbenheyers »Amor Dei« übersetzte. 1943 wird er als Professor für deutsche Literatur an die Universität Tokyo berufen, und 1953-1954 geht er zu einem Studienaufenthalt nach Deutschland, wobei er unter anderen Carossa, Bergengruen, Spranger und Heidegger aufsuchte − man denke an Heideggers Schrift »Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden«. Auf gesucht hat er − mit einer sicheren Ahnung − auch Paul Celan in Paris.
Er glaubt außerdem, die Bedeutung des Christentums in Europa aufs neue an Ort und Stelle festgestellt zu haben, und fühlt sich aufgefordert, Japan und die Japaner, deren geistiges Vakuum nach dem Krieg ihm innerlich sehr zu schaffen machte, im Kontrast zum christlichen Abendland zu betrachten.
Vor diesem Studienaufenthalt in Europa entstanden noch die Übersetzungen: Goethes »Ausgewählte Gedichte«, Kleists »Amphitryon«, Mörikes »Maler Nolten«, Stifters »Bunte Steine«, Carossas »Dr. Bürgers Ende« und »Das Jahr der schönen Täuschungen«, Hesses »Steppenwolf« sowie nach der Europareise die Übertragung von Rilkes »Duineser Elegien« und Goethes »Weither«. Die Übersetzungen des Preisträgers, außer den genannten noch als spätere Arbeiten Goethes »Faust«, Nietzsches »Zarathustra« und »Ecce Homo«, Georges »Ausgewählte Gedichte« und schließlich Hölderlins sämtliche Werke, sind immer die gewesen, die durch Präzision und subtile Einfühlung den japanischen Lesern einen richtigen, aber notwendigerweise auch profanierten Weg zum Originaltext bahnten. (Daß die unglaubliche Erweiterung des Japanischen durch das riesige Quantum der Übersetzungen schließlich die unausbleibliche Verschwommenheit der Sprache verursachen mußte, ist wohl ein Thema der Soziolinguistik.)
Ab 1957 ist Tomio Tezuka acht Jahre lang Präsident der Japanischen Gesellschaft für Germanistik und wird 1963 Dekan der Philosophischen Fakultät. 1964 erhält er die Goethe-Medaille in Gold und nach der Emeritierung aus der Universität Tokyo wird er wieder als Professor an die Privat-Universität Rikkyo berufen, und es folgen zahlreiche Auszeichnungen: 1967 Aufnahme in die Japanische Akademie der Wissenschaften, dann der Übersetzungspreis für die Hölderlin-Übersetzung, der Literaturpreis der Yomiuri-Zeitung, ein Vortrag über Goethe vor dem Kaiser am Kaiserhof, Verleihung eines mir schon völlig unbekannten Ordens sehr hohen Grades und schließlich 1981 für seine Verdienste die höchste Auszeichnung durch die japanische Regierung.
Es ist der glänzendste Lebenslauf, den ein japanischer Literaturforscher überhaupt haben kann, und Sie könnten, meine Damen und Herren, sich mit Recht fragen, wozu noch der Gundolf-Preis, wenn die Geisteswissenschaft des Inselreiches mit der unbedingten Einzigartigkeit der japanischen Sprache nach außen hin nicht ein hermetisch abgeschlossener Mikrokosmos wäre.
Der glänzende Lebenslauf von Tomio Tezuka bezeugt andererseits seinen entschiedenen Abstand von jeglicher Extravaganz, sein zähes japanisches Dulden aus Liebe zur Dichtung, zur Verinnerlichung des Alltags. Auch während des Krieges gab es äußerlich nichts Auffälliges außer seiner Armut. Ein Leben, das aber erst dann plötzlich interessant wird, wenn es durch menschliche Begegnungen von innen beleuchtet wird. So sind die acht Bände, die heute hier zugegen sind, im Grunde genommen Zeugnisse solcher bis ins Mark hinein menschlichen Begegnungen, selbst wenn es bei der genauen Ausführung einzelner Fakten nicht immer diesen Anschein hat. Die Darstellung enthält viele subjektive Vermutungen, die jedoch immer als solche klar gekennzeichnet und durch die hohe Qualität der Sprache gerechtfertigt sind.
Die ersten zwei Bände des Gesamtwerkes sind seiner geliebten, 1978 verstorbenen, Frau gewidmet. Sie stellen eine monumentale Forschungsarbeit über Hölderlins Leben und Werk dar, der er ab 1970 zehn Jahre lang tagtäglich seine Zeit gewidmet hat. Er bemüht sich hartnäckig, nicht nur die Materialien zu suchen und zusammenzustellen, sondern als Japaner auch seine eigenen Eindrücke zu überprüfen und zur Sprache zu bringen. Sein Ziel ist, die erhabene Gestalt des Dichters immer vor Augen zu halten, sie als lebenden Menschen vor den Leser zu beschwören. Die absolute Einsamkeit als Ursprung des reinen Idealismus des Dichters, die Klage über die Zeit und ihre Ohnmacht, die Sehnsucht nach dem Göttlichen und das angenommene Leiden und tragische Wollen, aber vor allem der elegische Ton selbst sind es, was Tomio Tezuka wiedergeben wollte. Die genaue Biographie und die tiefgründige Interpretation der Gedichte mit ihren Übersetzungen werden lange unerreichbar bleiben.
Neben dieser uns imponierenden Hölderlinforschung sind seine »Studien über George und Rilke« im 2. und 3. Band, die er 1960 veröffentlichte und die ihm den Kotaro Takamura-Preis brachten, die umfangreichsten. Hier läßt er uns schon wissen, daß er sich nunmehr als Lyrikforscher versteht, und er reflektiert exakt und deutlich, soweit dies im Japanischen möglich ist, über die Methode der Literaturforschung. Ein kritisches Vorgehen wird als notwendig erklärt, um zu ermöglichen, »die lebende Dichtung nicht als Leiche, sondern als das Lebende aufnehmen und darstellen zu können«. Tomio Tezuka ist sich dabei vollkommen bewußt, daß der Forscher mit der subjektiven Bewertung äußerst vorsichtig umgehen muß, daß er aber als geschichtliche Existenz doch auf diese Subjektivität angewiesen bleibt und ihr die dichterischen Anregungen verdankt. Beide Dichter, Rilke und George, werden dann in Beziehung zum gemeinsamen europäischen Zeitgeist gesetzt, der Weg zum Innern der Kunst und Dichtung wird mit ihrer Genealogie in Anlehnung an Nietzsche untersucht, die Entwicklung beider Dichter mit Hilfe der Biographie genau festgestellt und die Ortsbestimmung der erreichten Ziele unternommen, indem das Motiv der Liebe bei beiden Dichtern verglichen wird. Zur nicht geringen Verwunderung der Japaner neigt dabei Tomio Tezuka dazu, George höher zu schätzen als Rilke. Den Anspruch auf die absolute Autonomie des Ichs als Lähmung der Vitalität und den notwendigen Narzißmus des europäischen Geistes verurteilt Tomio Tezuka trotz tiefer Liebe zu beiden.
Tomio Tezuka bewegen immer Polaritäten. Daß diese Polaritäten, verwurzelt in dem Lebenswillen des Subjekts, uns doch mit Freuden und Leiden lebendig erhalten, dessen ist er sich immer bewußt. Worunter die Auslandsgermanistik, ja die Außerindoeuropa-Germanistik, immer leidet: unter den Polaritäten zwischen unbefangenen Lesermassen und Kennern, zwischen der Übersetzung und der Forschung, zwischen dichterischer Veranlagung und wissenschaftlicher Genauigkeit und schließlich zwischen deutscher Sprache und Muttersprache und dazu noch unter der allgemeinen menschlichen Polarität zwischen Idee und Realität, das fordert Tomio Tezuka immer wieder zu neuer Auseinandersetzung heraus. Nun aber, wie es mehrfach in dem 7. Band gezeigt wird, in dem er moderne japanische Literatur manchmal fröhlicher, manchmal unbarmherziger als deutsche Dichtung behandelt, kommt noch das Traditionelle dazu, was diese Gegensätze, die unter sich eine dialektische Spannung zeigen, nochmals in einem einzigen Gegensatz zum Japanischen polarisiert, oder aber sie einfach nochmals auflöst zu unbewußter Natur, um eine sublimierte Sprache zu hinterlassen. Ein allerkleinstes Zeichen dafür könnte das japanische Kurzgedicht sein. Tomio Tezuka wird von folgendem Haiku seines Lehrers Suju Takano immer wieder fasziniert:

»In der Sonne
Streckt sich lang hin
Das Seil der Vogelscheuchen.«

(Es ist Spätherbst, die Reisfelder schon abgeerntet, stille Leere der Zweckmäßigkeit, deshalb klares Erscheinen des Dinges: Das Seil läuft nämlich außergewöhnlich lang hin in der schrägen Herbstsonne.) Im Grunde genommen vollkommen unübertragbar. Die einzelnen Wörter haben in dem ganzen Zusammenhang ihre eigene Notwendigkeit, die sich unmerklich aller Hörer bemächtigt. Aber davon kann doch in meiner deutschen Fassung keine Rede sein.
Meine Damen und Herren, Sie werden in meinen Worten deutsche Offenheit spüren, einen Stilbruch in meiner japanischen Existenz, und deshalb wohl zum Schluß auch von mir erwarten, daß ich die doch zu vermutende gelegentliche Kritik des Preisträgers an der deutschen Germanistik, der er so vieles zu verdanken hat, verlauten lasse. Wenn ich jetzt daraufhin in dem Sinne des Preisträgers bestimmte schneidende Worte Hölderlins zitiere, weiß ich genau, daß ich es wieder als ein Dank vergessender Schüler tue, aber ich muß es: »Es ist ein hohes Wort, und dennoch sag’ ich’s, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Junge und gesetzte Leute, aber keine Menschen − ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossene Lebensblut im Sande zerrinnt?« Und wenn Sie, meine verehrten Damen und Herren, wenn Sie in dem Stil des Preisträgers seine subtile dezente Kritik an der deutschen Germanistik hören wollten, müßte ich eigentlich sein Japanisch hier vorlesen.
Der Jury der Akademie für Sprache und Dichtung, die den Preis Tomio Tezuka zugesprochen hat, möchte ich mein Kompliment mit dieser Formulierung zum Ausdruck bringen: Wenn die japanische Germanistik mit ihrem üblichen unbegründeten Schmollgesicht auch an dieser Verleihung vorbeigeht, die doch zu ihrem Selbstverständnis entscheidend beiträgt, dann wird für sie der bewußte Weg weiterhin versperrt bleiben. Denn das ganze Werk von Tomio Tezuka, einschließlich seiner Übersetzungen, ist doch als Darstellung seines Landes und seiner Zeit in diesem Ausmaß die erste über Ost und West kontrastiv reflektierte Literaturforschung in Japan, über die zu reflektieren wiederum unsere produktive Aufgabe geworden ist.