Friedrich-Gundolf-Preis

The »Friedrich-Gundolf-Preis« has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964.
As a »Prize for German Scholarship Abroad«, for 25 years it was exclusively awarded to linguists and literary scholars at foreign universities.
However, the prize has also been awarded to persons outside of academia who are committed to imparting German culture and cultural dialog since the prize was renamed the »Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland« (Prize for the Imparting of German Culture Abroad) in 1990.
The Friedrich Gundolf Prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy. It has been endowed with €20,000 since 2013.

Oskar Seidlin

Germanist and Writer
Born 17/2/1911
Deceased 11/12/1984

... dem feinsinnigen Deuter deutscher Dichtung...

Jury members
Die Mitglieder der Kommission und des Erweiterten Präsidiums

Interpretation als eine moralische Veranstaltung betrachtet

Sehr verehrter Herr Präsident, hochgeschätzte Mitglieder der Akademie, meine Damen und Herren!
Leicht und schön ist die Aufgabe, die mir in dieser Stunde zufällt, und ungetrübt sollte ich mich ihrer erfreuen. Was könnte leichter und schöner sein als für eine Ehrung Dank zu sagen, die mir bestätigt, daß meine beruflichen Bemühungen Aufmerksamkeit, ja Billigung gefunden haben im Kreise derer, die durch ihr Wissen und ihre Leistung zu den Ausgezeichnetsten und Verehrtesten des deutschen Volkes gehören. Frohen Herzens also bin ich gekommen, Ihnen Dank zu sagen ‒ und doch auch wieder beklommenen Herzens. Denn sehr beunruhigt mich die Frage, ob mir denn im Entferntesten zukommt, was mir heute zufällt, ob ich mich in dem Schattenriß, den die Preisverleihungsurkunde von mir entwirft, wirklich erkennen darf. Besänftigen kann ich solche Beklommenheit nur dadurch, daß ich den Dank, den ich so gern und aufrichtig abstatte, damit verbinde, Rechenschaft abzulegen, Rechenschaft nicht über das, was ich erreicht habe und was mir ‒ als Erreichtem ‒ einen Anspruch auf ihre Billigung sichern könnte, sondern über das, was mir als Ziel vorschwebte, als die Aufgabe, die ich zu erfüllen hätte, damit Zustimmung und Anerkennung einigermaßen zu Recht bestünden. Sprechen also möchte ich über die Art, in der ich zu wiederholten Malen, wenn auch nicht ausschließlich, versucht habe, einen Zugang zur Dichtung zu finden und meinen Schülern einen solchen Zugang zu erschließen, über die Methode, die man die werkimmanente Interpretation zu nennen gewohnt ist, das Bemühen, ein literarisches Kunstwerk aus seinen eigenen Gegebenheiten zu deuten; aus Sprache, Form, Bildern, Rhythmus seinen Sinn und seine Sonderheit zu bestimmen, ohne sie abzulesen, ja gar zu erklären aus außerdichterischen Faktoren, dem Biographischen etwa, oder Beeinflussungen durch Fremdes, oder allgemein historischen, geistes- und sozialgeschichtlichen Zusammenhängen. Ich kann nicht erwarten, Sie werden nicht erwarten, daß ich zu den Argumenten und Gegenargumenten über die Berechtigung und Fruchtbarkeit dieser Methode etwas Neues beizutragen habe. Seit langem ist das Für und Wider erörtert und geklärt, die Vorzüge herausgestellt, die Gefahren bezeichnet, so kürzlich wieder von Horst Rüdiger in seiner eindringlichen Abhandlung »Zwischen Interpretation und Geistesgeschichte«(1); und selbst wer den theoretisch formulierten Ansprüchen der Interpretationstechnik mit Skepsis gegenübersteht, wird schwerlich ihre praktischen Triumphe, den unverlierbaren Gewinn etwa durch Emil Staigers »Kunst der Interpretation«, Wolfgang Kaysers »Das sprachliche Kunstwerk«, Fritz Martinis »Wagnis der Sprache« und manches sonstige in Abrede stellen können. Keine neuen Gesichtspunkte also, schon deshalb nicht, weil mein Blick nach rückwärts gewandt ist, wie es nicht anders sein kann, wenn man eine apologia pro vita sua vorlegt, wie es aber auch der heutige Stand der Literaturwissenschaft erheischt, die mit Recht den alleinseligmachenden Heilsanspruch der Interpretationsmethode abweist und die das, was an ihr fruchtbar ist, in umfassendere Anschauungsweisen hat einfließen lassen. Nicht mehr als ein kleines Rückzugsgefecht sei hier geführt; und wenn auch seine Strategie gar nichts Neuartiges zu bieten hat, so möchte die Waffe gern einige Aufmerksamkeit beanspruchen. Denn zeigen möchte ich, daß Interpretation geeignet und befähigt ist, Tugenden zu entwickeln und ins Spiel zu bringen, die, wenn zur Gewohnheit geworden, einen Lohn versprechen, der über das eigentliche Ziel der Methode, die Erhellung und das Verständnis eines vorliegenden dichterischen Textes, durchaus hinausreichen. Weswegen ich sie denn auch, nicht ganz ohne ironisch-parodistische Absicht, als eine moralische Veranstaltung vorführen möchte. Schon aber, ehe ich noch meine Rechenschaft begonnen, muß ich sie in Frage stellen. Von Tugenden sollte die Rede sein, denen die Interpretationsmethode Vorschub leisten könne. Ist dort aber Tugend, wo keine freie Entscheidung vorausgeht, wo der Standort bestimmt, daß man diesen Weg wählen mußte und keinen anderen? Mein Standort ist Amerika, das Land, das, als ich mich dort einlebte, den New Criticism zum A und O aller Bemühung um das Gedicht ausgerufen hatte, Konzentration auf »The Poem Itself«(2) (Das Gedicht Selbst), auf »The Verbal Icon«(3) (Die sprachliche Ikone) unter weitgehendem Verzicht auf die Erhellung, die biographisches, historisches, geistesgeschichtliches Wissen beizutragen vermöchte. So hätte ich denn nur, wenn ich mich zur werkimmanenten Interpretation bekannte, aus der Not eine Tugend gemacht? Die Not, die Notwendigkeit ist unbestreitbar. Mein Student, der amerikanische Student bringt die Voraussetzungen nicht mit, zum allerwenigsten, wenn er sich fremden, deutschen Spracherzeugnissen zuwendet, die es ihm ermöglichten, ein literarisches Produkt in seinem lebens-, kultur- und dichtungsgeschichtlichen Zusammenhang zu sehen. Hinzu kommt sein liebenswerter Zug zum Pragmatismus. Der Amerikaner will ins Auge fassen können, was man ihm demonstriert; Sprache und Satzbau, Zeilenführung und Form, Motiv, Metapher und Klangmodulation ‒ das läßt sich vorweisen und nachprüfen; Ableitungen aus übergreifenden Sinnbezügen, die von außerhalb dem konkreten Gegenstand zugebracht werden, wollen auf Treu und Glauben hingenommen sein, zu denen sich der Student drüben nicht gern versteht. Sein Anspruch an den Interpreten lautet: du mußt mir’s zeigen; und vollstes Verständnis hätte er für Goethes Diktum: »Um von Kunstwerken eigentlich und mit wahrem Nutzen zu sprechen, sollte es freilich nur in Gegenwart derselben geschehen(4).«
Ob es nun der Zwang der Lage gewesen ist, dem ich mich gebeugt oder ob wirklich in vollem Maße freier Entschluß, die Grundvoraussetzung, auf der die Arbeit und Leistung des New Criticism beruht, close reading, genaues Lesen, das ist und war sehr nach meinem Herzen. Und eine Tugend, eine moralische Veranstaltung, wird man solche Genauigkeit des Lesens füglich nennen dürfen. Sie nimmt zuerst einmal ernst, was eigentlich nie in Frage stehen sollte: daß nämlich ein sprachliches Kunstwerk ein Gebilde aus dem Material Sprache ist und daß, was immer es bedeuten mag, was immer sein Sinn, seine Absicht, ja vielleicht sogar sein bewußt verfolgter Zweck, sich nur durch das Medium der Sprache fassen läßt und durch die Art, wie dieses Medium gehandhabt wird. Man muß so weit nicht gehen, wie ein sehr beachtenswerter amerikanischer Dichter, wie Archibald McLeish, der apodiktisch erklärt hat: »A poem should not mean, but be« (ein Gedicht soll nicht bedeuten, es soll sein). Ich bin nicht geneigt, ihm einen solchen magistralen Anspruch, der mir ebenso selbstherrlich wie leer erscheint, abzunehmen. Aber eines ist doch unbestreitbar: was immer es bedeuten mag, kann sich nur aus seinem sprachlichen Da-Sein und So-Sein erschließen lassen, aus seiner Leibhaftigkeit, die es so genau wie möglich zu beobachten und beschreiben gilt. Daß es ein Körper ist, der uns, dem Betrachtenden, entgegensteht, und daß seine Glieder, von seiner bescheidensten Partikel, dem einzelnen Wort, bis zu seiner ganzen Gestalt, der umgreifenden Form, wahr aufgenommen werden muß, ehe es zu uns sprechen, mit uns vertraut werden kann ‒ das hat Schiller etwa klar erkannt, als er seine Mitpoeten über die spezifische Qualität und Funktionsart ihres Materials unterrichtete:

»Laß die Sprache dir sein, was der Körper den Liebenden. Er nur
Ist’s, der die Wesen trennt, und der die Wesen vereint.«

Wahrzunehmen, wie der Körper, der Sprachkörper, konstituiert ist, wie er sich verhält und bewegt, das hat einer unserer klügsten Dichtungstheoretiker als den eigentlichen Beruf des Kritikers bezeichnet: »Und doch kann man nur dann sagen, daß man ein Werk, einen Geist verstehe, wenn man den Gang und Gliederbau nachkonstruieren kann. Dieses gründliche Verstehen nun, welches, wenn es in bestimmten Worten ausgedrückt wird, Charakterisieren heißt, ist das eigentliche Geschäft und innere Wesen der Kritik.« So Friedrich Schlegel(5).
Genauigkeit des Lesens, Genauigkeit der Beschreibung sind verlangt. Wir sind angehalten, den Wert des Wortes zu ergründen und zu beobachten, wie es in seinem Zusammenspiel mit anderen Worten steht, nicht nur seinen Sinn- und Zeichenwert, sondern ebenso sehr seine Setzung im Satz und dessen Setzung im Gesamt der Sätze, seine Klangsubstanz, sein rhythmisches Gefälle, sein spezifisches Gewicht, seine Mittöne, seine assoziative Aura. Für solche Ermittlung hat die werkimmanente Interpretation ein ganzes Laboratorium von Präzisionsinstrumenten ausgerüstet: die Handhabung von Schlüsselworten und charakteristischen Wendungen, Leitbildern und Metaphern, Lautkonfigurationen und Symbolchiffren, syntaktischen und grammatischen Formen, Balancen und Gegenbalancen, aus denen der Sinn des Ganzen abzulesen ist. Man ist heute schon wieder geneigt, dieses beharrliche Abhören und Beklopfen des sprachlichen Duktus zu belächeln und als Haarspaltereien zu verschreien, was doch den Türspalt öffnet, der ins Kunstwerk führt. Aber mag auch diese Präzision wie eine jede der Präziosität gefährlich benachbart sein, wer könnte leugnen, daß sprachliche Führung, Tonlage und Bildkraft Sinn und Bedeutung eines Werkes in sich tragen und, wenn erhellt, freigeben? Die pathetische Sprachgeste Schillers ist nicht stilistische Zier ‒ oder Unzier sondern der Tonfall des peremptorischen Freiheitsdranges, und die religiös-metaphysischen Konflikte, die das Drama von Kabale und Liebe konstituieren, werden Gestalt in dem Nebeneinander und Aufeinanderprall der unterscheidbaren und sich überschneidenden Sprachebenen.
Aus dieser Kardinaltugend der Genauigkeit fließen andere, die zu pflegen die Interpretationsmethode uns auferlegt. Geduld ist eine von ihnen, die Einsicht, es werde der Gegenstand sein Wesen und seine Natur nicht dem schnellen Griff preisgeben, sondern nur der sorgfältigen Erforschung jedes sprachlichen Details, jeder stilistischen Figur und schließlich des Prozesses, in dem sich die Einzelaspekte zu einem Gesamt fügen. Es sollte sich von selbst verstehen, daß, entgegen der Behauptung, die man gern ins Feld führt, eine solche Annäherung an das Gedicht uns von übergreifendem, über den einmaligen Gegenstand hinausgehenden Wissen nicht nur nicht entbindet, sondern uns entschieden dazu verpflichtet. Wir können nicht genau lesen, wenn uns ‒ und das ist die primitivste Verständnisebene ‒ die Bedeutungsnuance eines Wortes verschlossen bleibt, und jedem muß es einleuchten, daß wir sie nicht erspüren können, solange wir im Unklaren darüber sind, welchen Sinnraum ein gegebenes Wort in einer bestimmten Zeit, ja vielleicht in dem Vokabular des Dichters, um den wir uns bemühen, absteckt und füllt. Aber Geduld wird uns lehren, diesen Sinnträger nicht voreilig in Zusammenhänge zu rücken, in die er nicht gehört, sondern aus dem Text zu erschließen, ob ein Wort, das uns als gängige Münze vertraut und aller Befragung überhoben scheint, hier, an dieser Stelle, wirklich bedeutet, was wir ihm ungeduldigen Sinnes und verführt durch werkfremde Kombinationen imputieren. Lassen Sie mich ein Beispiel geben! Weniger als ein halbes Jahrzehnt ist es her, da wurde der Wortschatz eines deutschen Philosophen, eines umstrittenen deutschen Philosophen, einer kritischen Prüfung unterworfen und als Jargon entlarvt, als gefährlicher und finsterer Jargon, und zwar dadurch, daß man ihn, anstatt seinen eigenen Ausdruckswert zu prüfen, in die kompromittierende Nähe von Aussagen rückte, in denen kultur- und menschenfeindlicher Ungeist sich ausgesprochen hatte. Kürzlich ist das Gefährliche eines solchen Unternehmens aufgezeigt worden, erfreulicherweise von einem Zunftgenossen, einem Literaturwissenschaftler, meinem Bonner Kollegen Beda Allemann, und da er als Heilmittel gegen solch ungeduldige Bedeutungsklitterung die moralische Veranstaltung aufruft, von der wir hier sprechen, möchte ich ihn gern wörtlich zitieren: »Die Frage ist immerhin, ob ein Verfahren, das sich anschickt, aus einem umfassenderen sprachgeschichtlichen Horizont Sprachkritik an einem einzelnen Werkganzen zu üben, sich nicht selber Schaden zufügt, wenn es die Stufe der immanenten Werkinterpretation zu überspringen sucht. Es mag diese Stufe als noch so vorläufig und an sich unzulänglich ansehen: wenn es sich über sie einfach hinwegsetzt, verfällt es der Gefahr, von vornherein an der Sache, um die es geht, vorbeizusprechen(6).« Das ist ganz in dem von uns propagierten Sinne vorsichtig und geduldig formuliert ‒ aber ist es wirklich eine Frage, daß hier Unzulässiges geschehen ist? So unzulässig wie die diktatorischste Geste der Ungeduld in jüngster Vergangenheit, mit der deutscher Dichtung überhaupt jede Zukunftsmöglichkeit abgesprochen wurde, weil die Sprache durch ihre Erniedrigung zum Werkzeug des Unmenschen so in ihrer Wurzel befleckt und vergiftet sei, daß sie in keinen neuen, eigenen, reinen Zusammenhang mehr treten könne.
Das mag so exzessiv sein, daß es sich selbst ad absurdum führen sollte. Es entspringt, neben der Ungeduld, einem Mangel an Respekt, jenem Respekt, den die Interpretationsmethode dem einmaligen sprachlichen Kunstwerk und seinem Dichter erweist, indem sie darauf beharrt, daß der wahre Sinn in dem Gedicht beschlossen sei und nicht von außen erst herangetragen werden müsse ‒ Respekt vor allem in der Überzeugung, daß, so wenig wie das entscheidende Stichwort von außen dazutreten müsse, so wenig von innen, von dem als Kosmos Vorliegenden, abgezogen, entwertet, ausgeklammert werden dürfe. Wenn das Gebilde als Ganzes einen Sinn hat, dann muß, als heuristischer Anspruch wenigstens, gelten, daß es keinen Teiles beraubt werden könne dadurch, daß man ihn für ungültig oder sinnlos erklärt. Worum es geht ist dies: daß man sich voreilig das Verständnis abschneidet, wenn man Schwierigkeiten, Züge und Einzelheiten, die nicht zu »passen« scheinen, unter den Tisch fallen läßt oder sie aus dem Werk hinwegeskamotiert durch die Abschiebung auf werkfremde Ebenen, deren werkfremdeste die sprichwörtlich physiologische ist: die Erklärung nämlich, es habe Homer offenkundig wieder einmal geschlafen. Nun will ich nicht in Abrede stellen, daß diesem menschlichen Bedürfnis auch der Dichter, selbst der größte, untertan ist. Aber der Respekt ‒ und er ist doch wohl eine Tugend ‒ sollte uns verbieten, für Unvermögen des Schöpfers und Fehler in der Schöpfung auszugeben, was sehr wohl das Unvermögen des Aufnehmenden sein mag. Dem Goetheschen Gedicht »Auf dem See« kann man, wenn man acht- und achtungslos ist, von allem Anfang an seine geschlossene Kontur, seine integrale Einheit absprechen, weil wir ja wissen, daß seine Teile sich unter verschiedenem Datum als spontane Eintragungen in des Dichters Tagebuch finden. Aber wer so handelte, würde nie die innere Spannung wahrnehmen, die durch Blickrichtung, Versmaß und Rhythmus gerade die unverwechselbare Form und Aussagekraft dieses poetischen Gebildes verbürgt. Man kann ‒ und es ist geschehen ‒ eine Szene im »Tasso«, die auf den ersten Blick störend und befremdend wirkt, weil Antonio in einem Licht erscheint, das sein charakterliches Profil zu verwischen geeignet ist, aus dem Drama ausklammern mit dem Hinweis darauf, daß offenkundig eine Antonio-Konzeption, die dem Ur-Tasso angehörte, sich aus Versehen in die endgültige Fassung eingeschlichen hat ‒ bis ein zweiter, ein schärferer Blick uns belehrt, daß die Szene genau an der richtigen Stelle steht und für den inneren wie äußeren Verlauf der dramatischen Handlung unerläßlich ist. Nicht umsonst habe ich aus der Fülle von Möglichkeiten diese beiden Fälle herausgegriffen ‒ in Erinnerung an einen mir sehr nahestehenden Germanisten im Ausland, den zu nennen es mich drängt bei einem Anlaß, der mir solch hohe Ehrung zuteil werden läßt, an meinen viel zu früh verstorbenen Freund und Schüler Sigurd Burckhardt, der, achtungsvoll und beobachtungsreich, an diesen Beispielen(7) wie an zahlreichen anderen dargetan hat, daß gerade eine scheinbare Unstimmigkeit, ein Widerspruch, der die einheitliche Linie des Kunstwerks zu zerreißen scheint, den Weg zu vollerem Verstehen öffnet.
Niemand wird solchen Verhaltensweisen, die die Textinterpretation verlangt und fördert, ihren moralischen Charakter absprechen wollen. Aber dem Haupteinwand gegen die Methode ist damit nicht begegnet, nicht zurückgewiesen der Vorwurf, daß solche Konzentration auf das Einzelphänomen die Fäden zerschneide, die das Werk an geschichtliche Abläufe knüpfe, es herausnehme aus dem Lebenszusammenhang dessen, der es geschaffen, aus dem Zusammenhang geistiger, politischer, ja ideologischer Faktoren, aus denen die Dichtung erwachsen sei und die sie spiegele. Gefördert werde, so wird versichert, eine Atomisierung, die alle geschichtlichen Bindungen und Verbindungen sprenge, ein ahistorisches, ja antihistorisches Denken und Betrachten, das Dichtung in einen luft- und lebensleeren Raum entrückt, entfremdet dem für und durch eine Zeit gegebenen geistigen Kräftespiel, an dem sie doch teilhat als Produkt dieses Dichters und dieses historischen Moments. Die Gefahr sei nicht geleugnet und nicht beschönigt. Aber sie läßt sich vermeiden. In ihren geglücktesten Beispielen hat die Interpretationsmethode sie vermieden, und es scheint mir nur billig, ihre Möglichkeiten ‒ wie die jeder anderen Methode ‒ an ihren Spitzenleistungen zu bemessen und nicht an ihren Fehlschlägen. So etwa gelingt es dem erwähnten Buch von Fritz Martini, einer Sammlung von zwölf Einzelinterpretationen, angefangen bei Nietzsche und endend mit Gottfried Benn, charakteristische dichterische Ausdrucksformen und die Kurve ihrer Wandlungen zu entwerfen, Wandlungen, an denen sowohl geistesgeschichtliche wie soziologische Bewegungen und die durch sie bedingten Bewußtseinsstrukturen abgelesen werden können. So auch hat Wolf gang Kayser durch minutiös genaues Lesen individueller Dichtwerke die Mutationen literarischer Gestaltungsweisen freigelegt, ohne daß die Einzelstücke zu exempla entwertet werden, an denen sich Außerdichterisches demonstrieren ließe.
Kaum stichhaltig ist der Einwand, daß solche Ergebnisse, solche historische und weltanschauliche Erkenntnisse, sich nur dann ergeben, wenn eine ‒ möglichst chronologisch angeordnete ‒ Reihenfolge von individuellen Stücken zur Grundlage interpretatorischer Bemühungen gemacht werde. Zahllos sind die Beispiele, die uns eines anderen belehren. Emil Staigers klassische Deutung von Mörikes »Auf eine Lampe«(8) erhellt, gestützt freilich auf umfassendstes Wissen, das sich zur Vergleichung und Abgrenzung nutzbar machen läßt, überzeugender als manche weitschweifig historische Beweisführung die prekäre Seelenlage eines Erben und Nachgeborenen, eine spätzeitliche Kunstauffassung, die sich mühsam und in schmerzlicher Resignation gerade noch festhalten kann an einem einst gesicherten Schönheitskanon ‒ und dies durch die subtilste Exegese der in dem poetischen Gebilde beschlossenen Figuren und Sprachwendungen, ja bloßer Wortkombinationen wie die das Gedicht eröffnende »noch unverrückt« und die dann folgende Ortsangabe »des nun fast vergessenen Lustgemachs«. Aus jüngster Zeit möchte ich ein ebenso eindringliches und überzeugendes Beispiel erwähnen: Albrecht Schönes Untersuchung »Über den Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil«(9), der es gelingt, ausgehend von einem pur grammatischen Modus und ihm alle innewohnenden Ausdrucksfunktionen abfragend, den geistigen Umriß eines großen Erzählers zu entwerfen, ja mehr noch, den einer ganzen Epoche, die, aller Sicherheiten und festen Orientierungspunkte beraubt, sich besonders gern im Irrealis, in der Aussageform tastender Möglichkeit und relativierender Konditionalität vernehmen läßt.
Nein, die werkimmanente Interpretation entrückt das dichterische Werk nicht notwendigerweise in einen luftleeren, lebensdürftigen Raum. Aber sie hält an zur Bescheidenheit und warnt den Betrachter davor, das Gedicht und seine Bemühung um das Gedicht zu überfordern. Emil Staiger, der nicht unser bewunderter Meister wäre, wenn er nicht das, was er selbst so beispielhaft handhabt, gelegentlich provokatorisch in Frage stellte, hat in der eben erwähnten Mörike-Analyse eine Forderung, deren Unerfüllbarkeit er freilich selbst zugibt, vor dem Literaturwissenschaftler auf gerichtet: »Eigentlich«, so sagt er, »sollten wir jede Dichtung im ganzen der Menschheitsgeschichte betrachten«(10). Ein kühner Aus- und Anspruch ‒ aber sollten wir wirklich? Wer, selbst wenn es wünschenswert wäre, dürfte sich dann noch qualifiziert fühlen? Und ist es wirklich wünschenswert? Wäre einem Gedicht wie »Über allen Gipfeln ist Ruh« damit gedient, daß wir es in so universalen Zusammenhang einfügen? Dem ‒ um mit Friedrich Schlegel zu sprechen ‒ Gang und Gliederbau dieses achtzeiligen Sprachwunders nachzuspüren, der Modulation seiner Lautstruktur, bis es dann mit seiner letzten Zeile »Ruhest du auch« in dem dunklen Klangregister sein Ziel findet, aufzunehmen die Besänftigung der Konsonanten, die der Reim »Walde : balde« bewirkt ‒ dafür sollten wir uns entscheiden, damit sollten wir uns vorerst einmal bescheiden, ehe wir das Gedicht in dem Ozean der Menschheitsgeschichte versinken lassen.
Wie leicht es in diesem Ozean versinken kann ‒ wir wissen es nur zu gut. Ungerecht wäre es, die bedeutenden Leistungen und Einsichten zu verkennen, die wir der geistesgeschichtlichen Literaturbetrachtung verdanken. Aber die Jünger der Werkinterpretation haben mit Recht daran erinnert, daß ein dichterisches Gebilde mehr und anderes ist als ein Dokument, das sich dadurch ausschöpfen läßt, daß man es zum Träger weltanschaulicher, philosophischer und zeitgeschichtlicher Probleme reduziert. Wenn nichts anderes, so sollte Bescheidenheit uns verbieten, es als Rädchen nur in die Maschinerie eines großen historischen Entwurfes einzubauen, der in systematischer Geschlossenheit seine Ansprüche an das Werk stellt und darauf pocht, daß es solche Ansprüche erfülle. Es wäre heilsam, wenn man sich bescheidentlich daran erinnerte ‒ auch wenn man sich so radikaler Erkenntnisskepsis nicht ganz verschreiben mag, wie sehr und oft das, was man den Geist der Zeiten heißt, nichts anderes ist als der Herren eigener Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln. Dann wird man sich ‒ ein Beispiel nur sei genannt; um der Gerechtigkeit willen ein Beispiel aus einem Meisterwerk seiner Gattung ‒ vor der Mißdeutung bewahren, der in Korffs »Geist der Goethezeit« das Epos von Hermann und Dorothea verfällt, verfallen muß, weil die große geistesgeschichtliche Konzeption ihm abverlangt, es müsse Zeugnis ablegen für das ungetrübte »Idealbild deutscher Bürgerlichkeit«, für einen gegen alle Zweifel und Erschütterungen gefeiten Ordnungssinn, der so gefestigt und selbstverständlich ist, daß Hermann etwa nie daran denke, »sich das Weib seiner Wahl gegen die Familie zu ertrotzen«(11), so als gäbe es nicht jenes entscheidende Gespräch zwischen Mutter und Sohn unter dem Birnbaum, in dessen Verlauf Hermann eindeutig damit droht, das Elternhaus für immer zu verlassen, wenn ihm Dorothea unbedingt verweigert wird.
Schlimmer noch die Verrenkungen, die der Dichter und sein Werk von einer betont ideologischen Geschichtskonstruktion erleidet, die, auf du und du mit dem vom Kopf auf die Füße gestülpten Weltgeist stehend, in den menschlichen und schöpferischen Problemen eines großen Dichters nicht anders sehen mag als Sedimente von Bewußtseinslagen, die sich durch die materiellen Gegebenheiten der sozial-ökonomischen Gesellschaftsstruktur erklären lassen. So lesen wir bei einem Säulenheiligen marxistischer Literaturdeutung über Heinrich von Kleist: »Das Umschlagen seiner Hoffnungen in radikale Verzweiflung ändert nichts an der borniert religiösen Grundlage seiner fundamentalen Fragestellung. Gerade diese Art der geistigen Krise hat Kleist in der neueren Zeit, wo das weltanschauliche Niveau des Bürgertums seinen tiefsten Niedergang erreicht, so populär gemacht; gerade in dieser Periode erscheinen solche subjektiv echt empfundenen aber objektiv kindischen Krisen als etwas besonders ›Tiefes‹«; und kurz vorher haben wir uns sagen lassen müssen: »Das Kleistsche Grunderlebnis der Einsamkeit ist freilich an sich der Haltung des Menschen zur Gesellschaft im Kapitalismus entsprungen«(12), so als hätten andere menschliche Vergesellschaftungen ein solches Grunderlebnis nie aufkommen lassen. Ob derartige Einbettungen in eine apodiktisch behauptete und politisch diktierte Geschichtskonstruktion einen Erkenntniswert haben, scheint mir zweifelhaft. Unbezweifelbar aber ist, daß sie von Hochmut und Werkfremdheit zeugen.
Genauigkeit ‒ Geduld ‒ Respekt ‒ Bescheidenheit: es sind ernsthafte und ernste Tugenden, denen ich jetzt, da ich zum Ende komme, eine letzte, eine heitere, zugesellen möchte. Es ist die durch die Werkinterpretation geweckte Freude an der Stimmigkeit in der Gesamtorganisation der dichterischen Gestalt, an der schönen Korrespondenz von Sinngehalt mit sprachlicher Prägung und struktureller Ordnung. Es bereitet Genugtuung und Vergnügen, zu entdecken, daß in dem hohen Lied »der Wahrheit und der Menschlichkeit«, in Goethes »Iphigenie«, nahezu genau in der mathematischen Mitte des Dramas der Anruf ertönt: »Zwischen uns sei Wahrheit!«, herausgehoben durch eine metrische »Störung«, die Preisgabe der fünffüßig jambischen Zeile, so als wolle der Dichter uns einen Fingerzeig geben, daß hier im Zentrum das Zentrum zu finden sei, um das der ganze Kosmos seines Gedichtes kreise, das Wort: Wahrheit. Freudig ist der Schreck der Erkenntnis, wenn man Hermann als Verlöbnisformel zu Dorothea sprechen hört: »Du bist mein, und jetzt ist das Meine meiner als jemals« und sich der Kühnheit bewußt wird, die in der komparativen Form des besitzanzeigenden Fürworts liegt und ihr abzulesen vermag, daß Habe nicht das ist, was man als Überkommenes hat und bewahrt, sondern das, was über sich hinausstößt in seine eigene Steigerung. Es ist schön zu entdecken, daß in Eichendorffs Gedicht von den zwei Gesellen, von dem einen, der sich behaglich im Philiströsen einrichtet und dem ändern, der sich in allen Zaubern der Verführung verliert, die Syntax uns ebensoviel erzählt wie die Gedichtsaussage selbst: die spießige Regelmäßigkeit des ersten, die sich brav und bieder von Subjekt zu Verb, von Verb zu Objekt bewegt, während der Satz, der von dem zweiten berichtet, uns in einen syntaktischen Wirbel reißt, voller umgestellter Satzglieder, zerrissener Wortfolgen, Einschübe, die sich wie Klippen in den Sprachstrom keilen. Und Krönung des Vergnügens: daß in die Strophe des ersten, des behaglich im Heimischen und Häuslichen Sitzenden, ein unsauberer Reim sich einschleicht, ein provinzieller, ein schlesischer Reim, zugehörig dem Sprachraum, wo der Dichter selbst daheim und häuslich geborgen war.
Sind es Spielereien, die uns solche Freuden gewähren? Aber wenn sie es sind, so sind sie vielleicht doch nicht ganz unangemessen in ihrer Anwendung auf eine menschliche Tätigkeit, die nicht zuletzt ein hohes Spiel ist, dies wohl eher als das Aushängen gedanklich programmatischer und philosophischer Spruchbänder, ernste Scherze, als die häufig genug selbst die Größten ihr Werk erkannt haben. Unter die moralischen Veranstaltungen, die die Interpretation befördert, darf solches Vergnügen jedenfalls zu rechnen sein. Mir ist es oft, wenn ich mir ein Dichtwerk zu erschließen suchte, zuteil geworden, und diese Freude war sich selbst Gewinns genug. Daß Sie, meine Damen und Herren, jetzt noch ein Übriges tun und mich für meinen Umgang mit Dichtung, der mir mein Leben reich gemacht hat, lohnen und ehren, das ist ein ganz unverdientes Glück. So auch konnte ich es mir nicht nehmen lassen, heute von weither zu Ihnen zu kommen, um Ihnen dafür meinen herzlichen und großen Dank zu sagen.

1) Jetzt in: Karl Otto Conradi (Hg.), Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft (Rowohlts deutsche Enzyklopädie 252/253, 1966)
2) S. Burnshaw (Hg.), The Poem Itself (New York, 1960)
3) William K. Wimsatt, The Verbal Icon (Lexington, Ky., 1954)
4) Werke (Hamburger Ausgabe, 1958), XII, S. 51 f.
5) Friedrich Schlegel, Schriften und Fragmente, hg. v. Ernst Behler (Stuttgart, 1956), S. 54
6) Beda Allemann, Martin Heidegger und die Politik, in: Merkur Nr. 235 (Okt. 1967), S. 976
7) Sigurd Burckhardt, The Metaphoric Structure of Goethe’s »Auf dem See«, in: Germanic Review XXXI (1956), S. 35 ff., und The Consistency of Goethe’s »Tasso«, in: Journal of English and Germanic Philology LVII (1958), S. 394 ff.
8) Emil Staiger, Die Kunst der Interpretation (Zürich, 1961), S. 17 ff.
9) Jetzt in: Jost Schillemeit (Hg.), Interpretationen 3 (Fischer Bücherei Nr. 716, 1966), S. 290 ff.
10) Staiger, a. a. O., S. 29
11) August Wilhelm Korff, Geist der Goethezeit II (Leipzig, 1927), S. 368
12) Georg Lukács, Deutsche Realisten des neunzehnten Jahrhunderts (Bern, 1951), S. 25 und 22