Johann-Heinrich-Voß-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung würdigt seit 1958 ein übersetzerisches Lebenswerk oder herausragende Einzelleistungen.

Der Preis wird vom Land Hessen gestiftet und ist mit 20.000 Euro dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung der Akademie vergeben.

§ 2
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis berücksichtigt Übersetzungen aus allen literarischen Darstellungs­formen. Ausgezeichnet werden Übersetzungen in die deutsche Sprache. Die auszuzeichnende Übersetzung bewegt sich auf dem künstlerischen und sprachlichen Niveau des Ausgangstextes und stellt eine eigene sprachschöpferische Leistung dar.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden. Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Johann-Heinrich-Voß-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Das Land Hessen ist mit einem Vertreter bzw. einer Vertreterin beratend an der Entscheidung beteiligt. Die Bekanntgabe erfolgt über eine gemeinsame Pressemitteilung.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 2. November 2022

Wolfgang Schlüter

Übersetzer und Schriftsteller
Geboren 11.12.1948

Mit großem Gespür für die Musik der beiden Sprachen, mit eigensinnigem Kunstverstand und philologischer Genauigkeit eröffnet er neue Einsichten in die englische Poesie seit dem Mittelalter...

Jurymitglieder
Iso Camartin, Elisabeth Edl, Aris Fioretos, Zsuzsanna Gahse, Daniel Göske, Susanne Lange und Ernst Osterkamp

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Laudatio von Iso Camartin
Publizist, geboren 1944

Translatorische Spielfreude. Laudatio auf den Übersetzer Wolfgang Schlüter

Herr Präsident der Akademie, liebe Freunde und Kollegen, verehrte Damen und Herren,
Steilvorlagen gibt es nicht nur im Fußball, es gibt sie auch dort, wo es gilt, Bedingungen zu schaffen, unter denen das Verständnis eines Textes aus einer fremden Originalsprache in eine andere Zielsprache auf Anhieb gelingt. Beim Fußball ist eine Steilvorlage der Pass eines weit entfernten Mannschaftsspielers knapp vor das Tor, sodass ein richtig platzierter Mitspieler den Ball leicht in einen Treffer verwandeln kann. Im Übersetzungsvorgang ist eine Steilvorlage der sprachliche Lösungsvorschlag, der im Kopf des Lesers unmittelbar zu einem »Volltreffer« führt, das heißt: zu blitzartig einleuchtendem Verständnis eines bis anhin dunklen Zusammenhangs. Die meisten Übersetzer sind Spezialisten in der präzisen Ablieferung von Querpässen. Da muss der Ball gestoppt werden, bevor er ins Ziel weitergeleitet werden kann. Für den Lesenden bedeutet dieser Richtungswechsel so etwas wie ein Innehalten, ja eine notwendige Zwischenschaltung der eigenen Reflexion. In Glücksfällen aber muss der Ball – oder der Sinn eines Wortes oder eines Satzes – gar nicht gestoppt oder gewendet werden, sondern kann ohne großen Richtungswechsel weiterrollen und ins Ziel geschossen werden. Auch im Übersetzungsgeschäft ist es ein Glücksfall, wenn der oder die dafür Verantwortliche Steilvorlagen für das Textverständnis zu liefern vermag. Bei Wolfgang Schlüter haben wir es in dieser Kunst mit einem der großen heutigen Meister zu tun, wo es darum geht, Texte aus dem Englischen ins Deutsche zu wenden.
Um dies in den wenigen für eine Laudatio eingeräumten Minuten zu belegen, müssen Sie, verehrte Anwesende, mir die Freiheit einräumen, aufgrund nur weniger Beispiele, die ich als Leser für »Volltreffer« halte, den Beweis für Schlüters sprachliche Kunst anzutreten. Das ist im Hinblick auf die gewaltigen literarischen Unternehmungen von Wolfgang Schlüter natürlich völlig unzureichend, ganz abgesehen davon, dass wir es bei ihm ja auch mit einem Autor, Erzähler und Essayisten zu tun haben, der ein Sprachschöpfer und Sprachmagier von hohen Graden ist. Hier und heute stehen allerdings allein seine Verdienste als Übersetzer zur Diskussion. Ich hoffe, in meinen Ausführungen mit Ihnen – um in der Fußballsprache zu bleiben – kein »Dribbling « zu veranstalten, das heißt, dass ich Sie mit meinen »Bällen« nicht nur hinhalte und »müde spiele«, sondern Ihre Neugierde für sprachliche Volltreffer in der Kunst des Übersetzens wecke.
Was ein poeta doctus ist, brauche ich hier nicht zu klären. Das wissen die Mitglieder einer Akademie für Sprache und Dichtung, da sich in ihren Reihen mit Gewissheit solche befinden, auf welche diese Bezeichnung ziemlich genau zutrifft. Solche Autoren wissen nicht nur, auf welchen Schultern sie stehen, denn sie haben alles gelesen, was zu ihrem Interessenfeld gehört. Sie bewegen sich im »weltweiten Luftraum der Menschheitsdichtung«, wie Durs Grünbein es einmal ausdrückt. Nie sind sie nur Barde, nur Sänger, nur Träumer. Das, was sie uns mitteilen, hat bei aller Gegenwartsdringlichkeit immer einen geradezu archäologischen Hintergrund, weist Sedimentschichten fremder Herkunft auf, ist beflügelt von einem Bemühen, längst verklungene Stimmen mitschwingen zu lassen und alte verloschene Bilder geheimnisvoll neu zum Leuchten zu bringen. Ein poeta doctus wirbt nie allein in eigener Sache. Er oder sie hat das Anliegen, Verlorenes, Vergessenes, Verschüttetes, Verblichenes, ja das kaum mehr Fühlbare gleichsam mit neuer Sehnsuchtsenergie auszustatten, sodass der Eindruck entsteht, Schreiben sei eine Rettungsaktion für längst verklungene Stimmen, die es neu zu entdecken gelte. Unter den gelehrten Dichtern gibt es solche, die ihre Vorgänger und Vorsänger sogar erfunden haben, um diesen in kunstvoller Manier nachsingen zu können. Darum sind solche Autoren in erster Linie große Spielstrategen, deren innigstes Anliegen es ist, die Leserschaft auf eine Zeitreise zu schicken. So gewinnt ihre Sprachmusik neben ihrer aktuellen Lautdimension einen historischen Echo-Raum, in welchem Klänge längst vergangener Epochen in rhythmischer und phonischer Gestalt an unser Ohr gelangen. Für den poeta doctus gehört es zu seinem Spielprinzip, Restbestände poetischer und ästhetischer Praktiken vergangener Zeiten in den eigenen Sprachspielen mit zu verwerten. Und wir, die Lesenden, lernwillig, ja lerngierig, concupiscentes rerum novarum, sind für diese rettenden Rückgriffe ins historische Arsenal der Poetologie mehr als nur dankbar.
Wer nun wissen möchte, was ein translator doctus ist, braucht nur die Nachworte, Anmerkungen, Kommentare, Interpretationen und Begleitessays zu lesen, mit denen Wolfgang Schlüter seine Übersetzungen angereichert hat, und er ist voll im Bild. Ich beschränke mich hier auf drei von ihm übersetzte Bücher: 1.) auf Christopher Marlowes Sämtliche Dramen; 2.) auf die Anthologie englischer Gedichte My second self / When I Am Gone; 3.) auf Schlüters neue Übersetzung von Emily Brontës Wuthering HeightsSturmhöhe.
»Durchdringend Denken muß nach Scharfsinn schürfen / und für die Zukunft planen mit Gerissenheit« – so übersetzt Schlüter Marlowes zwei Zeilen aus The Jew of Malta. Im Original lauten diese: »A reaching thought will search his deepest wits, / And cast with cunning for the time to come.« Durchdringendes Denken, Scharfsinn, ja Gerissenheit – das ist es offenbar, was nicht nur den erfolgreichen Handelsmann des 16. Jahrhunderts auszeichnet, sondern ebenso die kühnsten Abenteurer unter den Übersetzern von heute. Was ein Übersetzer zu bedenken hat, ist viel, wenn er sich die Frage stellt: Wer spricht hier zu wem, und: wie tut er dies? Haben wir einen Theater-Text aus dem 16. Jahrhundert – also der Spätrenaissance –, wird die Lösung anders ausfallen, als wenn es sich um einen Roman aus der Mitte des 19. Jahrhunderts handelt. Wie sprach die Dienerschaft der Shakespeare-Zeit? Mit regionalen und dialektalen Einfärbungen, die für die Unterschicht typisch sind? Wie rettet man sozial differenzierte sprachliche Redeweisen von damals für die Theaterbesucher und für die Leser von heute? Setzt man auf fließende Eleganz und sprachliche Geschmeidigkeit? Oder doch eher auf überraschende Abweichungen vom vertrauten Sprachgebrauch, ohne vor Stilbrüchen zurückzuschrecken? Der Übersetzer ist ja bei einem Theaterstück der erste Regisseur und Inszenator. Er gibt für die Ohren der Zuschauer den Ton an und entscheidet, ob sie sich in der Vergangenheit oder in der Gegenwart befinden. Er entscheidet, wie viel Eleganz und Verspieltheit, wie viel Verwunderung und Schockpotential, welche Manierismen und welche Modernismen er den präzise ausgehorchten Original-Figuren in den Mund legt. Schlüter sagt an einer Stelle, übersetzen sei eine physiognomische Unternehmung. Die Figuren erhalten im dramatischen Verlauf erst ihr Sprachgesicht. Wie ein Bettelmönch, ein Söldner, eine Magd des 16. Jahrhunderts heute zu uns sprechen soll, ist im Original nicht mit Eindeutigkeit festgeschrieben. Kann dies gar nicht sein. Hier nun ist der Genius des Übersetzers gefordert, der für historische Rüpelhaftigkeit, Unbeholfenheit, Treuherzigkeit, Naivität und Anpassungsschlauheit jene Sprache der Gegenwart finden muss, die bei uns Lesern den Anreiz der Faszination so gut wie jenen der subkutanen Irritation auslöst. Bei allen Überschreitungswagnissen konventioneller Diktion gilt es für den Übersetzer, in der Deutlichkeit seiner Sprache die Zwei- und Mehrdeutigkeit der Charaktere zu wahren. Die Rauheit darf die Glätte und die Unterwürfigkeit nicht auslöschen, die Frische und Unbekümmertheit einer Person nicht deren berechnende Absicht und Hinterlist verdrängen. Wenn man die Marlowe-Stücke in Schlüters Übersetzungen liest, darf man wirklich sagen, dass in der sprachlichen Typisierung dieser historischen Figuren ihm grandiose Aktualisierungs-Kunststücke gelungen sind.
Bei dramatischen Texten kommt es insbesondere auf szenische Wirkung an, und so werden die dafür mobilisierbaren Sprachregister eingesetzt. Bei der Übersetzung von Lyrik spielen metrische und phonische, aber auch gattungsbedingte, strophisch-formale Überlegungen die zentrale Rolle. Schlüters bereits genannte Anthologie englischer Gedichte, in jahrzehntelanger Feil- und Feinarbeit entstanden, ist für jene, die das Handwerk und die Herausforderungen des Übersetzens in ihren weitesten Dimensionen begreifen wollen, so etwas wie Bachs Das Wohltemperierte Klavier für Musiker und Pianisten. Wir sind hier an einem Ort der Entscheidung. Was ziehen wir vor: eine Edition, die uns als Eselsbrücke zum Original eine möglichst prosaische, litterale, von Wort zu Wort progredierende, primär inhaltlich orientierte Nacherzählung des Gedichtes bietet, oder aber – das wäre das andere Extrem – eine zwar 28 preise regelkonforme, aber doch freie Nachdichtung des Ursprungsgedichtes in der Zielsprache? Da kommt es nun sehr darauf an, was man unter »regelkonform« und »frei« versteht. Der Übersetzer hat hier zu entscheiden, ob er die »Fremdheit« des Originals eher aufhebt oder markiert. Er horcht bis in die metrischen Keimzellen des Gedichtes alles aus, fragt sich, ob Aktualisierungen oder eigene Idiosynkrasien eher förderlich oder für die Wahrnehmung der Gedicht-Intention hinderlich sind. Er muss auch entscheiden, wie er mit »historischen Distanzen« umgehen will. Wie viel Freiheitsdrang ist ihm eingeräumt, wie sehr bindet ihn die Aussage- und die Formintention des Originaldichters? Muss er vielleicht sogar Aktualisierungen vermeiden? Seine Lust an der Travestie oder an der Karikatur bändigen? Muss er sich unterordnen – oder findet er im Gedicht sogar die Lizenz, dass er sich aufspielen und austoben darf? Wie schafft er es, durch gestaltendes Eingreifen die dem Gedicht eingeschriebenen Störelemente und Widersprüche zum Leuchten zu bringen? Fragen über Fragen, auf die der Übersetzer eine Antwort finden muss.
Wer konkret erleben will, mit welchen Gedanken ein translator doctus hadert, wenn er lyrische Zeilen aus fernen Zeiten übersetzt, lese den Essay, den Schlüter illustrierend zum Eingangsvierzeiler seiner Anthologie verfasst hat. Ein anonymes Gedicht aus dem frühen 13. Jahrhundert lautet im Original folgendermaßen:

Now goth sonne under wod:
Me reweth, Marye, thy faire rode.
Now goth sonne under Tre:
Me reweth, Marye, thy sone and thee.

Nach der Erwägung geradezu aller denkbaren Möglichkeiten, die sich für jedes einzelne Wort im Kontext des Gedichtes ergeben, kommt Schlüter zu folgender für mich absolut ergreifender, rhythmisch beschwingter Lösung:

Die Sonne geht nun unter hinterm Marterholtz.
Dein holdes Antlitz dauert mich, Maria.
Nun neigt die Sonn sich unters Holz der Pein:
Mich barmt des Sohnes, barmt, Maria, dein.

Hier entsteht aus einem fernstliegenden, inhaltlich nur schwer noch nachvollziehbaren Meditations-, ja Beschwörungsgedicht litterar-religiöser Provenienz etwas – vielleicht ist es ja ein Gebet –, das für uns Leser im 21. Jahrhundert nicht nur nachvollziehbar wird, sondern zu einer »Gedichtikone« der Lebenszeit des Lesers stilisiert. Hier gibt es an keinem einzelnen Vers oder Wort noch etwas zu rütteln und zu ändern. Das ist ein Beispiel für die in Stein gemeißelte Gültigkeit, die Übersetzungen in Ausnahmefällen, im Glücksfall also, erreichen.
Schließlich noch wenige Worte zu Schlüters Übersetzung von Emily Brontës Roman. Was der Übersetzer hier an Annäherungsinsistenz, an Auskultationsenergie, an psychoanalytischer Tiefenbohrung und an charakterologischer Scharfkonturierung an den Tag legt, ist schlicht atemberaubend. Manche Geschichten wollen wir gleichsam im Vorraum unseres eigenen Seelenhaushaltes behalten. Wir lesen sie als Außenbeobachter. Die historische Distanz kommt uns da sehr gelegen, das Abgründige, Dämonische, ja beinah Unerträgliche wollen wir im Grusel- oder Raritätenkabinett vergangener Epochen versorgt wissen. Wir lassen es nicht an uns heran, halten es für Fremderfahrung und exotische Unterhaltung. Und dann passiert es! Auf einmal sind die Romanfiguren unsere Zeitgenossen. Wir zittern mit, wenn es »schroff, aggressiv, obszön« wird. Die Tugenden und die Laster der Romanfiguren werden zu jenen des Lesers affin. Der Geiz, die Geilheit, die Geltungssucht der Protagonisten haben auf einmal den »Sitz im Leben« im Affekthaushalt des Lesers. Der dunkle Trieb, der die Figuren anleitet, ist plötzlich weit weniger dunkel, weil er ein Echo auslöst im Gefühlsleben der Leser. Die Moorlandschaft von Yorkshire, in welcher die Seelendramen der Figuren sich abspielen, wird auf einmal zur austauschbaren Kulisse für die Fäulniszonen und Grabschächte der eigenen Triebe und des eigenen Begehrens. Lesen ist gefährlich! Man verwickelt sich ungewollt in fremde Schicksale, die sich als listige Fallgruben erweisen für Eingeständnisse bisher unentdeckter eigener Neigungen oder Anlagen.
Ich hatte diesen Roman vor Jahren gelesen. Er war für mich eine Informationsquelle über das Leben der englischen Provinzbewohner in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der Übersetzung von Wolfgang Schlüter sind die Protagonisten aber keine stellvertretenden Komparsen mehr für soziale Schichtung und Entwicklungsprozesse der englischen Gesellschaft. Sie werden zu interferierenden Agenten, zu grotesken Karikaturen eigener Aspirationen, zu spiegelbildlichen Begleitfiguren eigener Ansprüche, eigener Verkrüppelungen, aber auch eigener Träume und Hoffnungen. Wie man beim Leser erreicht, dass die Geschichte ihm derart unter die Haut geht und in seinen Geheimkammern für Wirbel und Erregung sorgt: Dies ist es wohl, was man als den Zauberstab bezeichnet, mit welchem ein Übersetzer – in welcher Sprache der Welt auch immer – einem Theaterstück, einem Gedicht, einem Roman neues Leben einhaucht.
In einer Fußnote des Nachworts, welches Schlüter zu seiner Übersetzung des Brontë-Romans verfasst hat, bezeichnet er den Text als ein haunted house – ein Spuk- oder Geisterhaus. Dem Leser, dem Übersetzer, dem Interpreten eines Textes bleibe es aufgetragen, ein Schließer – gemeint: ein Aufschließer und Schlossöffner – zu sein, mhd. slûter, nhd. Schlüter. Wir können nur hoffen, dass dieser Schlüter uns noch viele Texte »erschlütert«, zu denen der Zugang bisher noch verschlossen oder erst unbefriedigend erschlossen ist.
Die »Maloche« des Übersetzens bleibt weiterhin eine schweißtreibende Angelegenheit, gerade wenn die Übersetzer nicht als Sklaven, sondern als gelehrte Rebellen sich an die Arbeit am Original machen. Bei dem hier zu feiernden Rebellen ist besonders sympathisch, dass er ein von Musik vollkommen durchpulster Mensch ist. In seinen Überlegungen zur Arbeit der Übersetzer greift er immer wieder zu musikalischen Analogien, zumal aus der Welt der Oper, um Parallelvorgänge im literarischen Geschehen zu beleuchten. In seinen eigenen Übersetzungen ist er – jedenfalls für meine Ohren – in allererster Instanz musikbeflügelt. Schwer auszumachen, welche der neun Musen bei ihm den Reigen der Töchter der Mnemosyne anführt. Ganz sicher treten sie alle gelegentlich in seine Dienste und flüstern ihm rhythmische, klangliche, dramatische, epische, lyrische, heute die Tragik, morgen die Komik befördernde Lösungen ein, die uns allesamt zum Staunen bringen. Wie sollte Wolfgang Schlüter, dieser Magier der sprachlichen Verwandlungskunst, nicht endlich auch den Johann-Heinrich-Voß-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zugesprochen bekommen? Der Preisträger ist heute nicht da. Der Preis aber wird ihn erreichen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.