Friedrich-Gundolf-Preis

The »Friedrich-Gundolf-Preis« has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964.
As a »Prize for German Scholarship Abroad«, for 25 years it was exclusively awarded to linguists and literary scholars at foreign universities.
However, the prize has also been awarded to persons outside of academia who are committed to imparting German culture and cultural dialog since the prize was renamed the »Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland« (Prize for the Imparting of German Culture Abroad) in 1990.
The Friedrich Gundolf Prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy. It has been endowed with €20,000 since 2013.

Erik Lunding

Germanist
Born 23/4/1910
Deceased 1/7/1981
Member since 1960

... für seine Bemühungen, die Methoden der deutschen germanistischen Forschung in Skandinavien bekanntzumachen und sie zugleich auf nordische Literatur zu übertragen.

Jury members
Die Mitglieder der Kommission und des Erweiterten Präsidiums

Deutsches Geistesleben in der Peripherie

Sehr verehrter Herr Präsident, hochgeschätzte Mitglieder der Akademie, meine Damen und Herren.
Als ich Anfang Februar vom verehrten Generalsekretär einen Brief erhielt und erfuhr ‒ ich zitiere »daß der Preis zum ersten Mal an einen Vertreter der Germanistik in den skandinavischen Ländern fiel«, konnte ich mich schwer von meinem Erstaunen erholen. Ich könnte zum Beispiel darauf hinweisen, daß der mediterran orientierte Ernst Robert Curtius seinem Schüler und meinem damaligen Lektor Walter Boehlich warnend mitteilte, nördlich von Hamburg höre die Kultur ganz allmählich auf. Es war ferner selbstverständlich, daß ich nach der Lektüre dieses Briefes über mein germanistisches Wissen und mein immenses germanistisches Nicht-Wissen nachgrübelte. Niemand wagt zu behaupten, daß die deutsche Literatur reicher als die französische oder die englische sei. Es steht aber fest, daß die literaturwissenschaftliche Sekundärliteratur viel reicher, viel bohrender, viel ernster ‒ bisweilen zu ernst ‒ ist als die romanistische und die anglistische. Erreichbar war für mich ‒ und in dieser Hinsicht stehe ich nicht ganz allein ‒ nur ein Mosaik von Oasen, nur Schneisen durch die Urwälder, die kritischen Wälder. Der Name Curtius ist gefallen, ich möchte jedoch vermeiden, hier in den festen, rhetorisch gewiß vorgeschriebenen Toposschatz zu verfallen. Ich kehre zum Hier und Heute zurück. Ich erfuhr, daß die Busfahrt heute nachmittag nicht nach Tübingen, sondern nach Marbach geht, und so bitte ich um Entschuldigung, daß ich mich kurz nach dem Süden wende.
Vor 33 Jahren strahlte die Sommersonne unermüdlich auf die Dichter- und Gelehrtenstadt Tübingen. Gewiß zogen lange Marschkolonnen an der Bibliothek vorbei. Im Lesesaal selbst
standen noch Heines Werke neben den anderen ganz großen deutschen Dichtern. Persönlich hauste ich jedoch vor allem am Hang des Neckars, und zwar in dem alten, damals z. T. germanistischen Aulagebäude. Als Gast ordnete ich in den meistens menschenleeren Räumen die germanistischen Bücher und schrieb selbst schnell ein Büchlein, d.h. ich komprimierte eine preisgekrönte Schrift, die ich als Student hauptsächlich in Berlin verfaßt hatte. Es handelte sich um die Barocksynthesen der Barockforschung. Trotz des Stempels der Universität Kopenhagen war eine öffentlich subventionierte Drucklegung allerdings nicht möglich, denn ich wäre, so hieß es jenseits des germanistischen Lehrstuhls, ganz auf dem Holzwege, ich hätte nicht geistesgeschichtlich und literatursoziologisch vorgehen sollen, denn der wahre Sinn der Literaturwissenschaft läge in der personalistisch-essayistisch orientierten, in der mit Anekdoten und Ironie gesättigten Darstellung. Es triumphierte noch Sainte-Beuve in einem solchen Grad, daß der Vertreter der germanistischen Literaturwissenschaft auf einem Horchposten im Niemandsland arbeitete. Dies hat sich neuerdings wesentlich geändert, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sich die rebellischen Germanisten vermehrt haben. Während in Schweden die streng linguistisch-positivistische Hochburg bekanntlich unbesiegbar ist, gibt es in Dänemark gewisse Variationsmöglichkeiten sowohl jenseits der Belletristik Saint-Beuves als auch jenseits einer Forschung der strengsten Schererschen Observanz.
Wer südlich von Villach in germanisch-romanisch-slawischer Umgebung aufgewachsen ist, ist zum vergleichenden Sprachforscher prädisponiert. Wer als nordischer Germanist ununterbrochen mit den verschiedenartigsten methodologischen Zielsetzungen konfrontiert wurde, ist vom vergleichenden theoretischen Denken völlig durchdrungen. Man stellt sich die Frage, warum wird das kurzsichtige Forschen im engen muffigen Raum nicht auch nur zeitweise mit einer Gratwanderung mit den großen Ausblicken und Einblicken vertauscht, und warum keine Konsolidierung auf dem fruchtbaren Boden der Dialektik zwischen dem Analytischen und dem Synthetischen? Mag auch, wie längst nachgewiesen ist, die geistesgeschichtliche Literaturforschung, besonders auf der Frühstufe, allzu bereitwillig gewesen sein, geschichtsphilosophischen, emotionalistischen und intuitionistischen Tendenzen zu huldigen, so muß jedenfalls festgestellt werden, daß sie niemals langweilig war. Später wurde in bezug auf die theoretischen Ziele und Wünsche die alte Kluft zwischen der angelsächsischen und der deutschen Literaturwissenschaft in eigenartiger Weise überbrückt, mögen auch in Konzipierungen und Formulierungen alte Kontrastierungen weiterleben. Richten wir den Blick nach der skandinavischen Welt oder auch nur nach Westeuropa, so ist es unverkennbar, daß Deutschland trotz aller Tiefe und trotz des Geistes abgesehen von der germanistischen Diaspora den kürzeren zieht, denn es dominiert nicht die Interpretation, sondern das close reading, und das auch, wenn sehr labile, subjektivistisch-impressionistische poet-critics dahinterstecken. Die Ursache dieses Mißverhältnisses liegt auf der Hand. Ein Wort genügt: Die Sprache, die Germanistensprache im Stil des Asianismus, in ‒ um Herder heranzuziehen ‒ »zusammengeschlungenen, verketteten und mit Bindewörtern verpallisadierten Perioden«. Noch plastischer wurde dieser Tatbestand von einem meiner Vorgänger in der heutigen Lage formuliert. Robert Minders Vorwort zum Werk »Dichter in der Gesellschaft« (1966) endet mit folgendem Satz: »Auch der Literaturforscher braucht nicht als ein in die Fachsprache abgekapselter Monolith in die Gesellschaft zu ragen.«
Für die Kopenhagener germanistischen Studenten der dreißiger Jahre und ebenfalls für zahlreiche andere Ausländer, die damals neue literaturwissenschaftliche Wege suchten, stand Oskar Walzel mit seinen Werken ganz im Zentrum. Im Hinblick auf die bedauerlichen sprachlichen Hemmungen der Ausländer ist es keine nebensächliche Bemerkung, wenn ich hervorhebe, daß Walzel seine eifrig gelesenen Bücher und Abhandlungen diktierte ‒ allerdings wird der Leser nicht von einem eisernen Bestand fester Fügungen verschont. Wer die Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft verfolgt, wundert sich darüber, wie selten sein Name in den letzten Jahrzehnten ins Gedächtnis gerufen wurde, hat doch gerade er die Geistesgeschichte mit der Formgeschichte versöhnt und Stil- und Strukturprobleme nicht vergessen; und außerdem hat er sich darum bemüht, die damals scharf bewachte Grenze zwischen der professoralen Literaturwissenschaft und der freieren Literaturkritik zu überschreiten. Unter diesen Umständen ist es für mich ein wenig beunruhigend, gerade hier ein paar unfreundliche Zitate zu geben; es handelt sich aber um eine »liaison des scenes«. Walzels Buch »Wachstum und Wandel« wurde von ehrerbietigen Schülern konkret ausgegraben und 1956 herausgegeben. Diese Publikation entpuppte sich als eine fragwürdige Verehrung. Als Kostprobe, Wachstum: »Mit wenig Hörern begann ich... Rasch wurde es mehr. Zu den Studenten gesellten sich Damen aus der Stadt, unter anderen auch Kolleginnen... Leicht erkämpft war der Erfolg nicht«. Und daran war, so füge ich hinzu, die sitzende Lebensweise schuld. Es folgen Wandel und Rettung, die seitenlang besprochen werden. »Voraussetzung auch der endlich erreichten Gewichtsabnahme wurde die Aare. Schon 1904 war ich da auf gutem Wege« ... »Tatsächlich erledigte ich in wenigen Monaten etwa fünfundzwanzig Kilogramm... Sparsames Essen, Verzicht auf Süßigkeiten« ‒ also heroisches Leben füge ich hinzu. Germanisten dürfen zwar Biographien schreiben, vor Selbstbiographien, besonders wenn diese beinahe 350 Seiten umfassen, muß aber gewarnt werden. Selbst beschränke ich mich jetzt auf einen Satz, und dieser Satz ist nur als Sprungbrett zu verstehen: Ich bin geboren und auf gewachsen am Sunde in Rungsted in der Mitte zwischen Kopenhagen und der fiktionalen Hamletstadt Helsingör.
Behandeln möchte ich die deutsche Dichtung im Fischerdorf Rungsted, die rein dänische und die englisch-dänische können dagegen nur gestreift werden, und selbstverständlich darf die dortige dänische Akademie für Sprache und Dichtung nicht überschlagen werden. Ich spreche wiederum vom Sprungbrett, damit dies nicht als etwas ganz Schrulliges aufgefaßt wird. »Nord-Meer, Welt-Meer, Göttin, Unendliche, Erdumgürtende, Wiege der allerleuchtenden Sonne...« Dies könnte in einem kosmischen Naturhymnus Däublers stehen, der Verfasser heißt aber Friedrich Leopold Stolberg, bekanntlich der begabtere der beiden gräflichen Brüder. Mit diesem Gedicht, »Die Meere«, mit »Badelied zu singen im Sunde« u. ä. m. proklamierte er in den siebziger Jahren, also lange vor Heine, den Einzug des Meeres in die deutsche Dichtung, denn von den Reimereien eines Brockes darf mit Fug und Recht abgesehen werden. Vom Hofe in Rungsted aus erlebte Stolberg das Meer oder richtiger eine schöpferische Monumentalisierung der ganz friedlichen Gewässer. Sein Vater war der Oberhofmeister der dänischen, allerdings immer deutschsprechenden Königinwitwe Sofie Magdalene. Da er in Verbindung mit der Majestät fortschrittliche landwirtschaftliche Reformen einführte, steht noch heute vor dem Pfarrhaus in Hörsholm (damals Hirschholm) landeinwärts von Rungsted seine Gedächtnissäule. Was »das dänische Ende Deutschlands« ‒ ich zitiere wiederum Herder ‒ betrifft, ist es mir trotz allen Fahndens nicht gelungen, auch nur eine Gedenktafel für deutsche Dichter zu finden. Das Fehlen wird durch die Minderwertigkeitsgefühle bestimmt. Die geistige Übermacht war groß, hätte aber noch größer werden können, denn es wimmelte von Einladungen. Hätte der in Dänemark gefeierte Rabener sein liebes Dresden verlassen, und hätte der nicht weniger geschätzte, jedoch recht ängstliche Geliert eine Stelle als Prinzenerzieher angenommen, hätte Herder auf seiner berühmten Fahrt von Riga bis Nantes auf dem Sunde nicht nur den dänischen König gefeiert, sondern wäre er, woran er dachte, ausgestiegen, dann wäre die ganz eigentümliche Situation eingetreten, daß schon zu diesen friedlichen Zeiten das Schwergewicht der deutschen Dichtung außerhalb der deutschen Grenzen gesucht werden müßte, und zwar auf dem engen Raume Nordseelands. Damals gab es ferner keine sprachlichen Hemmungen und Schwierigkeiten, und so verlor Klopstock in seinen vielen Jahren in Dänemark keine Zeit damit, Dänisch zu lernen. In dieser Hinsicht wurde Bert Brecht sein treuer Schüler.
Zum Hofe Stolbergs »Rungstedgaard« kam der Schrittschuhläufer und der Dichter Klopstock. Als Vates war er im bürgerlichen und später biedermeierischen Dänemark besonders beliebt als Zielscheibe der Ironisierungen und Parodierungen, jedoch spürte ein Kongenialer die dichterische Kraft des Messiassängers ‒ noch in seiner letzten Nacht las Johannes Ewald den »Messias«. Er wohnte in seiner Glanzzeit vor der Mitte der siebziger Jahre in Rungsted und hielt sich nicht zuletzt im dortigen Wirtshaus auf, denn er gehört zur Sippe Günthers und Grabbes. Ich vermute, daß ich hier einen ganz klanglosen Namen erwähne, denn die Namen der großen Lyriker in den kleinen Ländern sind wohl alle klanglos. Als Lyriker kann sich der Sachse Johann Andreas Cramer überhaupt nicht mit Ewald messen, dafür führte dieser deutsche Hofprediger aber die Kartoffel in Dänemark ein, und zwar auf seinem Gute Sandholm wenige Kilometer von Rungsted. Dort gab es auch ein Hünengrab, und aus diesem Hügel sind die ganz kunstwidrigen Gespenster, die grotesken, konturlosen Phantome der nordischen Mythologie in die deutsche Literatur hineingeschlichen. Der Anreger dieser fatalen Tendenz war Gerstenberg, der bei Cramer zu seinem »Gedicht eines Skalden« inspiriert wurde. Es folgten die Warnungen Goethes, und es kam in diesem Jahrhundert der furor scandinavicus mit seinen überdimensionierten Eddagestalten in ihren vorgeschriebenen Heldenposituren, ein Kapitel, das sich um so leichter überspringen läßt, als es kaum schroffere Kontraste zwischen Idee und Wirklichkeit gibt.
Die Wirklichkeit der vorklassischen und der antiklassischen Stimmungen und Strömungen sei jedenfalls blitzhaft berührt. Daß der junge Lübecker Thomas Mann dem sammetblauen Himmel und der ganzen bellezza Italiens den Rücken kehrte und Aalsgaarde nördlich der Hamletstadt aufsuchte, überrascht nicht. Und dort oben kamen auch graue stürmische Tage, wo die Wellen »die Köpfe wie Stiere« beugten, dann ging er ‒ bekanntlich in der Gestalt Tonio Krögers ‒ landeinwärts und ‒ ich zitiere ‒ »genoß ein tiefes Vergessen, ein erlöstes Schweben über Raum und Zeit, und nur zuweilen war es, als würde sein Herz von einem Weh durchzuckt«. Beinahe dieselbe Gegend beschrieb in ossianisch-klopstockisierender Monumentalität und Sentimentalität Stolberg in dem Gedicht »Hellebek, eine seeländische Gegend«. Hier triumphierten jedoch ganz das sich selbst genießende Herz und das lächelnde Weinen, ja sogar in elegisch-kosmischen Phantasien suchte die Wonne der Wehmut Erlösung. Hier ist das wasserklare Ohne-Schicksal-Sein von vornherein ausgeschlossen. Derselbe Schauplatz ist jedem bekannt, der eine Schillerbiographie gelesen hat. Gibt es in diesen Darstellungen überhaupt etwas Rührenderes als die beschriebene freilich um 14 Jahre verfrühte Totenfeier der deutsch-dänischen Schillerfreunde? Vergessen wird nur, daß es sich um Weinen und Lachen, um die gemischten Gefühle, um den Genuß eines Melodramas handelte ‒ allerdings war der joy of grief diesmal nicht ganz realitätsfern, denn Schiller bekam 3000 harte Taler.
Es gibt selbstverständlich Geschichten der Nationalliteratur, und es gibt die sogenannten Geschichten der Weltliteratur, aber eine vergleichende großregionale Literaturforschung, auf organischen Kreisen verschiedener Länder basiert, gibt es m. W. nicht. Wo liegt etwa eine Untersuchung vor, die auf die verwandten dichterischen Haltungen und die form- und stilgeschichtlichen Auswirkungen dieser Positionen in der germanischen Kulturperipherie visiert ist, und zwar von der norwegischen Felsen- und Küstenlandschaft, über die dänischen und holsteinischen Ebenen, durch die niederländischen Marschlandschaften, überragt von den trutzigen Bürgertürmen, bis der gewaltige Bogen in den schweizerischen Tälern schließt. Es ähneln sich die literarischen Gesten und Gattungen. Alles Rhapsodische, alles Dithyrambische und alles Orgiastische wurde hier heimatlos. Um die unerbittlich tragischen Dissonanzen des hohen Dramas zu vermeiden, bemühte man sich um alle Formen der Dämpfung, sei es im Singspielhaften, sei es im Opernhaften. Es blühten die Idyllen und die Genreszenen, die dörflichen Skizzen und die bürgerlichen Interieurs. Es hatten die Wiegenlieder, sei es eines Stolberg, sei es eines Claudius, gute Wachstumsjahre, und so gravitierte man nach der Windstille der bürgerlichen Mitte. In dieser Pfarrhauskultur wurde jeder Flug ins Ferne und Gefährliche, ins Metaphysische abgelehnt. Man wagte sich nicht auf die heilige Bergeshöhe, in die selige Selbstvergessenheit im All der Natur. Der gottlose, weil unethische Pantheismus taucht nur in christlicher Transponierung auf, wie etwa beim Westschweizer Charles Bonnet, dessen Werke in Kopenhagen gedruckt wurden, und er strahlte mit Lavater und dem Glaubensphilosophen Friedrich Jacobi starke Wirkungen aus. Die beiden letzteren wurden, wie übrigens auch die Göttinger-Hain-Dichtung, mit offenen Armen in Holland, in Holstein (Emkendorf) und in Dänemark empfangen. Im Sprachstil sowie im Lebensstil manifestierte sich fortwährend das Rührend-Sentimentale. Es florierten im Norden wie im Süden die Seelenfreundschaften, und hier überwindet man durch Briefe und durch Besuche alle Fernen. Die Ostschweiz vertreten Johannes von Müller und der sanfte Generalstabschef Gaudenz von Salis-Seewis, und aus der welschen Schweiz kommt Karl Victor von Bonstetten, der jahrelang in Kopenhagen bei seiner Seelenfreundin, der deutsch-dänischen Lyrikerin, Frau Frederikke Brun weilte. Ein deutscher Seelenfreund dieser Seelenfreunde ist der damalige Modelyriker Friedrich von Matthison, der deshalb sowohl nach dem Süden als nach dem Norden schwärmte. In den Landschaften unter diesen Sternen wurde der Übergang vom Sentimentalen zum Katastrophalen als etwas ganz Ungebührliches betrachtet, und so wurde die dänische Wertherübersetzung verboten, schon deshalb ganz töricht, weil alle Gebildeten Deutsch lasen. In der niederländischen Kritik lesen wir, daß Werther bei dem Gesandten hätte bleiben sollen statt zu Lotte zurückzukehren, denn dann wäre die Katastrophe vermieden worden. Der Dreitausendtaler-Mann (Schiller) notierte sich die Wut in Kopenhagen wegen der »Xenien«. Der Klassiker Goethe erlebte einen schwachen Augenblick und geriet ins Kitschige, als er »Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer vom Meere strahlt«, das Rollenlied einer Frau, direkt durch Frederikke Brun angeregt, schrieb. Das Wesen dieser Kunst war ihm allerdings nicht unbekannt, und so schrieb er an Johann Heinrich Meyer: »Es ist mir sehr lieb, daß Ihnen die vortreffliche reisende Dame [d.h. Frau Brun] aufgestoßen ist, und daß Sie durch dieses Musterbild einen Begriff von dem christlich-moralisch-ästhetischen Jammer bekommen haben, der sich an den Ufern der Ostsee in der ohnmächtigsten Aufgeblasenheit versammelt«. (Am 30. Oktober 1796.) Die literatur- und geistesgeschichtlichen Konsequenzen kann ich jetzt nur in zwei kurzen Sätzen formulieren. Erstens: Die sogenannte dänische Romantik ist ihrem Wesen nach hauptsächlich Biedermeier; zweitens: Nur vor diesem Hintergrund ist ein wirkliches Verständnis der großen Ausnahme namens Kierkegaard möglich.
Es schließt sich der Ring, denn ich kehre zum Haus und Hof am Meere, zum »Rungstedgaard« zurück. Wo Stolberg die Meeresdichtung eroberte, wurde mehr als hundert Jahre später Karen Blixen geboren. Sie sah nicht »aus heimlichem Stübchen behaglich ins Feld« hinaus, denn sie fuhr in das ganz fremde und dunkle Abenteuer hinaus. Für sie sei, so sagte sie, Afrika dasselbe wie Amerika für Kolumbus (vgl. das Buch über die afrikanische Farm). In den letzten dreißig Jahren wohnte sie aber wieder am Sunde. Als sie gastfrei der vor zehn Jahren gestifteten Dänischen Akademie Tür und Tor öffnete, war sie eine Greisin: »Karen Blixen war damals schon zart wie Spinnweb, der Rücken gekrümmt, die Gestalt ätherisch wie Vogelleib oder herbstmüder Falter«. Diese glänzende Kritik habe ich nicht geschrieben, ja überhaupt nicht schreiben können ‒ übrigens habe ich Karen Blixen nicht gesehen. Die betreffende Stelle steht in dem von W. E. Süskind geschriebenen Nekrolog. Er beschreibt seinen Besuch in Rungsted. Zu meinem großen Leidwesen erfuhr ich, daß dies verehrte Mitglied der Akademie vor kurzem gestorben ist. Falls es mir einmal gelingt, das hier angedeutete internationale Fundament der Biedermeierdichtung ausführlich darzustellen, so bin ich der Deutschen Akademie dafür besonders dankbar, denn die Verleihung des Preises ist für mich eine unerschöpfliche Anregung.