The »Friedrich-Gundolf-Preis« has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964.
As a »Prize for German Scholarship Abroad«, for 25 years it was exclusively awarded to linguists and literary scholars at foreign universities.
However, the prize has also been awarded to persons outside of academia who are committed to imparting German culture and cultural dialog since the prize was renamed the »Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland« (Prize for the Imparting of German Culture Abroad) in 1990.
The Friedrich Gundolf Prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy. It has been endowed with €20,000 since 2013.
Translator and Germanist
Born 12/10/1949
... dem Germanisten und Übersetzer, der seit vielen Jahren durch seine feinsinnigen Übertragungen und kenntnisreichen Erläuterungen entscheidend zur Wahrnehmung der deutschsprachigen Literatur in Estland beiträgt...
Jury members
Kommission: Irène Heidelberger-Leonard, Michael Krüger, Per Øhrgaard, Ilma Rakusa, Miguel Saenz, Joachim Sartorius, Leszek Żyliński
Mitglieder des Erweiterten Präsidiums
Laudatory Address by Gisbert Jänicke
Translator, born 1937
Liebe Anwesende, lieber Mati Sirkel,
der estnische Übersetzer Mati Sirkel wird hier in Tartu, der Stadt, die etwas älteren Generationen noch als Dorpat geläufig ist, heute den Friedrich-Gundolf-Preis erhalten. Lassen Sie mich meine Laudatio auf Mati Sirkel mit einem Goethe-Zitat einleiten, mit dem jener Friedrich Gundolf die Rede beschließen wollte, die er – er starb ein halbes Jahr zuvor – anlässlich des 100. Todestages von Johann Wolfgang Goethe im März 1932 an der Pariser Universität nicht mehr halten konnte:
»Das Werdende, das ewig wirkt und lebt,
Umfass euch mit der Liebe holden Schranken,
Und was in schwankender Erscheinung schwebt,
Befestiget mit dauernden Gedanken.«
Als mich die Anfrage erreichte, ob ich mir vorstellen könne, bei dieser Gelegenheit die Laudatio auf Mati Sirkel zu halten, war meine erste Reaktion: Warum gerade ich? Ich bin in solchen Dingen doch nicht bewandert und auch sonst nicht gerade wortgewandt! Dann aber sagte ich mir: Warum eigentlich nicht? Schließlich kenne ich Mati Sirkel lange genug und weiß im großen und ganzen, was er geleistet hat – die Details, die mein Bild von ihm abrunden würden, könnte ich ja noch ausfindig machen.
Ich sagte also ja. Zu diesem Entschluss trug aber auch noch ein anderer Umstand bei. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung vergibt heute zwei Preise, die nach zwei großen Persönlichkeiten der deutschen Literatur- und Geistesgeschichte benannt sind: dem Dichter und durch seine Übertragungen antiker Autoren berühmt gewordenen Übersetzer Johann Heinrich Voß (1751–1826) und dem Dichter und Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf (1880–1931). Beide, Voß und Gundolf, sind – wie so viele andere große Persönlichkeiten aus Kunst, Wissenschaft und Politik – auf einem der schönsten Friedhöfe Deutschlands, dem Bergfriedhof zu Heidelberg, beigesetzt. Auf diesem Friedhof habe ich zehn entscheidende Jahre meiner Kindheit und frühen Jugend verbracht – mein Vater war damals Verwalter der Heidelberger Friedhöfe, und die Dienstwohnung, die wir bewohnten, war mitten auf dem Bergfriedhof gelegen, auf dem wir Kinder herumstrolchten und spielten, bis wir in der harten Wirklichkeit der Nachkriegsjahre dann das Spielen verlernten.
Ich erinnere mich noch an manche der oft sehr alten Grabsteine. Auch den von Johann Heinrich Voß mit seiner schönen, die ganze Vorderfront überziehenden Kalligraphie meine ich in Erinnerung zu haben – wenigstens kam er mir bekannt vor, als ich neulich sein Bild sah. Ein besonderer, durch einen schmiedeeisernen Zaun abgetrennter Teil des Friedhofs ist den Verstorbenen jüdischen Glaubens vorbehalten – in seinem Torhäuschen saß bis Kriegsende, so will ich mich erinnern, der alte Friedhofswärter Isaak, der uns Kindern zuweilen hebräische Gebetbücher schenkte, mit deren seltsamen Buchstaben wir zwar nichts anfangen konnten, die mich aber von Anfang an faszinierten. Vielleicht war es die Erinnerung an diese Bücher, die mich in späten Jahren Jiddisch lernen ließ, das ja mit denselben Buchstaben geschrieben wird. Erst viel später kam mir zum Bewusstsein, dass der alte Isaak die heiligen Bücher weggab, weil ja kaum noch jemand da war, der sie hätte benutzen können. Das Grab Friedrich Gundolfs liegt nicht auf diesem jüdischen Teil des Bergfriedhofs, sondern auf dem, den man damals den »arischen« nannte.
Im Mai 1982 – ich lebte seit 1957 in Finnland – unternahm der finnische Übersetzerverband eine Freundschaftsreise zu seinen estnischen Kollegen. Es ergab sich mehr oder weniger von selbst, dass die finnischen und estnischen Übersetzer, die mit denselben Sprachen zu tun hatten, zueinanderfanden. Dort lernten wir Mati Sirkel kennen. Mati lud uns ein, am Abend in seine Wohnung zu kommen – uns: das waren zwei Finninnen, die aus dem Deutschen übersetzten, und ich, der aus dem Finnischen und Schwedischen ins Deutsche übersetzte. Er gab uns die Adresse, aber leitete uns nicht selbst hin, zeigte sich überhaupt nicht mit uns auf der Straße. Wir klingelten an einem an die mittelalterliche Stadtmauer angeklebten zweistöckigen Haus, das seit Jahrzehnten nicht mehr renoviert worden war und nur darauf zu warten schien, dass es endgültig zusammenbrach. Wir stiegen eine schmale, karg beleuchtete Treppe ins Obergeschoss hinauf und betraten einen jahrelang durch Tabakrauch imprägnierten Raum, dessen Mittelpunkt ein riesiger Schreibtisch und ein Sessel bildeten. Alle Wände waren, mit Ausnahme zweier Türen und zweier kleiner Fenster, durch die man auf die Gasse hinaussehen konnte, vom Boden bis zur Decke mit Büchern bedeckt. Wir haben ähnliche Bücherwände später auch in anderen estnischen Wohnungen gesehen, Matis Wohnung aber schlug alle Rekorde, er hatte sich sage und schreibe mit Büchern eingemauert. In der Sowjetunion waren Bücher billig, und die Esten kauften alles, was in ihrer Sprache publiziert wurde. Außerdem, so sagte man uns damals, seien in Estland Bücher die »billigste Tapete«, besonders für Wohnungen mit dünnen Wänden.
Unser Gespräch an jenem Abend drehte sich natürlich in erster Linie um Literatur – wer was übersetzte und so weiter. Schon damals fielen mir Matis profunde Kenntnisse der deutschen Literatur auf, nicht nur der Klassiker, sondern auch der Gegenwartsliteratur, insbesondere der westdeutschen, die in der Sowjetunion ja keineswegs leicht zu bekommen war. Er hatte damals erst wenig publiziert, den Anfang hatte 1973 Hermann Hesses Steppenwolf gemacht, hinzu kamen Franz Fühmanns Nibelungenlied und zwei Kurzromane von Peter Handke, außerdem war er an einer Georg-Büchner-Auswahl beteiligt gewesen. Als ich ihn fünf Jahre später wiedertraf, war die Liste seiner Übersetzungen schon wesentlich länger geworden – Böll, Kafka, Kleist, ein weiterer Hesse waren dazugekommen, ein Schauspiel von Thomas Bernhard. Als an jenem Abend die Rede auch auf finnische und schwedische Autoren kam, las uns Mati zu unserer Überraschung ein paar Übersetzungen aus dem Schwedischen vor, mit denen er gerade beschäftigt war, aus Fredmans Episteln des Rokokodichters Carl Michael Bellman. Der schier unübersetzbare Bellman – jedenfalls hatte ich bis dahin keine Übersetzung in irgendeiner Sprache gesehen, die dem genialen Dichter auch nur einigermaßen gerecht geworden wäre, denn Bellmans Texte sind Sprache und Musik in einem – klang plötzlich, auch ungesungen, fast wie Bellman eben klingt. Gewiss hatte auch das schmiegsame, wohlklingende Estnische seinen Anteil an diesem Faktum.
Im Jahre 1987 – ich war gerade 50 geworden – fragte mich jemand, was ich denn den Rest meines Lebens machen wolle. Wohl etwas unüberlegt antwortete ich, ich könnte ja alle fünf Jahre eine neue Sprache lernen, könnte mit Estnisch beginnen. Einen Monat später hatte ich eine Einladung des Estnischen Schriftstellerverbands auf dem Tisch. Der Verband stellte mir eine Gastwohnung und eine Lehrerin und außerdem ein kleines Stipendium in Aussicht. Ich wohnte also mit meiner Frau während dreier Herbste jeweils mehrere Wochen in Tallinn, ich lernte Estnisch und suchte mich in der estnischen Kultur und Literatur zu orientieren. Mati Sirkel war eine meiner Stützen bei diesem Vorhaben, gab mir Ratschläge und half mir konkret bei manchem meiner Versuche, estnische Lyrik zu übersetzen.
Eine Bibliographie über Mati Sirkels literarisches Schaffen, welche die Estnische Nationalbibliothek in Tallinn die Freundlichkeit hatte für mich zu erstellen, verzeichnet 341 Einträge. Von den 95 Übersetzungen darin hat Mati 67 aus dem Deutschen übersetzt – 54 im Alleingang und 13 kollektiv mit anderen Übersetzern. Da finden wir Walter Benjamins Essays neben Döblins Berlin Alexanderplatz, Wilhelm Hauffs Märchen neben Kubins Die andere Seite, Grimmelshausens Simplicissimus neben Spenglers Untergang des Abendlandes, Rilkes Duineser Elegien neben Musils Mann ohne Eigenschaften, und immer wieder stößt man darin auf die Namen Kafka, Hesse und Grass, die es ihm besonders angetan zu haben scheinen. Außer den Übersetzungen aus dem Deutschen finden sich in der Bibliographie solche aus dem Niederländischen, Englischen und Schwedischen, auch eine Übertragung von Kavafis' Gedichten aus dem Neugriechischen ist darunter. Nicht aufgezählt in dieser imposanten Sammlung sind die vielen Übertragungen nichtliterarischen Charakters – Gebrauchsanweisungen für Küchengeräte, technische Anleitungen, Broschüren aller Art –, mit denen sich der Übersetzer damals wohl über Wasser gehalten hat. Denn wenn auch Buchverlage in der Sowjetunion, im Gegensatz zu westlichen Verlagen, ihre Übersetzer relativ gut bezahlten, so konnte ein Übersetzer doch nicht ständig mit Aufträgen rechnen, allein davon hätte er also nicht leben können. Schließlich gab es vor der Wende in Estland auch nur einen Verlag, der estnische Übersetzungsliteratur im Programm hatte, und nicht alle westlichen Bücher, die Mati vielleicht gern übersetzt hätte, passierten die Zensur.
Nur Übersetzer wissen, wie zeitraubend das Übersetzen von Literatur ist – sofern sie sorgfältig arbeiten. Und Mati Sirkel arbeitet sorgfältig – das haben ihm estnische Kritiker zur Genüge bestätigt. Es ist also gar nicht überraschend, dass Mati an Musils Mann ohne Eigenschaften zwei Jahre lang arbeitete – beinah könnte man sagen, er hat die drei Bände in Rekordzeit übersetzt. Sie erschienen 2006, also lange nach der Wende, seit der auch in Estland wieder kapitalistische Zustände herrschen, in einer kümmerlichen Auflage von 800 Exemplaren, von der gerade mal die Hälfte verkauft wurde. Ich erinnere mich aus unserer Zeit in Tallinn Ende der 1980er Jahre, damals erschien dort eine wunderschön illustrierte Auswahl von Grimms Märchen in einer Erstauflage von sage und schreibe 70 000 Exemplaren – sie hätten gut für jeden dreizehnten Esten im Land gereicht –, und kein Stück davon erreichte den Buchhandel, alle waren unter der Hand und im voraus verkauft.
Mati Sirkel arbeitet nicht nur sorgfältig, er weiß auch immer, was und wen er übersetzt. Und fast immer hat er, was er über den Autor und sein Werk und sein Umfeld weiß, in kenntnisreichen Vor- oder Nachworten niedergeschrieben. Zur Sowjetzeit waren diese Vor- und Nachworte oft wichtigere Informationen als die Texte, zu denen sie geschrieben wurden. Die Zensur, so sagte man mir, hatte ein Auge auf das übersetzte Buch – was der Übersetzer oder ein anderer Literat dazu sagte, beachtete sie kaum. So konnte man in diesen Artikeln oft kontroverse Gedanken unterbringen, zum Beispiel in Form von langen Zitaten aus Büchern, die es offiziell in der Sowjetunion gar nicht geben durfte. Viele von Matis Artikeln wären es wohl wert, ins Deutsche übersetzt zu werden, zusammen bilden sie einen idealen Querschnitt durch die deutsche Literatur. Zum Glück hat Mati die besten dieser Vor- und Nachworte später in zwei Bänden zusammengefasst, denen er den etwas mysteriösen Titel Orva-aastad und Uued orva-aastad – Nischenjahre und Neue Nischenjahre – gegeben hat. Mir sind mehrere Interpretationen dieser Titel zu Ohren gekommen – vielleicht kann Mati uns selber erklären, was es mit den Nischen für eine Bewandtnis hat.
Bei meinem Aufenthalt in Estland 1988 wunderte ich mich, warum Mati Sirkel nicht Mitglied des Schriftstellerverbands war, während andere Übersetzer diesem angehörten – in der Sowjetunion bedeutete die Mitgliedschaft in einer offiziellen Künstlerorganisation ja eine Menge Vorteile, nicht zuletzt wirtschaftlicher Art. Aber Mati Sirkel war meines Wissens in Estland der einzige Übersetzer gewesen, der im Oktober 1980 den »Brief der Vierzig« unterzeichnet hatte, einen Aufschrei, mit dem ein bedeutender Teil der estnischen Intelligenz es wagte, sich gegen die rigorose Russifizierungspolitik Estlands während der Breschnew-Ära aufzulehnen. Weitaus nicht jeder estnische Intellektuelle jener Zeit hatte seinen Namen unter das Dokument gesetzt. Manch einer mag seine Unterschrift verweigert haben, weil er gleichzeitig in einem staatlich bezahlten Dienstverhältnis stand und um seine Stellung bangte – von möglichen anderen Repressalien ganz zu schweigen. Viele Unterzeichner des Briefs verloren dann auch tatsächlich ihre Arbeit. Mati Sirkel konnte man nicht entlassen, denn er war freischaffend. Vielleicht war die Tatsache, dass man ihn nicht in den Verband aufnahm, doch eine Art Bestrafung für seine Aufsässigkeit gewesen. Im Herbst 1989, kurz vor der Wende, als die politischen Wogen sich einigermaßen geglättet hatten, wurde er dann doch in den Verband berufen, um gleich im folgenden Jahr zu seinem Stellvertretenden Vorsitzenden gewählt zu werden. Neun Jahre lang, von 1995 bis 2004, hatte er dann den Vorsitz des Estnischen Schriftstellerverbands inne, in dieser Zeit lagen ihm insbesondere dessen internationale Beziehungen am Herzen – so beteiligte er sich unter anderem aktiv an der Gründung des Ostseezentrums für Schriftsteller und Übersetzer in Visby. Von 1993 bis 1996 war er auch Vorstandsmitglied des Europäischen Schriftstellerkongresses.
Meine Damen und Herren, Mati Sirkel ist Germanist, und von Germanisten erwartet man gewöhnlich, dass sie uns tiefschürfende Untersuchungen zu vor langem verstorbenen Dichtern vorlegen. Aber Matis Beschäftigung mit der deutschen Literatur hat keine Monumentalwerke à la Friedrich Gundolfs Goethe von 1916 oder Shakespeare. Sein Wesen und Werk von 1928 gezeitigt – er hat seine Gedanken über die Autoren, die er übersetzt hat, in den Nischen-Jahren zusammengefasst. Vor allem aber – das ist das Wichtigste – er hat die Autoren übersetzt und dafür gesorgt, dass sie neue Leser erreichen, neue Leser bereichern. Vielleicht entspricht die Tätigkeit des Übersetzens, des Transfers der Gedanken Fremder in die eigene Geisteswelt, am besten dem, was Goethe mit seinen Worten im Faust im Sinn gehabt haben könnte:
»Und was in schwankender Erscheinung schwebt,
Befestiget mit dauernden Gedanken.«