Johann-Heinrich-Voß-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung würdigt seit 1958 ein übersetzerisches Lebenswerk oder herausragende Einzelleistungen.

Der Preis wird vom Land Hessen gestiftet und ist mit 20.000 Euro dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung der Akademie vergeben.

§ 2
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis berücksichtigt Übersetzungen aus allen literarischen Darstellungs­formen. Ausgezeichnet werden Übersetzungen in die deutsche Sprache. Die auszuzeichnende Übersetzung bewegt sich auf dem künstlerischen und sprachlichen Niveau des Ausgangstextes und stellt eine eigene sprachschöpferische Leistung dar.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden. Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Johann-Heinrich-Voß-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Das Land Hessen ist mit einem Vertreter bzw. einer Vertreterin beratend an der Entscheidung beteiligt. Die Bekanntgabe erfolgt über eine gemeinsame Pressemitteilung.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 2. November 2022

Manfred Fuhrmann

Klassischer Philologe
Geboren 23.6.1925
Gestorben 12.1.2005

... für seine Übersetzung sämtlicher Reden Ciceros, in der es ihm gelungen ist, die forensische Beredsamkeit deutscher Sprache, soweit diese in ihr entwickelt worden ist, in die Übertragung des lateinischen Textes einzubringen...

Jurymitglieder
Kommission: Hanno Helbling, Friedhelm Kemp, Lea Ritter-Santini, Michael Walter, Hans Wollschläger

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Rehabilitierung der Beredsamkeit und der Rhetorik

Johann Heinrich Voss war nicht mein Vorbild. Seine Art zu übersetzen suchte möglichst viel von den Originalen zu bewahren; sie bildete die Syntax, die Wortstellung und die Phraseologie des Griechischen oder Lateinischen ab und vertauschte nur das Vokabular. So entstanden Mischungen von Fremdem und Vertrautem, Zwischenwesen zwischen Einst und Jetzt, exakt so, wie es die Theorie Schleiermachers und Wilhelm von Humboldts verlangte. Vossens Übersetzungen trafen auf eine Leserschaft, die mit den alten Sprachen vertraut, die humanistisch gebildet war. Diese Leserschaft fand bei ihm die Originale wieder; sie konnte seine Übersetzungen benutzen, sich die Originale zu erarbeiten. Was Voss tat, entsprach den Erfordernissen seiner Zeit, ja des ganzen 19. Jahrhunderts; daher war er so erfolgreich.
Vossens Voraussetzungen haben heute keine Gültigkeit mehr. Nur wenige vermögen noch griechische oder lateinische Originale zu lesen; nur für sie sind noch Übersetzungen sinnvoll, deren widerborstige Sprachgestalt zu den Originalen hinführt, die sich aufzuheben scheinen, indem sie das Verständnis der Originale erleichtern. Für die Mehrzahl derer, die sich von antiker Literatur angezogen fühlen, vertritt heutzutage die Übersetzung die Stelle des Originals, wie es auch sonst bei Übersetzungen der Fall zu sein pflegt. Diesen Lesern sollte man kein Deutsch zumuten, das nach heutigen Maßstäben fremdartiger klingt, als das Griechisch oder Latein der Originale für das ursprüngliche Publikum geklungen hat. Hier hätte demnach die Maxime der Wirkungsäquivalenz zu gelten: heutige Übersetzungen antiker Literaturwerke sollten auf die Heutigen so wirken wie die Originale auf die Damaligen: sie sollten vertraut klingen, soweit die Originale für die ursprünglichen Adressaten vertraut klangen, und fremdartig nur in dem Maße, in dem sich der Autor des Originals von dem zu seiner Zeit Üblichen und Vertrauten entfernte.
Wer so verfährt, wer antike Texte nicht anders zu übersetzen sucht, als französische oder englische, spanische oder russische Texte seit jeher übersetzt zu werden pflegen − nach der Maxime der Wirkungsäquivalenz der könnte sich auf Vossens Vorgänger und Antipoden berufen, auf Christoph Martin Wieland: der ins Deutsche übersetzte Autor, so lautete die im 18. Jahrhundert verbreitete Formel, zu der sich auch Wieland bekannte, müsse zu seinen deutschen Lesern so sprechen, wie er gesprochen hätte, wenn er sich von Hause aus des Deutsch bedient hätte, und zwar des Deutsch, das dem Übersetzer und seinem Publikum geläufig ist.
Ich möchte mich gleichwohl nicht auf Wieland berufen: schon gar nicht auf seine Praxis, die ganz unerreichbar ist, aber auch nicht auf seine Grundsätze. Denn so radikal, wie diese Grundsätze es zu fordern scheinen, bin ich, glaube ich, bei meiner Übersetzung der Cicero-Reden nicht zu Werke gegangen. Ich habe mich zwar um ein Deutsch bemüht, das nicht das Original in der Weise durchschimmern läßt, wie bei einem dürftig übertünchten Fresko dessen Farben und Konturen durchschimmern. Doch ein zeitgenössisches Deutsch habe ich nicht angestrebt, hätte ich gar nicht anstreben können, ohne meinem Autor, dem Redner Cicero, in erheblichem Maße Abbruch zu tun. Denn wo gibt es heute noch im deutschen Sprachraum eine Kultur der öffentlichen Rede, die sich mit der des ciceronischen Zeitalters entfernt vergleichen ließe? Vielleicht gibt es sie bisweilen als herausragende Leistung einzelner, keinesfalls aber als allgemein erstrebter und vom Publikum anerkannter, ja geforderter Standard. So spricht denn mein deutscher Cicero eher wie ein Anwalt und Politiker des 19. Jahrhunderts, nicht wie ein heutiger; meine Wiedergabe wahrt Distanz zur Gegenwart, sie ist durch einen Schleier von ihr getrennt − nicht in der vossischen Manier der Übernahme von Syntagmen oder Phrasen des Originals, sondern durch ihren an die Prosa des 19. Jahrhunderts anknüpfenden Duktus.
Als ich vor nunmehr 25 Jahren das Unternehmen auszuführen begann, das mit seinen sieben Bänden wohl das umfänglichste meines Lebens bleiben wird, wußte ich nur wenig von der Theorie des Übersetzens und deren komplizierter Geschichte. Mich lockte der Gegenstand: Ciceros Reden, dieses Gemisch von brillantem Stil, spitzfindiger Argumentation und triumphalem Pathos, dieser politisch-ästhetische Zwitter, der ganz für den Augenblick gemacht schien und doch die Jahrtausende überdauert hatte. Und ich glaubte, hier eine Lücke entdeckt zu haben. Denn die öffentliche Rede, einst wohlangesehen im Kanon der literarischen Gattungen und durch eine ihr angemessene Theorie, die Rhetorik, geleitet und gezügelt, hatte die Schwelle des Subjektivismus, der Genieästhetik nicht zu überschreiten vermocht, d. h., sie existierte zwar weiter, ja sie wurde im Zeitalter der Beeinflussung und Verführung von Massen mächtiger und furchtbarer als je zuvor, aber sie war, vom literarischen Standpunkte aus betrachtet, sich selbst überlassen, sie schien ein Phänomen außerhalb aller Kunst zu sein. Diese Ansicht oder besser dieser Zustand spiegelte sich auch darin, daß von nahezu allen Literaturwerken der Antike gute, zumindest brauchbare Übersetzungen Vorlagen, nur von den Reden nicht, von den Reden weder eines Demosthenes noch eines Cicero.
So hoffte ich, durch eine nach Form und Inhalt zulängliche Verdeutschung der ciceronischen Reden zur Rehabilitierung der Beredsamkeit und der Rhetorik beitragen zu können − einer Beredsamkeit, die nicht der Propaganda und Demagogie diene, die vielmehr gerade in freiheitlich verfaßten Staatswesen ein unentbehrliches Instrument der politischen Entscheidungsfindung sei. In einem Punkte habe ich mich nicht getäuscht: Beredsamkeit und Rhetorik erfuhren während der beiden letzten Jahrzehnte zumindest im akademischen Bereich eine erhebliche Umwertung; sie wurden in demselben Maße höher geschätzt als zuvor, in dem das politisch-soziale Engagement wichtiger schien als das zweckfreie Spiel, als die bloße Form, als die Betrachtung des Ich − meine Bemühungen um Cicero, um die antike Rhetorik überhaupt nahmen also wie von selbst an einem Prozeß des Umdenkens und der Neubesinnung auf die Tradition der Rhetorik teil. Andererseits täuschte ich mich darin, daß ich gemeint hatte, ich könne mit meinen Cicero-Reden einen größeren Adressatenkreis erreichen. Der Gegenstand, situationsgebundene, gänzlich andere Verhältnisse spiegelnde Texte aus einer fernen Vergangenheit, ist eben doch zu schwierig; er setzt zu viel voraus; er stellt an den Leser allzu große Anforderungen, obwohl meine Übersetzung durch zusätzliche hermeneutische Maßnahmen, durch Aufbauanalysen und Sacherklärungen alle Hindernisse aus dem Wege zu räumen sucht, vor die sich ein heutiger Leser gestellt sieht − oder vielmehr: gerade weil sie das tut und hiermit bekundet, wie weit uns Heutigen auch die besten Erzeugnisse der antiken Beredsamkeit entrückt sind.
Es wird Zeit, daß ich ans Ziel dieser Darlegungen gelange, zum Dank für den Preis. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat sich − soviel haben meine Andeutungen wohl gezeigt − zu ihrer Wahl durch äußere Kriterien, etwa durch die Resonanz meiner Übersetzung, offensichtlich nicht einmal anregen lassen. Es muß also von Anfang an die Sache selbst gewesen sein, die sie zu ihrer Entscheidung brachte. Damit hat sie sich in meinen Augen zu meinem Komplizen gemacht: zum Komplizen meines Werbens für Beredsamkeit, für einen Stil politischer Debatten, der sowohl durch den Inhalt als auch durch die Form das Beste aus dem jeweiligen Gegenstand zu machen sucht. Hierfür danke ich der Akademie: sie hat durch ihre Entscheidung auf ein Unternehmen hingewiesen, dessen Ambitionen über die Fachwelt hinausgehen, das möglichst vielen durch ein herausragendes historisches Beispiel zu zeigen versucht, welche Tücken und Gefahren, welchen Glanz und welche Schönheit die öffentliche Rede zu enthalten vermag.
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat der Anerkennung, die sie mir zuteil werden ließ, auf zweierlei Weise Ausdruck verliehen: durch die heutige Feier und durch eine nicht unbeträchtliche Summe Geldes. Die Feier möchte ich für mich behalten, die Geldsumme jedoch an eine Stelle gelangen lassen, an der man ihrer in einem für uns Hiesige schwer vorstellbaren Maße bedarf. Die auf Mittel- und Osteuropa lastenden Folgen des Zweiten Weltkrieges waren für uns Außenstehende zumal deshalb so schmerzlich, weil wir kaum lindern durften. Die Ereignisse des Herbstes 1989 haben hier endlich Wandel geschaffen. Ich möchte heute diesem Wandel Rechnung tragen: dadurch, daß ich die Preissumme an ein Institut der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, zum Zwecke der Anschaffung dringend benötigter Bücher, weitergebe. Ich kenne nur wenige Menschen östlich des einstigen Eisernen Vorhangs. Einer von ihnen, der mir bis vor wenigen Monaten nicht einmal privatim einen Brief zukommen lassen durfte, ist hier anwesend: mein Kollege Ernst Günther Schmidt. Er, sein geduldiges Ausharren in einer grauen Zeit, deren Ende niemand absehen konnte, war für mich der Anlaß, den Betrag seinem Institut zugute kommen zu lassen.