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Thomas Macho
[ohne Titel]
In seinen unlängst veröffentlichten Zürcher Poetikvorlesungen hat Milo Rau die aktuelle, von zahlreichen Krisen geprägte »Totalisierung« der Gegenwart scharf kritisiert. Was er fordert, trifft exakt das Thema unserer Veranstaltung: die Er-probung neuer Blicke auf die Vergangenheit und die Zurückeroberung der Zukunft. »Sie muss der Gegenwart hinten und vorne die Ausgänge freihalten, um uns, in einem Satz, wieder in geschichtliche Bewegung zu bringen. Denn nur eine offene Gegenwart, in der man aus Distanz zum Geschehen Stellung nehmen kann, ist darstellbar. Und nur eine darstellbare Gegenwart kann als veränderbar begriffen werden.«
Diese »Totalisierung« der Gegenwart manifestiert sich in gesteigerter Wachsamkeit für das Gleichzeitige, in einem synchronistischen Bewusstsein, das durch die Omnipräsenz der Medien und sozialen Netzwerke beständig erweitert und vertieft wird. Die Dominanz dieses synchronistischen Bewusstseins manifestiert sich exemplarisch in der stets wiederholbaren Frage, was gerade, während ich beispielsweise einen kurzen Vortrag in Darmstadt halte, jenseits des Veranstaltungsraums geschieht: auf den Schauplätzen der Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten, aber auch an Orten, an denen sich zur selben Zeit meine Kinder, Freundinnen und Freunde aufhalten, die auf WhatsApp oder Instagram posten, womit sie gerade beschäftigt sind: zumeist übrigens ebenfalls mit der Fülle beunruhigender Nachrichten, die kommentiert und verbreitet werden müssen.
Der Aufstieg des synchronistischen Bewusstseins, einer Art von freischwebender Aufmerksamkeit, lässt die Welt zunehmend ereignishaft erscheinen. Hinter den Gewittern gleichzeitig aufblitzender Ereignisse verschwinden die Fragen nach der longue durée, nach der Genealogie kriegerischer Konflikte, ökologischer Krisen oder der Kohärenz individueller Lebensgeschichten, und zwar ebenso rasch wie die Suche nach Auswegen, Zielen oder Utopien. Wir leben in einem Chronotop der »breiten Gegenwart« (nach Hans Ulrich Gumbrecht ), des »Present Shock« (nach Douglas Rushkoff ), der Rhizome, Kippeffekte und Wechselwirkungen; aber dieses Leben im Hier und Jetzt gleicht nur selten dem entspannten Leben, das vor mehr als einem halben Jahrhundert die New Age-Propheten versprachen. Das Weltbild des synchronistischen Bewusstseins ist düster: ein Weltuntergangsbild, ein Dokument geteilter Erinnerungs- und Hoffnungslosigkeit.
Wie können Abschiede und Neuanfänge im Schatten der »totalen Gegenwart« gestaltet werden? Ich selbst habe in diesem Jahr auch Abschied genommen, et-wa am Ende einer Konferenz des Internationalen Forschungszentrums Kultur-wissenschaften (IFK) in Wien. Es war Freitag, der 16. Juni 2023, als ich am frühen Abend über «Alter und Zukunft« gesprochen und in einem kurzen Nachwort angekündigt habe, das Amt des Direktors zu Beginn des Wintersemesters aufzugeben. Zufall oder tröstliche Koinzidenz: Am Vormittag desselben Tages hatte ich den Anruf Ernst Osterkamps erhalten, in dem er mir mitteilte, dass mich die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung auf ihrer Frühjahrstagung zum Mitglied gewählt habe; zugleich sagte er mir aber auch, dass er selbst nicht mehr für das Amt des Präsidenten der Akademie kandidieren werde.
Zu den Koinzidenzen meines eigenen Abschieds gehörten Jubiläen: Auf der eben erwähnten Konferenz feierten wir den dreißigsten Jahrestag der Gründung des IFK und zugleich den fünfzigsten Jahrestag der Gründung der Kunstuniversität Linz, zu der das IFK seit 2015 gehört. Und mir selbst war bewusst, dass ich vor fünfzig Jahren (genauer gesagt: am 1. August 1973) meinen ersten Dienstvertrag abgeschlossen und vor dreißig Jahren (am 1. Oktober 1993) meine Professur an der Humboldt-Universität Berlin angetreten habe. Vielleicht bilden Jubiläen in der »totalen Gegenwart« eine Art von letzter Schwundstufe des kollektiven Gedächtnisses – runde Gründungsjahre, Geburts- und Sterbetage, oft genug auch Schreckenstage, die an Anschläge, Kriege, Katastrophen oder Seuchen erinnern.
Doch Jubiläen inszenieren gewöhnlich keine rites de passage; sie bezeugen häufiger bloß das Bonmot der 2015 viel zu früh verstorbenen Autorin und Künstlerin Svetlana Boym, die in der Einleitung zu ihrer Studie über The Future of Nostalgia (2001) bemerkte, »that the past has become much more unpredictable than the future«.Denn zum Ritual der Passage gehörte immer auch die »Wiederholung« der Vergangenheit, im Sinne Kierkegaards ein »wieder holen«, zurückholen, als Übergang zu neuen Anfängen, als Initiation, Verwandlung und geteilter Schritt in die Zukunft. Die Öffnung der Gegenwart kann nur gelingen, wenn auch die Zukunft wieder unvorhersehbarer, »much more unpredictable«, wahrgenommen wird. Wie aber kann diese Öffnung gelingen? Wie sollen wir im »stahlharten Gehäuse« (Max Weber) der totalen Gegenwart die möglichen Passagen von den Abschieden zu den Erneuerungen imaginieren? Milo Rau spricht von Aktionen, Widerständen und kommenden Aufständen, aber auch von der Einsicht, dass die Zukunft offen ist: »Die heutige Arbeitsteilung und die heutige Expertise werden schon morgen keinen Sinn mehr ergeben. Die heutigen Besitzverhältnisse werden über Nacht ihre Gültigkeit verlieren, unsere Gewissheiten in Unordnung geraten. Alles, was zählt, ist: bereit sein, gemeinsam. Das ist die Ewigkeit […]: der Augenschlag zwischen dem, was war, und dem, was sein wird.«
Einen anderen Weg schlägt die Philosophin Corine Pelluchon ein, in ihrem kürzlich erschienenen Essay über »Die Durchquerung des Unmöglichen«. Sie spricht von der Hoffnung, die sie nicht – wie Ernst Bloch – für ein Prinzip hält, sondern für eine Art von Epiphanie, die der Verzweiflung, erneut im Sinne Kierkegaards, entspringen kann. Schon auf der ersten Seite ihres Essays betont Pelluchon: »Hoffnung ist das Gegenteil von Optimismus. Letzterer resultiert oft aus mangelnder Ehrlichkeit und fehlendem Mut – er ist eine Form der Verleugnung, die den Ernst der Lage verschleiert oder glauben macht, man habe die Lösung für alle Probleme. Es gibt keine Hoffnung ohne die vorherige Erfahrung eines kompletten Horizontverlusts. Dieser Verlust ist, als würde am helllichten Tag die Nacht hereinbrechen, und er zwingt sowohl Individuen als auch Völker dazu, sich von ihren Illusionen zu verabschieden.«Pelluchon beschreibt Hoffnung als eine säkulare Gnade; sie sei »keine besänftigende Rede, kein Trostpflaster für den Schmerz oder eine Strategie, die darauf abzielt, den guten Willen nicht zu entmutigen und den Schwächsten die Folgen allzu großer Klarheit zu ersparen. Sie ist wie ein drittes Auge und das komplette Gegenteil von Verleugnung. […] Ihre Klarheit rührt daher, dass man das Unmögliche durchquert und das Leid erfahren hat, was kennzeichnend für die Hoffnung ist.«