Friedrich-Gundolf-Preis

The »Friedrich-Gundolf-Preis« has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964.
As a »Prize for German Scholarship Abroad«, for 25 years it was exclusively awarded to linguists and literary scholars at foreign universities.
However, the prize has also been awarded to persons outside of academia who are committed to imparting German culture and cultural dialog since the prize was renamed the »Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland« (Prize for the Imparting of German Culture Abroad) in 1990.
The Friedrich Gundolf Prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy. It has been endowed with €20,000 since 2013.

László Márton

Writer and Translator
Born 23/4/1959
Member since 2022

...László Márton bewegt sich mit Erfindungsreichtum und stupender Kenntnis zwischen der deutschen und der ungarischen Literatur...

Jury members
Kommission: Irène Heidelberger-Leonard, Michael Krüger, Per Øhrgaard, llma Rakusa, Miguel Sáenz, Joachim Sartorius und Leszek Żyliński

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Laudatory Address by László F. Földényi
Translator, Comparatist and Art theorist, born 1952

Der ungarische Botschafter der deutschen Literatur. Über László Márton

Am 12. November 1203 erhielt Walther von der Vogelweide von Bischof Wolfger, dem Bischof von Passau, 150 Denare für einen Pelzrock. Wie viel das damals wert war? Für neue Stiefel hatte der Bischof 42 Denare angewiesen, für eine Unterhose 5 Denare, für zwei Paar Strümpfe wiederum 5 Denare. Die für den Pelzrock angewiesenen 150 Denare waren also eine sehr große Summe. Aber hat das mit der Dichtung Walthers von der Vogelweide etwas zu tun? Scheinbar wenig. Und doch bildet in László Mártons voluminöser Studie über Walther von der Vogelweide auch dieses Detail eine wichtige Ergänzung zu Walthers sonst fast unbekannter Biographie. Und wie der in den teuer erworbenen Pelzrock gehüllte Walther selbst war? Das erfahren wir ausschließlich aus seinen Gedichten. Minutiös lässt László Márton aus Walthers Dichtung den Menschen hervorgehen, der in seinem Pelzrock schließlich wie jemand vor uns steht, der nicht vor achthundert Jahren lebte, sondern unser Zeitgenosse ist.
So erging es bei Márton aber nicht nur Walther von der Vogelweide. Sondern auch Gottfried von Straßburg. Und Hans Sachs. Und Sebastian Brant. Und dem Faust schreibenden Goethe. Und Novalis und Kleist und all den anderen. László Márton darf mit Fug und Recht als der ungarische Botschafter der deutschen Literatur bezeichnet werden.
Ich traf ihn vor mehr als drei Jahrzehnten zum ersten Mal. Ich fing gerade als Redakteur bei einer Zeitschrift an, als sich mir eines Tages ein junger Mann vorstellte, der noch jünger als ich war – wie sich später herausstellte, ging er noch zur Universität. Er hatte ein Manuskript bei sich, und der Zufall wollte es, dass er bei mir anklopfte. Es war ein Dramenmanuskript – genauer gesagt: die Übersetzung eines Dramas. Von Franz Grillparzers 1826 entstandenem Versdrama Ein treuer Diener seines Herrn, das der junge Márton mit einem ganz eigenen sprachlichen Einfallsreichtum ins Ungarische übertragen hatte. Ich hatte von dem Stück noch nie etwas gehört, aber Márton hielt mir dort im Zimmer einen derart fesselnden Vortrag darüber, dass mir der Mund vor Staunen offen blieb. Der Held seines Stückes war Bancbanus, der Vertraute und Stellvertreter des ungarischen Königs Andreas aus dem 13. Jahrhundert, der allen persönlichen Verletzungen zum Trotz ein »treuer Diener seines Herrn« blieb. Das Thema war mir natürlich vertraut: von Bánk bán handelt auch das bekannteste Nationaldrama der ungarischen Literatur, verfasst von József Katona, sechs Jahre vor Grillparzer. Was mir an Márton schon damals auffiel: Er hatte nicht nur ein bereits vergessenes deutschsprachiges Stück übersetzt, sondern auch die Aufmerksamkeit des ungarischen Publikums auf einen bis dahin unsichtbaren Punkt gelenkt, der die historische Selbsterkenntnis der Ungarn vertiefte. Jahre später schrieb er eine großangelegte Studie über die österreichische Kaiserin Elisabeth, in der er das besondere Verhältnis von Ungarn und Österreichern analysierte; diesmal nicht mehr als Übersetzer, sondern als sensibler Archäologe der Kulturgeschichte erhellte er die vielen Illusionen und Selbsttäuschungen, von denen die ungarische Geschichte durchdrungen war. Er befasste sich mit der Vergangenheit – mit Grillparzer und Kaiserin Sissi –, und doch sprach er zu uns, seinen ungarischen Zeitgenossen. Er wandte sich den Österreichern zu, hatte aber stets die ungarische Geschichte vor Augen: »Die Mehrheit meiner Landsleute sehnt sich nach einer starken Hand, die das Land auf dem Weg der Freiheit voranführt und die dem wirklichen oder imaginierten Gegner Ohrfeigen versetzt, die eigenen Gefolgsleute aber streichelt«, schrieb er in seinem Essay Wegweiser durch das Reich der Freiheit. Hätte Grillparzer wohl je geahnt, dass sein Stück fast zwei Jahrhunderte später wieder aktuell werden würde, und das nicht einmal zu Hause, in Wien?
Es wäre natürlich ungerecht, das reiche Lebenswerk László Mártons im Hinblick auf die aktuelle Politik zu betrachten. Es ist unstrittig, dass er, wenn es darauf ankommt, keinen Hehl aus seiner Meinung über die Verhältnisse in Ungarn macht. Aber sein Lebenswerk – seine Studien, Übersetzungen und natürlich Romane – weist einen viel weiteren Horizont auf. Bezüglich seiner Übersetzungen bekundete er einmal in einem Interview: »Mich interessieren vor allem jene Werke – also zu übersetzende Texte –, die mich zwingen, in irgendeiner Weise der menschlichen Existenz als Ganzem, dem Denken, der Sprache ins Auge zu blicken.« Der Ausdruck »die menschliche Existenz als Ganzes« hat in der ungarischen Kultur einen fremden Klang. Diesbezügliche Untersuchungen gab es bei uns eher selten, sporadisch. Die relative Unbekanntheit der ungarischen Kultur – genauer der ungarischen Literatur – ist zum Teil auch darauf zurückzuführen. Das änderte sich irgendwann in den 1980er und 1990er Jahren, als eine mit einer radikal neuen Sichtweise ausgestattete Generation, darunter Imre Kertész, Péter Esterházy, Miklós Mészöly und Péter Nádas, die Bühne betrat. Zu ihnen gehört auch der Schriftsteller László Márton – nahezu zwanzig Bücher sind von ihm bereits erschienen. Aber auch wenn ich an den Verfasser spannender Studien oder an den Übersetzer denke, kann ich getrost sagen, dass er uns Ungarn auch als Germanist angeregt hat, endlich über unsere Grenzen hinaus zu sehen.
Er ist ein Vollblutgermanist: Ich bin überzeugt, dass er es auf dem Gebiet der mittelhochdeutschen oder der barocken Literatur in der internationalen Germanistik mit jedem aufnehmen könnte. Ihn fasziniert aber nicht nur der Zauber der Tatsachen, sondern auch das Funktionieren des Geistes in der jeweiligen Zeit. Was besagt das? Es besagt, dass Márton, mit wem auch immer er sich befassen mag, von Walther von der Vogelweide bis Ingeborg Bachmann, früher oder später in jedem seinen Zeitgenossen erkennt. Als professioneller Philologe kehrt er in das jeweilige Zeitalter zurück, als Vollblutgeistesmensch hingegen holt er die jeweilige Person in die Gegenwart herüber. In seiner Interpretation von Gottfrieds von Straßburg gewaltigem Tristan-Werk – das er zuvor als ganzes aus dem mittelhochdeutschen Original übersetzt hat – führt er den Leser von heute nicht nur ins 13. Jahrhundert zurück, sondern legt auch bei Gottfried jene Schichten frei, die über das 13. Jahrhundert hinausweisen. In Isolde erblickt er eine mittelalterliche Nichte Anna Kareninas oder Effi Briests, in Tristan wiederum das Vorbild der modernen Persönlichkeit, für die »die Persönlichkeit nichts Vorgegebenes, keine unabänderliche Entität ist, sondern sich ständig formt: sich weiterentwickelt oder verfällt«. Dank Mártons Interpretation stieß Gottfrieds von Straßburg Dichtung in Ungarn auf ein in Europa vermutlich einzigartiges Echo: Mit einem Mal war Tristan nicht nur zur Lieblingslektüre der Philologen und der Germanisten, sondern auch zu einer Bezugsgröße der zeitgenössischen ungarischen Schriftsteller geworden.
Das gilt aber nicht nur für ihn, sondern auch für Martin Luther, Andreas Gryphius, Novalis, die Gebrüder Grimm (Márton war auch Mitübersetzer der Gesamtausgabe der Kinder- und Hausmärchen sowie der Deutschen Sagen). Und natürlich für Goethe, über dessen Faust er großartige Studien schrieb, während er beide Teile des Werkes samt dem Urfaust auch übersetzte und herausgab, mit der ganzen Historia von Doktor Johann Fausten von 1587 ergänzte und den über siebenhundert Seiten dicken Band mit einem riesigen Kommentar versah, den zweifellos auch Professor Albrecht Schöne mit vorbehaltloser Anerkennung quittieren würde, wenn er ihn lesen könnte. Dank dieser Ausgabe kam der Faust in Ungarn sprichwörtlich »in Mode«: Nach seinem Erscheinen gelang ihm auf Anhieb der Sprung auf die Bestsellerlisten.
Wie die klassische deutsche Literatur durch Mártons Einfluss auf die Entwicklung der ungarischen Literatur einwirkt, dafür bietet sein Roman Die wahre Geschichte des Jacob Wunschwitz, der Ende der 1990er Jahre auf Ungarisch und anschließend auf Deutsch erschienen ist, ein besonderes Beispiel. Der Roman handelt von Jacob Wunschwitz, der – so ist es in den historischen Quellen überliefert – 1604 im brandenburgischen Guben versehentlich in einen Aufstand gegen die Willkürherrschaft der Stadtoberen verwickelt worden war und schließlich mit dem Leben dafür bezahlen musste, hingerichtet wurde. Die Dokumente zu Jacob Wunschwitz entdeckte Márton im zweiten Band von Christian Schöttgens und Georg Christoph Kreysigs Kompendium Diplomatische und curieuse Nachlese der Historie von Ober-Sachsen und angrentzenden Ländern, 1731 in Dresden und Leipzig erschienen. Und wie kam es dazu, dass dieses seltene Buch Márton in die Hände fiel? Wer in der Kleist-Philologie bewandert ist, dürfte dieses Kompendium kennen: Darin war unter dem Titel Nachricht von Hans Kohlhasen, einem Befehder derer Chur-Sächsischen Lande jener Teil der von Peter Hafftitz, einem Schulrektor, Ende des 16. Jahrhunderts verfassten Schrift Märckische Chronik erschienen, der die Quelle für Michael Kohlhaas ist. Márton hatte während eines Aufenthalts in Berlin begonnen, das Buch von Schöttgen und Kreysig zu lesen, da er gerade dabei war, Kleists Erzählung Michael Kohlhaas ins Ungarische zu übertragen – und zwar mit beispielloser Bravour dabei auch Kleists eigenartige, von seinen Zeitgenossen häufig kritisierte Satzkonstruktionen ins Ungarische übersetzend. Für die Kohlhaas-Übersetzung griff er auch auf das Buch von Schöttgen und Kreysig zurück, so stieß er auf die Geschichte des Jacob Wunschwitz, darüber schrieb er einen Roman, der in Ungarn als wegweisende Schöpfung der modernen ungarischen Prosa auf ein relativ großes Echo stieß, und dank dieses Romans fand schließlich auch Kleists Kohlhaas ein überraschend breites Lesepublikum. Dem folgten Mártons große Studie über Kohlhaas sowie zahlreiche weitere Schriften über Kleists Stücke und Erzählungen – darunter Der unbeschreibliche Blick, meine Lieblingsstudie von ihm, die sowohl die Blicke von Kleists Figuren als auch die Sichtweise des Verfassers selbst zum Thema hat. Und weshalb die vielen Kleist-Studien? Weil Márton eine der treibenden Kräfte jener fünf Jahre dauernden Arbeit war, dank der die gesammelten Werke Heinrich von Kleists auf Ungarisch das Licht der Welt erblickten – übrigens die vollständigste von allen nicht-deutschsprachigen Kleist-Ausgaben. Márton ist nicht nur der ungarische Botschafter der deutschen Literatur, sondern auch Kleists: Als eingehender Kenner des Autors hat er auch im deutschen Sprachraum an zahlreichen Kleist-Konferenzen teilgenommen.
Lassen Sie mich für einen letzten Gedanken auf den Wunschwitz-Roman zurückkommen. Wer ihn liest, ob auf Ungarisch oder auf Deutsch (die deutsche Ausgabe erschien im Zsolnay Verlag), wird sehen, dass sich Márton in der brandenburgischen Welt des frühen 17. Jahrhunderts derart heimisch bewegt, dass er, würde er mit einer Zeitmaschine dorthin fliegen, sich zweifellos sofort zurechtfinden würde. Auch sprachlich. Mártons Kenntnis des Deutschen ist ganz außergewöhnlich – er ist im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen genauso heimisch wie in den unterschiedlichen Dialekten und Regionalsprachen. (Nebenbei erwähnt, hat er auch zwei Bücher auf Deutsch geschrieben und ein drittes – ebenfalls auf Deutsch – gemeinsam mit unserem Akademiemitglied Yoko Tawada verfasst.) Die großen Schöpfungen der deutschen Literatur, deren Herausgeber er ist, eröffneten dem ungarischen Publikum eine Welt, die uns bis dahin verschlossen gewesen war, und seine Studien, Erläuterungen, Kommentare sicherten auch dem großen Publikum den Zutritt zu dieser Welt. Márton schreibt großartig: leicht verständlich, lesbar – gleichzeitig philologisch stets zuverlässig. Er lehrt an keiner Universität (obwohl er regelmäßig Vorträge an ungarischen Universitäten hält und als Gastvortragender immer wieder nach Deutschland eingeladen wird – so hatte er unter anderem die Siegfried-Unseld-Professur an der Humboldt-Universität inne), aber ich darf getrost behaupten, dass er eine Institution in eigener Person ist, deren Bewandertheit in der Germanistik in Ungarn allgemein bekannt ist. Hinzu kommen sein freundliches Wesen, seine zuvorkommende Art und seine gute Eigenschaft, jedem, der sich mit einer philologischen Frage an ihn wendet, mit unendlicher Hingabe zu helfen.
Erhielte László Márton jene ansehnliche Geldsumme, die Walther von der Vogelweide für den Pelzrock von Bischof Wolfger bekommen hatte, würde zweifellos auch er sie dazu verwenden, sich in etwas zu hüllen. Aber nicht in einen Pelzrock, sondern in die deutsche Kultur, die er auch bisher schon als unsichtbaren, aber dicken Mantel getragen hat. Dieser geistig-kulturelle Pelzrock darf nie verschleißen. Nimm daher, lieber László Márton, den Friedrich-Gundolf-Preis, zu dem ich dir hiermit gratuliere, so entgegen, wie der Dichter Walther von der Vogelweide seinerzeit jene gewissen 150 Denare entgegengenommen haben mag.

Aus dem Ungarischen von Akos Doma.