STATUT
§ 1
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung würdigt seit 1958 ein übersetzerisches Lebenswerk oder herausragende Einzelleistungen.
Der Preis wird vom Land Hessen gestiftet und ist mit 20.000 Euro dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung der Akademie vergeben.
§ 2
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis berücksichtigt Übersetzungen aus allen literarischen Darstellungsformen. Ausgezeichnet werden Übersetzungen in die deutsche Sprache. Die auszuzeichnende Übersetzung bewegt sich auf dem künstlerischen und sprachlichen Niveau des Ausgangstextes und stellt eine eigene sprachschöpferische Leistung dar.
Eigenbewerbungen sind nicht möglich.
§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden. Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.
§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.
Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Johann-Heinrich-Voß-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.
Das Land Hessen ist mit einem Vertreter bzw. einer Vertreterin beratend an der Entscheidung beteiligt. Die Bekanntgabe erfolgt über eine gemeinsame Pressemitteilung.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 2. November 2022
Schriftsteller und Übersetzer
Geboren 22.3.1924
Gestorben 7.6.2007
Mitglied seit 1973
... dem namentlich Hölderlin und Hofmannsthal auch in England ihre klassische Geltung verdanken.
Jurymitglieder
Kommission: Rudolf Hagelstange, Hans Hennecke, Karl Krolow, Horst Rüdiger, Walter Franz Schirmer, W. E. Süskind
Mitglieder des Erweiterten Präsidiums
Meinem aufrichtigen Dank für die Auszeichnung durch den Übersetzerpreis möchte ich gleich einen zweiten Dank nachschicken ‒ nämlich für die Aufforderung, meine Bemerkungen über das Übersetzen locker und persönlich zu halten. Ich glaube, daß es fast schwieriger ist, über das Übersetzen etwas Allgemeingültiges und zugleich etwas allgemein Interessantes zu sagen als über das Schreiben eigener Gedichte. In beiden Fällen kann man höchstens die Theorie von der Praxis ableiten. Indem man aber die eigene Praxis zu erklären oder zu rechtfertigen versucht, wird einem schon bewußt, daß es auch Übersetzungen mit ganz anderen Voraussetzungen und Zielen gibt, die nicht weniger berechtigt sind. So habe ich früher meinen eigenen Übersetzungstrieb auf äußere Umstände zurückgeführt, die zwar greifbarer sind als der innere Drang, mit diesem aber vielleicht weniger zu schaffen haben als eine psychische Anlage, die ich weder erklären noch rechtfertigen kann. Jedenfalls haben andere Übersetzer von Gedichten ohne jene äußeren Umstände zur selben Tätigkeit gegriffen, woraus ich folgere, daß keine Erklärung der Umstände die ganze Wahrheit über diese seltsame Beschäftigung enthält. Trotzdem werde ich hier vom Persönlichen ausgehen, hoffe aber, nicht ganz an den Äußerlichkeiten des eigenen Falls haften zu bleiben.
Die Wörter »übersetzen« und »übertragen« deuten schon alleine auf den besonderen Umstand, dem ich meine frühe Tätigkeit als Übersetzer zuschrieb: nämlich meine eigene Übersetzung aus Deutschland nach Großbritannien im Alter von neun Jahren. Als ich mit etwa fünfzehn Jahren anfing deutsche Gedichte zu übersetzen, wußte ich freilich nicht warum, schrieb auch zur gleichen Zeit eigene Gedichte auf Englisch. Erst mehr als zwanzig Jahre später glaubte ich zu erkennen, daß diese frühen Übersetzungen dazu dienten, etwas aus meiner ersten Umwelt und meinem ersten Sprachbereich in die neue Umwelt, den neuen Sprachbereich hinüberzutragen. Wenn diese Deutung richtig ist, erklärt sie auch schon zum Teil, warum mir nie daran lag, ganz freie Nachdichtungen zu schaffen. Die ganz freie Nachdichtung ist ja keine Verpflanzung, sondern eine Verarbeitung des Originaltextes ‒ also weniger ein Hinübertragen als eine Besitzergreifung.
Zuerst übersetzte ich recht sentimentale Gedichte von Kerner, dann auch einzelne Gedichte von Goethe und Rilke. Aber spätestens mit sechzehn Jahren begegnete ich auch schon den Gedichten Hölderlins, mit dem ich mich wie mit keinem anderen Dichter identifizierte, dem mein erstes Buch galt und mit dem ich mich noch jetzt, fast fünfundzwanzig Jahre später, beschäftige. Gerade darum ist es noch jetzt schwer zu sagen, was mich an diesen Dichter bindet und zu wiederholten Übersetzungsversuchen angeregt hat; die Bindung selber, die Art der Faszination, hat sich mit den Jahren gewandelt. Am Anfang fühlte ich mich wohl hauptsächlich durch die vereinsamte, verfremdete Gestalt dieses Dichters angezogen. So scheint es mir, wenn ich ein Gedicht wiederlese, das ich mit siebzehn Jahren in Oxford schrieb. Ich lese es in einer deutschen Übertragung von Erich Fried vor:
»Hölderlin
(Tübingen, im Dezember 1842)
Diotima ist tot, und verstummt
der Insel singender Vogel;
der Tempel, den ich aus Schutt hob
wieder gestürzt.
Wo ist die Flamme, die ich schürte
aus meiner Sinne Asche? Wo sind die Helden,
wo mein pulsendes Lied?
Nichts rührt sich auf den Wassern der Zeit.
O gib die Qual mir wieder,
reg auf des Waides Saft,
fege mein träges Blut!
Und doch, kein alter Panther im Käfig schreit ich
den Wahnsinn ab. Und diese geflüsterten Worte
sind Gitter nicht, sind Pforten, die nur ich durchschreite.
Dies ist mein Wissen, wo keine Blumen wachsen,
kein Unkraut, dies ist mein Friede.
Ich bin nun ruhig, die Welt
ist ausgesperrt, hinausgedienert zur Tür;
mein Ende wiesengleidh, von den Göttern vergönnt. ‒
Sie hörten nicht,
O verstümmeltes Schicksal! Die goldenen
Zähne des rußigen Götzen führten sie weg.
Ich habe keine Tränen um verlassene Götter
noch meine Stimme, die ich verlor.
Dies ist mein Wissen, wo kein Gelächter erschallt,
kein Seufzen, dies ist mein Friede.
Die Herrlichkeit ist dahin, und die schwimmenden Wolken;
meine stumme Hand greift den gefrorenen Himmel,
ein schwarzer kahler Baum im Winterdämmern.«
Die erste Fassung meiner Hölderlinübersetzungen, die 1943 als Buch, mit einer längeren Einleitung, erschien, weist eine ähnliche Selbstidentifizierung auf, aber noch zu wenig Verständnis für die sprachlichen, stilistischen und metrischen Eigenschaften des Dichters. Erst in den folgenden Jahren, die ich als Soldat verbrachte, fing ich an, die Dichtkunst nicht nur intuitiv zu betreiben, bemühte mich auch in eigenen Gedichten um die Bewältigung strenger und schwieriger Formen ‒ von denen ich mich dann später wieder durch nicht weniger intensive Bemühungen befreien mußte, nachdem ich den Bogen durchlaufen hatte und zu freieren Formen zurückgekehrt war.
Seit Ezra Pound und Arthur Waley erstreckt sich diese Freiheit auch auf den Übersetzer von Gedichten. Dazu kommt die seit Jahrhunderten immer wieder ausgesprochene Überzeugung der Kritiker und Theoretiker, daß die klassischen Versmaße im Englischen nicht naturalisiert werden können. Trotzdem halte ich mich in den späteren und letzten Fassungen meiner Hölderlin-Übersetzungen mit ganz wenigen Ausnahmen an die Versmaße der Originale. Der Dichter W. B. Yeats sprach von der »fascination of what’s difficult«; und tatsächlich gehört für mich die Schwierigkeit ‒ oder auch Unmöglichkeit ‒ der metrischen Übertragung zu der anhaltenden Faszination des Hölderlin-Übersetzens. Daß angesehene englische Lyriker in der letzten Zeit ganz unabhängige Gedichte in der alkäischen Odenform geschrieben haben, beweist auch entweder daß sich die Theoretiker geirrt haben oder daß hier das Unzulängliche Ereignis geworden ist. Jede ganz freie Wiedergabe der Oden und Hexameter Hölderlins würde aus der Übertragung eine Nachdichtung machen; und wie gesagt besteht für mich eine Grenze zwischen dem Übersetzen und dem eigenen Dichten, die ich bis jetzt nur selten überschritten habe. Auch gehöre ich nicht zu den Lyrikern, die Hölderlins Formen nachgeahmt haben, wenn mir auch (als Übersetzer) sein Tonfall langsam zur zweiten Natur geworden ist.
Theoretisch sind ja die verschiedenen Arten der Übersetzung schon längst erkannt und klassifiziert worden ‒ so von Goethe, von August Wilhelm Schlegel oder auch schon im 17. Jahrhundert von dem englischen Dichter und Kritiker John Dry den, der, wie mehrere der Theoretiker, drei verschiedene Übersetzungsgattungen konstatierte: die ganz wörtliche Metaphrase, die weniger pedantische Paraphrase und die ganz freie Imitation oder Nachdichtung. Dryden selber gab dem Mittelweg, der Paraphrase, den Vorzug, freilich ohne als Übersetzer klassischer Gedichte die klassischen Versmaße nachzuahmen. Schon im 16. Jahrhundert waren die englischen Dichter nach verschiedenen Experimenten zu dem Schluß gekommen, daß die klassischen Versmaße im Englischen durch jambische und gereimte Formen wiedergegeben werden sollten.
Mein Versuch, Hölderlins Oden, Elegien und Hexameter trotzdem nicht auf diese Weise zu etwas anderem zu machen, als sie sind, mußte also eine seit mindestens vier Jahrhunderten bestehende Konvention in Frage stellen. Im 19. Jahrhundert gab es wieder vereinzelte Experimente mit klassischen Versmaßen ‒ eine alkäische Ode von Tennyson, eine sapphische von Swinburne, die bahnbrechende Hexameter-Erzählung Amours de Voyage von Arthur Hugh Clough, die eine merkwürdige Brücke von Goethes Epen und Römischen Elegien zu der modernen englischen Lyrik schlägt ‒, doch galten alle diese Versuche als exzentrische Spielerei oder antiquarische Rekonstruktionen, noch nicht als sehr ernst zu nehmende Anschläge gegen die Tyrannei des jambischen Rhythmus, welcher noch heute auf die englische Lyrik eine immer wieder vergeblich bekämpfte Macht ausübt.
Der gereimte Jambus hätte Hölderlins Gedichte so glatt geplättet, daß von ihrer einzigartigen Dynamik so gut wie nichts übriggeblieben wäre. Ich hatte darum nur die Wahl zwischen den Originalformen und den völlig ungebundenen Rhythmen ‒ wie in meiner ersten Fassung die aber die ebenso wesentliche Spannung zwischen Maß und Freiheit eingebüßt hätten. Der Mittelweg, die Paraphrase, erforderte also in diesem Falle die Wiedergabe der Originalversmaße und den Anschein der Pedanterie.
Das kann ich nur deutlich machen, indem ich wenigstens einige kurze Beispiele anführe. Ich lese zuerst meine Übersetzung der Ihnen allen bekannten Ode An die Parzen:
»To the Fates
One summer only grant me, you watchful powers,
And one more autumn only for mellow song,
So that more willingly, replete with
Music’s late sweetness, my heart may die then.
The soul in life denied its god-given right
Down there in Orcus too will not be at peace;
But when what’s holy, dear to me, the
Poem’s accomplished, my art perfected,
Then welcome, silence, welcome cold world of shades!
I’ll 'be content, though here I must leave my lyre
And songless travel down; for once I
Lived like the gods, and no more is needed.«
Sie werden vielleicht bemerken, daß ich mich vor allem bemühe, Hölderlins »Sprache des Herzens« wiederzugeben, ohne aber die konventionell-rhetorischen Elemente seiner Diktion ganz preiszugeben oder durch modernen Jargon zu ersetzen. An einer einzigen Stelle mußte ich des Versmaßes wegen ein Wort einfügen, dem kein Wort des Originaltextes entspricht ‒ weil ich nämlich, der englischen Sprache gemäß, »die Gewaltigen« schon als »powers« konkretisiert hatte. Darum mußte ein anderes Beiwort hinzukommen.
Als zweites Beispiel folgt der Anfang der Elegie Brot und Wein, jene Zeilen, die schon Hölderlins Zeitgenosse Clemens Brentano bewunderte:
»Bread and Wine
To Heinse
I
Round us the town is at rest; the street, in pale lamplight, grows quiet
And, their torches ablaze, coaches rush through and away.
People go home to rest, replete with the day and its pleasures,
There to weigh up in their heads, pensive, the gain and the loss,
Finding the balance good; stripped bare now of grapes and of flowers,
As of their hand-made goods, quiet the market stalls lie.
But faint music of strings comes drifting from gardens; it could be
Someone in love who plays there, could be a man all alone
Thinking of distant friends, the days of his youth; and die fountains,
Ever welling and new, plash amid fragrance from beds.
Church-bells ring; every stroke hangs still in the quivering halflight
And the watchman calls out, mindful, no less, of the hour.
Now a breeze rises too and ruffles the crests of the coppice,
Look, and in secret our globe’s shadowy image, the moon,
Slowly is rising too; and Night, the fantastical, comes now
Full of stars and, I think, little concerned about us,
Night, the astonishing, there, the stranger to all that is human,
Over the mountain-tops mournful and gleaming draws on.«
Auch hier habe ich mir in den beschreibenden Teilen einige kleine Freiheiten erlaubt, während ich mit jedem Versuch, das Gedicht Hälfte des Lebens zu übersetzen, dem Original näher rückte, also wörtlicher, scheinbar pedantischer vorging. Dieses Gedicht ‒ eigentlich ein Bruchstück; aus den Entwürfen zu einer unvollendeten Hymne, welches aber Hölderlin selber als selbständiges Gedicht unter den späten Nachtgesängen veröffentlichte und damit noch kurz vor der gänzlichen Umnachtung seine Genialität bewies, da die Erkenntnis, daß es sich hier um ein selbständiges Gedicht handele, stilistische Revolutionen eines ganzen Jahrhunderts vorwegnahm ‒ soll hier als Beispiel der ungebundenen Rhythmen stehen:
»The Middle of Life
With yellow pears the land
And full of wild roses
Hangs down into the lake,
You lovely swans,
And drunk with kisses
You dip your heads
Into the hallowed, the sober water.
But oh, where shall I find
When winter comes, the flowers, and where
The sunshine
And shade of the earth?
The walls loom
Speechless and cold, in the wind
Weathercocks clatter.«
Gerne würde ich nun eine ganze Reihe von Übersetzungen neuerer Gedichte zitieren ‒ von Hofmannsthal und Rilke über Trakl und Benn bis zur jüngeren Nachkriegsdichtung ‒ auch um die von Hölderlin vorweggenommenen stilistischen Revolutionen zu verdeutlichen. Da dies aber nicht möglich ist, lese ich ein einziges, sehr kurzes, zeitgenössisches Gedicht Februarmond von Wilhelm Lehmann:
»Ich seh den Mond des Februar sich lagern
Auf reinen Himmel, türkisblauen.
In wintergelben Gräsern, magern,
Gehn Schafe, ruhen, kauen.
Dem schönsten folgt der Widder, hingerissen.
Die Wolle glänzt, gebadete Koralle.
Ich weiß das Wort, den Mond zu hissen,
Ich bin im Paradiese vor dem Falle.«
Und die Übersetzung, wie sie in der Anthologie Modern German Poetry 1910-1960 steht:
»February Moon
I see the February moon lie down
On a pure heaven, turquoise-blue.
In winter grasses, yellow-brown,
Sheep ramble, rest and chew.
The loveliest has drawn the ram’s desire.
Their fleeces gleam, sea-clean as coral.
I know the word to make the moon rise higher,
I am in Paradise before the Fall.«
Diese zwei Strophen stellten ganz andere Forderungen als die Gedichte Hölderlins, und diesen Forderungen bin ich nicht ganz gerecht geworden. Wo nämlich der Reim wie in Wilhelm Lehmanns Gedicht der Magie dient, kann der Übersetzer nur hoffen, daß ihm die andere Sprache zufällig die entsprechenden Klänge zur Verfügung stellt. Wo das nicht geschieht, bleibt das Gedicht im Grunde unübersetzbar. Dieselben Schwierigkeiten erfuhr ich übrigens bei gewissen Gedichten von Gottfried Benn, zum Beispiel bei der nicht weniger magischen Beschwörung Palau. In solchen Gedichten kann der Reim nicht ausbleiben; im Reim vollzieht sich hier der schöpferische Akt, jenes Finden, welches die Namen »Troubador« und »Trouvère« bezeichnen. Die Reimwörter können aber auch eigentlich nicht ersetzt werden: in dem Sich-Finden, Sich-Paaren der Klänge liegt auch der Sinn des Gedichts. Darum mußte ich mich verschiedener Freiheiten bedienen, die zwar im modernen englischen Gedicht längst erlaubt sind, aber die Eintracht von Klang und Sinn schwächen; so in dem Reim »coral/Fall«, einem Reim auf der unbetonten Silbe, der für das Ohr höchstens einen Halb- oder Viertelreim darstellt, obwohl diese Ausflucht der reimarmen englischen Dichter an sich nicht als Stilbruch gilt.
Auch verdanke ich der persönlichen Begegnung mit Wilhelm Lehmann den Hinweis darauf, daß ich ein Wort falsch verstanden habe. Das Wort »gebadete« ist nämlich ein Gebadet-sein, nicht ein Gebadet-worden-sein, wie ich es deutete. Darum lautet die sechste Zeile der Übersetzung jetzt:
»Their fleeces glitter, sea-washed coral.«
Ich habe schon angedeutet, daß sich die frühe Selbstidentifizierung mit der Gestalt und dem Schicksal Hölderlins allmählich zur Bewunderung seiner unvergleichbaren Kunst wandelte. Da aber der Stil eines Dichters auch sein Charakter ist, bleibt überhaupt das Übersetzen für mich eine Tätigkeit, die wie keine andere ein Eingehen in das Wesen fremder Dichter gewährt. Weder das Lesen noch die kritische Analyse eines Gedichts gewährt wie das Übersetzen eine innige Teilnahme an dem schöpferischen Prozeß, den der Übersetzer mit anderen Mitteln zu wiederholen versucht. Daß diese Wiederholung nur selten völlig gelingt, kann den Übersetzer so wenig abschrecken wie den Lyriker die Erkenntnis, daß nur ganz wenige seiner Gedichte genau dem entsprechen, was ihm jenseits der Sprache vorschwebte. Wenn wir ein Modell jenes noch nicht verwirklichten Gebildes hätten, würde manches als vollkommen geltende Gedicht im Vergleich damit ebenso provisorisch und unzureichend erscheinen wie die meisten Übersetzungen im Vergleich mit dem Original. Darum glaube ich behaupten zu dürfen, daß das Dichten selber mit dem Übersetzungstrieb viel intimer zusammenhängt, als man bis jetzt anerkannt hat: das Schreiben eines eigenen Gedichts ist nämlich unter anderem die Übersetzung in Worte von etwas, welches bis dahin nicht als Wortfolge bestand. Da der Übersetzer von Gedichten aber genötigt ist, hinter die Wortfolge zu dringen, also das fertige Gedicht gewissermaßen wieder aufzulösen, um dieses Etwas in seiner Sprache wiederzugeben, ist sein Wagnis mit jenem des Dichters ganz nah verwandt. Es mag um so sonderbarer anmuten, daß ich dennoch die sinn- und formgetreue Übersetzung der freien Nachdichtung vorziehe. Das ist aber kein kritisches Urteil, sondern nur eine persönliche Vorliebe. Dazu möchte ich nur noch bemerken, daß ich auch jene Originalgedichte vorziehe, die sich dem geheimnisvollen Etwas, aus dem ein Gedicht entsteht, so getreu wie möglich anfügen. Die meisten schwachen Gedichte sind zu freie Übersetzungen der noch nicht Sprache gewordenen Data ‒ etwa in die Sprache der Zeitungen, in die Sprache der Abhandlungen oder Predigten, oder auch in die Sprache schon bestehender Gedichte und poetischer Konventionen. Damit bin ich auch wieder bei Hölderlin angelangt, der jede Konvention seiner Zeit durchbrechen mußte, um in der reinen »Sprache des Herzens« zu reden. Diese »Sprache des Herzens« schließt auch das dichterische Denken ein, weil es vom Gefühl nicht zu trennen ist. Das bezeugte schon zweihundert Jahre vor Hölderlin der englische Dichter John Donne in den Worten:
»A naked thinking heart, that makes no show.«
Freilich bietet das Übersetzen von Gedichten auch außer der Schwierigkeit und dem Wagnis, die es mit dem unabhängigen Dichten gemein hat und die zu der Faszination beider Tätigkeiten gehören, spezifische, manchmal unlösbare Probleme. Trotzdem widerspricht meine Erfahrung der allgemeinen Annahme, daß die Lyrik nötigerweise und in jedem Falle weniger übersetzbar ist als andere dichterische Gattungen. So erwies sich bei der Herausgabe einer Auswahl aus Hugo von Hofmannsthals Werken in englischer Übertragung, daß seine Gedichte und lyrischen Dramen bei weitem übersetzbarer sind als seine in Prosa geschriebenen Lustspiele wie Der Schwierige, deren Sprache fast künstlicher ist als jene seiner Verse, zugleich aber auf ein bestimmtes soziales Milieu anspielt, dem kein gleichzeitiges englisches Milieu entspricht. Auch die erzählende Prosa Heinrich von Kleists läßt sich trotz ihres durchaus prosaischen Charakters kaum im Englischen wiedergeben, ist darum in England bis jetzt gründlicher mißverstanden worden als manche anspruchsvolle und eigenartige Gedichte von Rilke und neueren deutschen Dichtern.
Die Versuchung, jene vorherrschende Meinung einfach umzudrehen, also zu sagen, daß außer der dichterisch neutralen, charakterlosen Prosa nur die Poesie übersetzbar ist, weil einerseits nur die Poesie, andererseits nur die Mittelmäßigkeit eine universale Sprache spricht, ermahnt mich, daß es höchste Zeit ist, vom Allgemeinen zum Persönlichen zurückzukehren. Obwohl mir nun auch auffällt, daß die Darstellung meiner persönlichen Umstände und Beschäftigungen in den Kriegsjahren abbricht, möchte ich sie nicht weiterführen, sondern nur noch kurz erwähnen, daß ich während einer verhältnismäßig ruhigen Dienstzeit auf den Shetland-Inseln auch einen französischen Dichter, Baudelaire, übersetzte, aber bald darauf den Entschluß faßte, mich auf die deutsche Sprache zu spezialisieren und auch bei der Wiederaufnahme meines abgebrochenen Studiums in Oxford die Germanistik als Hauptfach zu wählen. Inzwischen war ich von den Shetland-Inseln nach Süditalien, dann allmählich nach Österreich versetzt worden und befand mich seit meiner Kindheit zum erstenmal wieder in einem deutschsprechenden Land. Nach meiner Rückkehr nach England übersetzte ich auch eine Auswahl aus den Briefen, Gesprächen und Aufzeichnungen Beethovens, der mich seit der frühen Jugend wie sonst nur Hölderlin gefesselt hatte und sogar an der Entstehung des zitierten Hölderlin-Monologs einen versteckten Anteil hatte. Im vergangenen Jahrzehnt kamen kritische Arbeiten hinzu, die sich meistenfalls aus der Übersetzungstätigkeit entwickelten oder gleichzeitig mit Übersetzungen entstanden ‒ so bei Hölderlin, Novalis, Kleist, Büchner, Hofmannsthal, Trakl, Benn und neueren Lyrikern.
*
Man hört sehr oft Klagen darüber, daß den Übersetzern zu wenig Anerkennung zuteil wird. Da ich nicht zu den Nachdichtern zähle, als Übersetzer mehr bemüht bin, die Eigenheit des Originalwerks zu vermitteln als ihm meine Eigenheit einzuprägen, hat es mich nie gewundert oder enttäuscht, wenn meine Arbeit wie manches Handwerk zu einem gewissen Grade anonym blieb. Daß manchmal auch das übersetzte Werk kaum beachtet wurde oder auf Mißverständnisse und Vorurteile stieß, liegt an komplizierten Verhältnissen, die nicht zu meinem heutigen Thema gehören. Auch mache ich mir keine Gedanken darüber, ob das Übersetzen als Kunst oder nur als Geschicklichkeit gewertet wird. Diesem Übersetzer genügt es, wenn er ‒ wie Hölderlin mit trefflicher Vieldeutigkeit vom Dichter sagt ‒ zu seinem Geschäft »schickliche Hände« bringt.
Freilich kann auch die Geschicklichkeit zur Gefahr werden, wenn sie zur Routine verführt. Daß er oft übersetzen kann, wenn die Stimmung zu eigenen Gedichten fehlt, ist ein ganz einzigartiges Glück für den Lyriker, der ja aus äußeren und inneren Gründen seinen Beruf nie ganz berufsmäßig ausüben kann. Doch gibt es auch Stimmungen, in denen er selbst auf das Übersetzen verzichten sollte, und Texte, die für ihn trotz aller Geschicklichkeit nicht in Frage kommen. Jede Kunst oder höhere Geschicklichkeit bringt die Erfahrung, daß sich die Stimmung oft bei der Arbeit einfindet, von der Arbeit erweckt wird; wenn aber nicht, hilft kein Vorsatz, kein Ehrgeiz und kein äußerer Anlaß.
Darum habe ich mich als Übersetzer wie als Lyriker vor größeren Unternehmungen gehütet. Die nun fast fünfundzwanzigjährige Arbeit an der Hölderlin-Übersetzung hat sich wie von selbst erweitert und wiederholt; trotzdem erstreckt sie sich noch immer nur auf die späteren Gedichte und Dramenfragmente. Die von mir beigetragenen Übersetzungen in der Anthologie Modern German Poetry 1910-1960 sind als einzelne Übersetzungen entstanden und erst später für die Anthologie gesammelt und ausgewählt worden. Andere meiner Übersetzungen sind nie gesammelt oder auch nie gedruckt worden. Überhaupt bekenne ich mich zu einem Element des Amateurhaften, welches hoffentlich mit der Geschicklichkeit vereinbar ist, wenn auch nicht mit einer außerordentlich hohen Produktivität. Das bedeutet aber keineswegs, daß ich weniger auf Muße angewiesen bin als der durch und durch berufsmäßige Übersetzer. Gerade weil es mir oft an Muße gemangelt hat, möchte ich nicht schließen, ohne der Akademie für ihre Förderung meiner Arbeit noch einmal herzlich zu danken.