Friedrich-Gundolf-Preis

The »Friedrich-Gundolf-Preis« has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964.
As a »Prize for German Scholarship Abroad«, for 25 years it was exclusively awarded to linguists and literary scholars at foreign universities.
However, the prize has also been awarded to persons outside of academia who are committed to imparting German culture and cultural dialog since the prize was renamed the »Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland« (Prize for the Imparting of German Culture Abroad) in 1990.
The Friedrich Gundolf Prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy. It has been endowed with €20,000 since 2013.

Ladislao Mittner

Germanist
Born 23/4/1902
Deceased 5/5/1975
Member since 1967

... für seine Tätigkeit als Forscher, Lehrer und Vermittler der deutschen Literatur in Italien und besonders für seine ›Storia della Letteratura Tedesca‹...

Jury members
Die Mitglieder der Kommission und des Erweiterten Präsidiums

Randglossen zur Kulturgeschichte der Donaumonarchie

Sehr verehrter Herr Präsident, hochgeschätzte Mitglieder der Akademie, werte Damen und Herren! Eine Dankrede, der Ausdruck meines Dankes, der um so herzlicher ist, als ich die hohe Auszeichnung, die mir zuteil wurde, als unverdient, als kaum verdient betrachten muß ‒ eine Dankrede also kann vom Persönlichen nicht ganz absehen. Nun habe ich in meiner Vorstellungsrede, die ich vor fünf Jahren die Ehre hatte, vor Ihnen zu halten, von meiner Wenigkeit ausführlich genug gesprochen. Ich erwähne deshalb heute nur beiläufig, daß ich mich als ein typisches K.u.k.-Produkt betrachte, als einen Menschen, dessen Entwicklungsgang in mancher Hinsicht genau dem vieler anderer damals junger Menschen entsprach. Es war nicht nur die politische, sondern auch und vor allem die kulturelle Situation eines echten und, ich darf es vielleicht mit einigem Stolz hinzufügen, eines integralen Mitteleuropäers. Allerdings ist heute Mitteleuropa ‒ insbesondere in Italien ‒ zu einem verschwommenen und eben deshalb suggestiven Modewort geworden, das verschiedenartigste, aber im allgemeinen ausgesprochen sympathische Reminiszenzen wachruft, Erlebtes oder Nachempfundenes, das immer etwas angenehm Prickelndes, etwas vom Wiener fin de siècle an sich hat. Man denke nur an die Reviviszenz des Jugendstils etwa im Neodada, an die Gustav Mahler-Renaissance, meinetwegen an Viscontis, des großen Dekorateurs, Tod in Venedig. Es handelt sich offensichtlich um eine stilistische Rückentwicklung, die sich heute übrigens bei einigen konsequenten Experimentatoren aller nur möglichen Stilarten in ihren genauen geschichtlichen Phasen beobachten läßt, so in der Lenau-Biographie Peter Härtlings, Niembsch oder der Stillstand, mit dem Zurücksinken des Informellen zum Expressionistischen und zum Jugendstil, zum noch romantischen Biedermeier und zum Rokoko; in der äußeren Form ist Niembsch noch achtzehntes Jahrhundert, eine Suite mit Präludium, Gigue, Allemande und so weiter. Ähnlichen, sehr bewußten Eklektizismus verrät Hans Werner Henze in einzelnen Symphonien. Da nun mein Name in der von mir gewählten Form auf drei sehr verschiedene Nationen hinweist, wurde ich, der in Fiume geborene, ein halbes Jahrhundert lang von allen mit der eigentlich selbstverständlichen, aber oft nur zu inquisitorischen Frage empfangen: »Ja, sind Sie eigentlich ein Deutscher, ein Ungar oder ein Italiener?« Dieses fatale, weil disjunktive »eigentlich« höre ich heute kaum mehr. Musil wurde entdeckt (beiläufig bemerkt: ich habe von ihm in Italien als erster vor fünfzehn Jahren im Rundfunk gesprochen); seither ist die fatale Frage zu einer sehr freundlichen Konstatation geworden: »Sie sind aus Fiume, sind also ein Mitteleuropäer«, womit man etwas genauer einen Kakanier meinte. Ich kann allerdings nicht verstehen, warum Musil in seinem Roman für Fiume nicht einmal ein ganz kleines Plätzchen übrig ließ, denn die Hauptstadt Kakaniens hätte er doch in Fiume und nicht in Wien suchen sollen. Man vergegenwärtige sich nur die politischen Kontraste und die ganz unglaubliche Sprachmischung, die in der Stadt herrschten. Italienisch war die Sprache der Gemeindeverwaltung und des sehr alten und selbstbewußten Patriziats; ungarisch die Sprache der staatlichen Behörden und des von Budapest ernannten Gubernators; wohl mehr als ein Drittel der Bevölkerung sprach aber kroatisch, und ausschließlich kroatisch war das Hinterland. Wenige Kilometer von Fiume entfernt, nicht auf ungarischem oder kroatischem, sondern auf österreichischem Boden lag aber der mit großem Propagandaaufwand lancierte Modekurort Abbazia, nicht mit Unrecht als das Nizza des adriatischen Meeres gerühmt, damals die bunteste Musterkarte des reichen und mittleren Bürgertums von Wien, Prag, Budapest und Agram. In dieser Umwelt mußten alle unbewußt, manche auch bewußt, zu vergleichenden Philologen werden; meine geduldigen Zuhörer mögen mir gütigst nachsehen, daß ich mehrere verdrehte Eigennamen, ja Sprachschnitzer erwähnen werde; sie sind besonders im österreichischen Kulturleben ungemein symptomatisch. Die Buntheit der Donaumonarchie war aber keineswegs eine harmonisch ausgeglichene Lebensfülle; es war gar nicht bequem, am Kreuzweg so vieler Nationen oder Nationalitäten zu leben. In Mahlers Musik drücken die seltsamsten Stilmischungen die existentielle Vereinsamung eines Entwurzelten aus, der alles, auch und vor allem das Banalste seiner ethnisch so farbenreichen Umwelt durch nie enden wollende Variationen verschönern mußte, um als Mensch nicht zugrunde zu gehen, und eben dadurch die vielleicht heterogenste, sicher die unheimlichste Musik schuf, die es je gegeben hat.
Auch die Lage der jungen italienischsprechenden Intellektuellen war überaus schwer. Die Triestiner Irredentisten haßten natürlich Österreich, nahmen es aber nicht mehr ganz voll. Nicht das bereits wankende Österreich war ihr Problem, sondern Deutschland, das allen stark genug schien, auch eine vollständige militärische Katastrophe zu überleben. So tauchte zum ersten Mal in Italien das Problem des eigentlich Deutschen, des vermeintlich reinen Deutschen auf, worunter man das Preußische, vor allem aber das Protestantische verstand, denn nach allgemeiner Überzeugung ließ sich die Macht der deutschen Industrie und des deutschen Heeres nur durch die ethische Komponente des Protestantismus erklären. Das »eigentlich« Deutsche wurde so zum Norddeutschen, manchmal sogar zum rein Nordischen umgestempelt. Der Triestiner Scipio Slataper (man beachte den Namen: Scipio und nicht Scipione wollte er heißen, mit deutlichem Hinweis auf die Hymne Mamelis, die viel später zur italienischen Nationalhymne geworden ist, während Slataper, ein slawischer Name, etwas wie goldene Feder bedeutet) ‒ Scipio Slataper also, einer der wichtigsten Mitarbeiter der florentinischen Zeitschrift La Voce (seit 1908), entdeckte für Italien Hebbel und Ibsen, die für ihn vor allem die Tragödien Judith und Brand bedeuteten, die Tragödien des unerbittlichen alttestamentarischen und protestantischen Rigorismus, der den Deus charitatis und damit jedes menschliche Mitgefühl abweist. Ein anderer triestiner Germanist, Carlo Grünanger, führte dann in seinem Buch über Hebbel und den tragischen Geist des Germanentums die unmenschliche ethische Strenge Hebbels auf Luther, ja auf die Edda zurück. Das Interesse für den so verstandenen Protestantismus entstand aber aus einer heimlichen Sympathie. Slatapers Phantasie wurzelte mit allen Fasern im recht eigentlich lieblosen, eckig harten Karstgebirge, in »seinem« Karst, wie er ihn in seinem Buch Il mio Carso nennt, über dem der kalte Nordwind mit rasender Geschwindigkeit alles vertilgen zu wollen scheint. Diese in Italien ganz vereinzelt dastehende Landschaft ist der Geburtsort des uneingestandenen Protestantismus eines wirklich bedeutenden Slawo-Italieners. Dazu kommt aber meiner Meinung nach ein Weiteres, das die Irredentisten selbst sicher nicht zugegeben haben würden. Sie waren im idealen Sinne Protestanten, weil sie protestieren zu müssen glaubten gegen das heißgeliebte Italien, das sie noch nicht ihr Vaterland nennen durften, das aber nur zum Teil ihrem idealen Italienbild entsprach. In einigen mag manchmal die Wahrheit aufgegangen sein, daß Österreich und Italien als überwiegend oder auch fast ausschließlich katholische Nationen miteinander doch verwandt waren, sowohl in der religiösen oder doch moralischen Laxheit als auch in der bürokratischen Schlamperei, im Wiener Weiterwursteln und im römischen tirare a campare. Aus einem anderen Randgebiet, aus Ligurien, stammten zwei der besten Mitarbeiter der La Voce, beide sehr strenge Moralisten auch in der Literaturkritik, Giovanni Boine und Piero Jahier, letzterer Sohn eines Waldenser Pastors. Die moralische Situation der jungen Intellektuellen war viel ernster, als man gemeinhin annimmt. Ein anderes Mitglied der La Voce, der Görzer Student Carlo Michelstädter, beging aus philosophischer Überzeugung einen Selbstmord, der in mancher Hinsicht an den Selbstmord des Wiener Philosophen Weininger denken ließ, auch ganz abgesehen davon, daß beide jüdischer Abstammung waren. Weiningers Lehre lastete schwer auf vielen Seelen, bis sie von der aufklärerischen und trotz allem so humanen Helle des Wiener Arztes Freud verscheucht wurde. Zur Psychoanalyse nur eine Bemerkung. Wenige Italiener erkannten vor dem Ersten Weltkrieg den hohen Wert der ersten Romane des Triestiners Italo Svevo, Pseudonym von Ettore Schmitz, der also sich selbst als einen italischen Suewen bezeichnen wollte. Er lernte nun Englisch bei keinem Geringeren als James Joyce, der zwischen 1904 und 1915 in Triest als Sprachlehrer wirkte. Svevos Hauptwerk, La coscienza di Zeno, erschien 1923; Ulysses, bereits 1914 geplant, erschien 1922. Was die beiden Schriftsteller einander gaben und voneinander erhielten, wird leider kaum mehr festzustellen sein. Beide Romane wurden begonnen, als Joyce nicht mehr in Triest lebte; ihre Entstehungsdaten zeigen immerhin, daß Triest ein wichtiger Knotenpunkt in der Entwicklung der Wiener Psychoanalyse und des psychoanalytischen Romans war; Svevo experimentierte bereits 1910 mit Freuds Lehren. Jedenfalls gehört aber auch Mister Bloom eigentlich zu Mitteleuropa, worauf meines Wissens noch nicht ausdrücklich hingewiesen wurde. Er ist nämlich ein geborener Ungar mit dem Namen Virag, der eben Blume bedeutet, abgesehen von der Kleinigkeit, daß Joyce sich den Akzent auf dem a von Virag geschenkt hat. Vermutlich folgte er darin Bloom selbst, der bei seiner Auswanderung sich zunächst wohl von dem störenden und für die Engländer bedeutungslosen Akzent befreit haben mag.
Erst nach Musils Riesenerfolg fiel mir auf, daß der Ausdruck Mitteleuropa inzwischen eine neue Bedeutung erhalten hatte, die nicht mehr der Terminologie der offiziellen Geschichtsschreibung entsprach. Für diese ist noch heute Mitteleuropa die theoretisch postulierte Einheit Österreichs und des Deutschen Bundes, beziehungsweise des zweiten Deutschen Reiches, die Einheit also, die man im Ersten Weltkrieg als den Bund der sogenannten Mittelmächte bezeichnete; in Italien, übrigens auch in Amerika, versteht man heute darunter überwiegend die Einheit des Gebietes zwischen Galizien und dem adriatischen Meer, die Einheit also der Habsburger Monarchie. Die Bedeutungsverschiebung ist wohl vor allem auf die nach Amerika ausgewanderten österreichischen Historiker zurückzuführen. Das so verstandene Mitteleuropa ist das Werk Eugens von Savoyen, des Begründers der militärischen Macht und damit der eigentlichen politischen Einheit Österreichs. Es war die Einheit der katholischen Länder, die zusammen die letzte fürchterliche Türkenwelle mit heroischer Entschlossenheit zurückdrängten; die deutschen Protestanten waren als Gegner Habsburgs aus dieser Christenheit eigentlich ausgeschlossen. Die theresianische Ära war die große Nutznießerin des neuen, machtbewußten, aber auch seiner Mission bewußten und noch dazu musterhaft organisierten Österreich. Hofmannsthal, der den vielleicht schönsten Aufsatz über Prinz Eugen schrieb, erriet auch die faszinierende, mütterlich liebende Seele der großen Kaiserin, wobei er, der stets von einem verborgenen Narzißmus befallene Dichter, mindestens an einer Stelle eins der tiefsten Geheimnisse seiner eigenen Seele verriet. Wie heißt eigentlich im Rosenkavalier die Marschallin, die wir im ersten Aufzug nur mit dem einigermaßen kompromittierenden Kosenamen Bichette kennen lernen? Octavian Rofrano nennt ihren wahren Namen nur ganz am Ende des Stückes, als er, durch ihre Großmut glücklich beschämt, dankbar und sie, wie immer, bewundernd, nunmehr wehmütig bewundernd, nur mühsam die fünf Silben des großen und doch fast der Mundart angepaßten Namens herausbringt: »Marie Theres«. Bereits mit den napoleonischen Kriegen beginnt Österreichs langsamer, aber unaufhaltbarer Untergang. Als Franz der Zweite sich zu Franz dem Ersten, der Kaiser des zur reinen Fiktion gewordenen Heiligen Römischen Reiches zum Kaiser Österreichs degradieren ließ, schlossen sich seine Untertanen fest um ihn zusammen, da sie in ihm endlich einen wirklich österreichischen, einen nur österreichischen Kaiser hatten. In diesem genauen Augenblick entstand nach Heinrich von Sřbik das im modernen Sinne verstandene österreichische Nationalgefühl, aus dem aber die nicht deutschsprechenden Untertanen noch nicht ausgeschlossen waren. Karls Nachfolger, der liebenswürdige, aber etwas schwachsinnige Ferdinand, konnte als echter Kaiser der Biedermeierzeit kaum mehr ernst genommen werden; aber die Wiener, die sich über das Pathologische in seinem Benehmen belustigten, verstanden auch richtig, daß er so manches von den nur scheinbar komischen Figuren in sich hatte, die in der Lokalposse der Metternichzeit ununterbrochene Triumphe feierten und in vielen Gestalten Stifters, vor allem aber in Grillparzers Armem Musikanten und zuletzt in Hofmannsthals Schwierigem ins Religiös-Metaphysische sublimiert wurden. Es ist dies die rührende Gestalt des österreichischen reinen Toren, sagen wir etwas drastischer: des liebenswürdigen Trottels, der in seiner Naivität alles falsch beginnt, aber dann eigentlich doch gut zu Ende führt, weil er stets von einem unfehlbaren menschlichen Gefühl geleitet wird. Der scheinbare Dummkopf hat in die menschlichen Verhältnisse so tief hineingesehen, daß er sie nicht auszudrücken vermag; er braucht sie aber auch nicht auszudrücken, da er stets richtig fühlt, wie er sich ihnen gegenüber benehmen muß, obwohl er freilich, willensschwach wie er ist, sich am liebsten nie zum Handeln entschließen möchte. Ich werde ganz zuletzt die Behauptung wagen, daß diese Figur, in der Lokalposse vor allem die Figur des ungeschickten Dieners, das reinste Wesen des Österreichers ausdrückt, insbesondere das des vielbewunderten oder auch vielgescholtenen, immer sehr vorsichtigen und unentschlossenen österreichischen Bürokraten. Um mich nicht länger beim Geschichtlichen aufzuhalten, möchte ich hier ganz kurz einschalten, daß man Kaiser Franz Josef nur dann gerecht werden kann, wenn man in ihm einen unermüdlichen und peinlich genauen Beamten seiner selbst sieht, der beim Volk zum Mythos wurde, weil er drei Generationen überlebte und nur deshalb als Sinnbild des unzerstörbaren Österreich angesehen werden mußte. (Man möge darüber das inhaltsreiche und tiefschürfende Buch von Claudio Magris ‒ nebenbei bemerkt: einem Triestiner ‒ über den habsburgischen Mythos nachlesen, das auch in deutscher Sprache erschienen ist.) Der große Bürokrat war freilich ein Kaiser; deshalb konnte er ausnahmsweise kein besonders liebenswürdiger Bürokrat sein.
Betrachtet der Literarhistoriker das theresianische und auch das josefinische Zeitalter als die Periode der höchsten Entfaltung der österreichischen Kultur und fragt er nach dessen literarischem Aspekt, so wird er sehr enttäuscht. Ich habe mich redlich bemüht, um wenigstens Schriftsteller dritten oder vierten Ranges zu finden; ich fand (trotz Josef Nadler) nur den Jesuiten Michael Denis, der die Bardenpoesie Ossians und Klopstocks sehr geschickt auch den Katholiken mundgerecht zu machen verstand, und den entlaufenen Franziskaner Aloys Blumauer, der übrigens eine Zeitlang auch Jesuit gewesen ist und dann unter Josef dem Zweiten in seiner derben und unflätigen Vergil-Travestie den religiösen Fanatismus und das bombastische Barocktheater an den Pranger stellte. Beide Schriftsteller zeigen mit erschreckender Deutlichkeit die Ursachen und Folgen der klerikalen Unkulturpolitik. Deutsche Texte behandelte die österreichische Zensur immer mit Argwohn; nicht so die italienischen, die ja vorzugsweise für den Hof, insbesondere für die Hofoper verfaßt wurden. Die deutsche Sprache wurde aber dadurch nicht etwa von der italienischen ersetzt, sondern die Sprache schlechthin von der Musik. Die theresianische Ära schuf eine große Architektur, vor allem aber eine große Musik, eine mitteleuropäische, genauer eine gemeineuropäische Musik, die ihrem Ursprung nach als eine überwiegend italienische, aber auch slawische zu bezeichnen ist. Italienische Librettisten, wie Zeno und Metastasio, Calzabigi und Da Ponte stehen an der Wiege nicht nur der späteren großen deutschen Musik, sondern auch der österreichischen Literatur der Metternichzeit; die Volkslieder aber, die man in Wien mit der Atmosphäre selbst einsog, waren zum Teil slawischen Ursprungs, zum Teil sogar slawisierte deutsche Volksmusik: noch im vorigen Jahrhundert bestand die Bevölkerung Wiens zu einem Drittel aus Böhmen, die nur seit einer Generation in der Kaiserstadt lebten. Eine Schlüsselfigur ist Metastasio, der als cäsarischer Dichter italienischer Sprache genau fünfzig Jahre lang in Wien gelebt und gewirkt hat. Mit Metastasio stirbt aber die große italienische Lyrik, die, im Duecento beginnend, fünfhundert Jahre lang eine sehr einheitliche Linie auf weist; sie löst sich in Metastasios kurzen Ariettenstrophen in oft nur zu schmachtender, aber immer graziös dahinfließender Wortmusik auf, wobei es oft wenig Sinn hat, nach einem Sinn zu fragen, denn der Wohllaut wird nunmehr als Eigenwert genossen. An diesen musikalischen Tod der italienischen Dichtung knüpft sich nun in mancher Hinsicht die Geburt der großen österreichischen und dann bald gemeindeutschen Musik. Von direkter Beeinflussung wird man wohl kaum sprechen dürfen; aber wieviel Rokoko, wieviel Wiener Rokoko lebt noch insbesondere in der anmutigen Kurzstrophenform so mancher Schubertschen Lieder! Der noch kaum vierzehnjährige Mozart erhielt in Mailand vom Generalgouverneur eine Prachtausgabe der Werke Metastasios; so blieb er denn bis zu seinem Lebensende, bis zur Clemenza di Tito, der bereits ganz veralteten italienischen oder genauer italienisch-französischen heroischen Oper treu, gerade er, der mit der fast gleichzeitigen Zauberflöte die feierlich-steife Barockoper für alle Zeiten unmöglich gemacht hatte. Der alte Metastasio und der noch ganz junge Haydn nahmen eine Zeitlang ihre Mahlzeiten in dem selben sehr bescheidenen Lokal ein; während des Verdauungsspaziergangs erteilte der Meister seinem jungen Freund eine Art Privatunterricht im Italienischen. Haydn, aus einer kroatischen Familie stammend, verbrachte dreißig Jahre seiner fruchtbaren Existenz im Schlosse des Magnaten Nikolaus Esterházy in der Nähe des Neusiedlersees, dicht an der ungarisch-deutsch-böhmischen Sprachgrenze; hier reifte durch sein liebevolles und unermüdliches Experimentieren der neue, bald gemeineuropäische Orchesterstil, in dem insbesondere die verschiedensten Blasinstrumente sich immer stärker behaupteten. In Haydns drolligen, oft grotesken Menuetten sind slawische Motive unverkennbar; in der siebenten Symphonie (Le Midi, 1761) spürt man am Anfang Vivaldis präzisen und energischen Concertantostil, wo die erste Violine mit einer Art von freudigem, aber auch von herrscherischem Lerchen- und Adlerflug sich über das Orchester erhebt; im letzten Tempo aber erscheint ein csardasartiges Motiv, das aber seine eigentliche Natur mit reizender Koketterie erst nachträglich erklärt: es ist ein soldatisches Werbungslied, auf ungarisch verbunkós (siehe Bartók), eine Bezeichnung, in der man noch das deutsche Wort »Werbung« erkennt. Über ein Jahrhundert später bietet Mahler, der Sohn eines armen Wirtes in einer deutsch-böhmischen Kleinstadt, ein noch merkwürdigeres Beispiel seiner gemeinösterreichischen Musik. Seine erste Symphonie, vielleicht ein wenig eigenmächtig als Titan bezeichnet, beschreibt jedenfalls nach Mahler selbst den Wiener Wald, dicht an der Grenze von drei Nationen, und ist wohl nicht zufällig eine musterhafte Auswahl ihrer Musik. Im zweiten Satz erklingen böhmische Töne und ein echt Wiener Walzer; im dritten ein schwermütig dahinfließendes ungarisches Motiv. Die Kontraste fallen kaum mehr auf; die Grundstimmung aber ist, auch vom unaufhörlich wiederholten, quälenden Kuckuckschrei und vom schauderhaft grotesken Trauermarsch mit Hundegebell ganz abgesehen, nur als verzweifelt zu bezeichnen.
Was die theresianische Ära keimhaft als Musik in sich trug, verwirklichte sich literarisch erst in der Metternichzeit. Eine direkte Einwirkung der italienischen Dichtung auf Grillparzer ließ sich nicht eigentlich belegen; man wird wohl viel eher an Lope de Vega denken müssen, ohne aber den Einfluß des Opernstils und auch der Librettisprache zu vergessen. Da ist die bedeutende Rolle der Gestik, wie sie etwa bei Goethe unvorstellbar wäre. Sappho sieht plötzlich ein, daß Phaon sie nicht mehr liebt und spricht das in einem tragisch prägnanten Doppelsatz aus: »Der Bogen klang; es sitzt der Pfeil.« Dem Vers fehlen drei Silben zum Elfsilbler; sie werden durch die sehr genaue Bühnenanweisung ersetzt: »Der Bogen klang« (die Hände über der Brust zusammenschlagend) »es sitzt der Pfeil.« Das ist große Oper, die sich aber etwas eigenmächtig in den strengen Tragödienstil einschaltet. In der Ahnfrau und auch im sehr opernhaften Der Traum ein Leben wirkt der trällernde Librettostil störend, ja fast lächerlich, besonders wo der Dichter auch das Grausige durch mechanische Wortwiederholungen melodiös zu gestalten meint, dies vor allem am Aktende. Ein Beispiel genüge: »Kalt und starr, wie Mörderhand. Mörder-, Mörder-, Mörderhand.« An solchen Stellen hat der Dichter wohl nicht an die Verse selbst, sondern nur an die dazu gehörende Opernmusik gedacht.
Grillparzer, ein scharfer Kritiker des Konservatismus, aber auch des leidenschaftlichen Nationalismus der Böhmen und der Ungarn, wertet vielleicht als erster genau die Bedeutung der Slawen. Sein erstes Drama beruht auf einer böhmischen Schauersage, das bedeutendste der letzten Dramen behandelt nicht die Gründung Wiens, sondern Prags. Diese mythische Gründung wird in Stifters Witiko zu einer allerdings nicht genau bestimmbaren geschichtlichen »Wirklichkeit«, die aber gerade durch ihre Mehrdeutigkeit als echt österreichisch zu bezeichnen ist. Witiko begründet die Einheit Österreichs als Vertreter des reinen Volkstums, nach Stifter der reinsten Naturkräfte; dieses Österreich ist ein Miniaturmitteleuropa, das auch Bayern und Sachsen umfaßt. Welchem Stamm Witiko selbst angehört, wird aus dem Roman nicht ganz klar; rein zahlenmäßig betrachtet sind die Personen überwiegend böhmisch. Bei Hofmannsthal, den ich hier nur als den Chronisten des österreichischen Kulturlebens behandeln will, verschiebt sich die Grenze Mitteleuropas zunächst nach Italien, nach dem damals nicht mehr österreichischen Venezien und Friaul, dann aber ‒ geschichtlich viel realistischer ‒ nach dem slawischen und auch ungarischen Osten. Der Großvater des Dichters heiratete die Tochter eines Mailänder Patriziers, in dessen Villa Hugo seine schönsten Kindheitstage erlebte. Von diesen Tagen erzählt der Zwanzigjährige in einem schönen Brief an die Großmutter; ich stelle mit aufrichtiger Freude fest, daß im kurzen italienischen Teil des Briefes nur ein Sprachfehler, allerdings ein horrender, zu finden ist. (»Mi piacerebbe scrivere miei [sic] versi nelle logge« usw.)
Der junge Dekadent sah aber seinen Ausgangspunkt in Venedig und bestimmte auf seine Art sehr genau die Grenzen eines italo-österreichischen Mischgebietes, zu dem Pieve di Cadore, die Geburtsstadt Tizians gehörte, vor allem aber Friaul, dessen Aristokratie wirklich österreichischer Abstammung war. Seine dichterische Chronik beginnt mit der Zeit Maria Theresias, denn diese Zeit in sich und nichts anderes ist dasjenige, was er mit dem geheimnisvollen Wort Präexistenz bezeichnet. Er bestimmt nun immer mit peinlicher Genauigkeit die einzelnen Phasen dieser Präexistenz, um ihre Atmosphäre zu beschwören und zu genießen. Andreas beginnt in der ersten Fassung des Romans seine italienische Reise im Todesjahr Maria Theresias: Der Tor und der Tod, mit Empiremöbeln, spielt 1820, Silvia im »Stern« 1840; dann schiebt sich mit der unheimlich grausamen Reitergeschichte die Lombardei des Kriegsjahres 1848 ein; Der Triumph der Zeit spielt gegen 1850, Arabella gegen 1860. Der ganze Entwicklungsgang ist aber bereits vorweggenommen im Prolog zum Buch »Anatol«, der nach meinem ganz unmaßgeblichen Dafürhalten eine Gipfelleistung Hofmannsthals ist. Nicht genug zu bewundern ist die geniale Sicherheit, mit der er das Wien des fin de siècle dem Wien der Rokokozeit gleichsetzt: »Seht... das Wien des Canaletto, / Wien von siebzehnhundertsechzig.« Es ist wohl nie ein bloßes Datum dichterischer bestimmt worden. Der Prolog spielt in einem Rokokopark, in dem Theater gespielt wird; eine Analyse der Parkgedichte Rilkes und Trakls würde zeigen, daß Hofmannsthals Anachronismus ein scheinbarer ist: Rilkes verwilderte Parkanlagen, Trakls Gärten des Bösen sind im konkreten Sinne dieselben Rokokogärten, die noch immer zur österreichischen Wirklichkeit gehörten. Hofmannsthals austroitalienischer Lösungsversuch mußte aber scheitern, weil Andreas in Venedig mit Scaramozzo und Mariquita nur verwirrend Dämonisches erlebt; Romana Vinazzer dagegen, das bezaubernd reine deutschitalienische Naturkind, gehört zu jenem Mischgebiet, das auch Welschtirol, ja auch Görz und Kärnten umfaßt. In der zweiten Fassung des Romans unternimmt Andreas eine neue Reise, um Romana zu besuchen. Sie will ihn heiraten, er muß aber nicht von Venedig, sondern von Wien aus kommen; das Wort Wien ist in der Handschrift unterstrichen. Der Roman wurde nicht vollendet. Die angeblich »Vereinigten« blieben die Unvereinbaren. Der erste slawische Name erscheint 1910 in Lucidor; später werden sie häufiger. Hofmannsthal scheint sein zerfallendes oder bereits zerfallenes Mitteleuropa dadurch erhalten zu wollen, daß er in seine Werke Gestalten der nichtdeutschen Randgebiete oder Gestalten mit nichtdeutschen Namen aufnimmt. In der posthum veröffentlichten Arabella tritt eine Zdenka auf und ein großmütiger polnischer Graf Mandryka, der aber seltsamerweise seine Geldtasche dem zukünftigen Schwiegervater wiederholt mit dem ungarischen »tessék« (please) anbietet; einen slawischen Namen hat auch der Held des Lustspiels Der Unbestechliche. Wie der Familienname Hans Karls, des Schwierigen, ist, erfahren wir nicht; seine Schwester Crescence redet ihn aber, wenn sie allein sind, mit der ungarischen Koseform Kari an. Hans Karl bewundert die rätselhafte Humanität des nur scheinbar ungeschickten Clowns Furlani, in dem er sein unerreichbares Vorbild sieht. Furlano bedeutet auf deutsch der Friauler. Es ist dies Hofmannsthals letzter Versuch, das italienische Grenzgebiet durch eine scherzhafte Anspielung in das alte Österreich einzuverleiben.
Wie und wann endete das Gefühl für die kulturelle Einheit der Donaumonarchie? Scheinbar endete es in Sarajewo mit der Ermordung des slawophilen Erzherzogs Franz Ferdinand; aber schon lange vorher suchte man das Epizentrum der österreichischen Krise nicht mehr in Wien, sondern in Prag; und die tschechische Krise war recht eigentlich der Auftakt zur europäischen Krise und einer Weltkrise, in der wir heute unschwer den Ursprung der späteren existentiellen Krise überhaupt erkennen. Literaturgeschichtlich läßt sich, wie ich glaube, die österreichische Krise mit aller nur wünschbaren Deutlichkeit durch mindestens drei deutschösterreichische Schriftsteller belegen, die ihre Jugend in Prag oder Brünn verbracht haben und, isoliert oder doch fremd inmitten der lebenskräftigen, revolutionär gärenden slawischen, aber auch jüdischen Umwelt an ihrer Muttersprache irre wurden, nicht mehr an ihre Gültigkeit, ja nicht einmal an ihre Existenz glauben konnten. Ich spreche von drei großen Gestalten, ohne die die deutsche Literatur, ja die spätere Weltliteratur schlechthin undenkbar wäre; ich spreche von Rilke, Kafka und Musil. Es besteht ein Wechsel Verhältnis zwischen ihrer soziopolitischen Situation und ihrem Sprachbewußtsein; beide sind Ursache und Folge zugleich. Am Anfang der heutigen Sprachkritik steht allerdings bereits Karl Kraus mit seiner Entlarvung der schwarzen Magie der Presse; am Ende Wittgensteins Sprachphilosophie; die drei von mir genannten Schriftsteller sind aber Opfer und Zeugen des Zusammenbruches jeder nur denkbaren Ontologie, da ihre Sprache keiner nur denkbaren Ontologie genügen konnte. Der junge Rilke widmete sein erstes bedeutendes Buch den Laren Prags, besang die suggestive Architektur der Goldenen Stadt, schwärmte für die Landschaft Böhmens, ja er zitierte wörtlich einen böhmischen Dichter, um auf böhmisch zu gestehen, »kde domov můj«, wo auch er seine Heimat suche. Bald eroberte er die Landschaft und die Kunst Italiens, Rußlands und Frankreichs und gestaltete so sein höchst persönliches Gesamteuropa, in dem für alles Platz war, nur nicht für deutsche Kunst und Landschaft, wenn man etwa von Worpswede absieht. Aber dem unerbittlichen Engel gegenüber, der den Menschen verschmäht, weil dieser eine höhere Sprache, die Sprache des Kosmisch-Unsagbaren, nicht versteht, klammert sich Rilke nach dem Zusammenbruch seiner Welt mit verzweifelter Hoffnung an den schmalen menschlichen Rand, der noch ein provisorisches, eigentlich nur illusorisches Dasein gestattet. Es ist das Randgebiet des Larischen, der Gegenstände, die der Mensch selbst geschaffen und mit seiner verflüchtenden Körperwärme belebt hat. Auf welches Land bezieht sich aber eines der Sonette an Orpheus, das mit den Worten schließt: »Einzig das Lied überm Land / heiligt und feiert«? Mir scheinen sie nur deutbar als ein ins Metaphysische gesteigertes Selbstzitat aus einem der frühesten Gedichte, in dem die böhmischen Bauern singend auf böhmischem Boden arbeiten: »Mich rührt so sehr / böhmischen Volkes Weise.« Das ist der Nährboden von Rilkes neuer Ontologie, in der der Mensch wenigstens die Dinge zu nennen vermag, die zu seiner bescheidenen Umwelt gehören, und die Dinge selbst durch dieses schöpferische Sagen zu erkennen, »wie sie niemals innig meinten zu sein«. Ungemein verwickelter ist die Position Kafkas und die dazu gehörende Konzeption der Sprache. Als Sohn eines verhältnismäßig wohlhabenden Juden, der die Orthodoxie nicht sehr ernst nahm, fühlte sich der junge Schriftsteller nicht nur dem Vater gegenüber schuldig, weil er zum Geschäftsleben nicht taugte, sondern auch den sehr armen, jiddisch sprechenden orthodoxen Juden gegenüber, die in der Wahrheit lebten, weil sie trotz ihrer unbeschreiblichen Armut Zeit hatten, sich dem Studium der Schrift zu widmen. Er selbst war aber nicht mutig und entschlossen genug, ihnen darin zu folgen; so wurde der gebildete Deutschjude den gebildeten Tschechen, aber auch den orthodoxen Juden gegenüber zu einem auch sprachlich doppelt Entwurzelten. Seine religiöse Trägheit empfand er als seine Sünde, ja als die Erbsünde schlechthin; deshalb verurteilte er viele seiner Helden und im eigentlichsten Sinne des Wortes auch sich selbst zum Selbstmord. Das krasseste Beispiel seiner sprachlichen Entfremdung ist seine Überzeugung, die eigene Mutter nicht lieben zu können, nur weil er sie mit dem deutschen Worte Mutter anreden mußte; eine Jüdin aber, die sich Mutter nennen läßt, werde lächerlich, denn dieses Wort habe (man höre nur) eine christliche Kälte und einen christlichen Glanz. Kälte und Glanz sind aber der eigentliche Sinn der religiösen Parabeln Kafkas, die zusammen eine einzige große Parabel des menschlich Unerreichbaren bilden: »Die Tatsache, daß es nichts anderes gibt, als eine geistige Welt, nimmt uns die Hoffnung und gibt uns die Gewißheit.« Oder: »Ein Glaube, wie ein Fallbeil, so schwer, so leicht.« Kafkas heimliches Gericht entspricht sehr genau dem unmenschlichen Engel Rilkes: beide töten durch ihren Glanz. (Über die Doppelform Parabel und Roman bei Kafka hat das Entscheidendste und Tiefste Giuliano Baioni geschrieben; ich verstehe eigentlich nicht, warum man dieses Buch noch nicht ins Deutsche übersetzt hat, das unbedingt das vollständigste, genaueste und originellste, mit einem Wort: das beste Buch über Kafka ist, das es überhaupt, also nicht nur in Italien, gibt.)
Nun hätte Kafka statt Mutter etwa die jiddische Koseform Mameleben verwenden können oder auch das tschechische matička; der Ausdruck matička Praha, Mütterchen Prag, war den Prager Deutschen geläufig. Wie er aber das Jüdische aus seinem Werk sehr konsequent verdrängte, zugleich aber mit allen Mitteln einer überaus komplexen symbolischen Geheimsprache, über die viel zu sagen wäre, sehr genau bestimmte, so reagierte er auf seine sprachliche Situation, indem er sein eigenes hyperkorrektes Deutsch schuf, ein absurd geometrisiertes Deutsch, in welchem kein Platz ist für das mit den Sinnen Wahrnehmbare, für die Farben und Gerüche, für alles, was das Leben angenehm, ja auch erst wirklich lebendig macht. So wurde er zu einem Klassiker der deutschen Prosa, indem er das eigentlich (oder vermeintlich) Deutsche übertrumpfte mit dem kalten Glanz seines auf den Kopf gestellten Talmudismus. Seine Texte sind sehr schwer zu verstehen, denn sie folgen einer Logik des Absurden, sind aber auffallend leicht zu übersetzen, denn ihre Syntax folgt nur der Logik. Der junge Musil, in Brünn erzogen, erinnert in mancher Hinsicht an Rilke. In der Jugendnovelle Tonka lauscht ein junger Deutscher, wohl ein Österreicher, entzückt dem Gesang eines vermutlich mährischen Mädchens, das das Geheimnis einer »wunderbaren Sprache der Ganzheit« besaß; es sind die Lieder ihrer Heimat. Im Mann ohne Eigenschaften ist eine solche unbedingt gültige Sprache überhaupt nicht mehr erreichbar. Musil sucht nämlich nicht, wie Proust, seine verlorene Zeit, um ihren geheimsten Duft auch durch die Analyse ihrer Sprache festzustellen und zu verewigen, sondern um ihre Einheit, ihre auch sprachliche Einheit zu begreifen. Seine verlorene Zeit (Wien, 1913) besaß aber keine Einheitlichkeit mehr, weil sie selbst, unmittelbar vor ihrem Zusammenbruch, keine politische, soziale, philosophische Einheit besaß. Jedes neue Modewort, jedes politische Schlagwort und damit die Sprache selbst, war impressionistisch schillernd, unbestimmbar, mehrdeutig und widersprüchlich. Musils sprachphilosophische Abschweifungen sind überaus amüsant und scheinbar fast immer tief pessimistisch. Was waren zum Beispiel die sogenannten Nationalitäten, ein Wort, das man offiziell tunlichst vermied, weil es an gefährliche Nationalismen denken ließ. Man beschloß, die Nationalitäten vorsichtig als österreichische Stämme zu bezeichnen. Das schien das Ei des Kolombus, während es dem Todesurteil für Österreich das Siegel auf drückte. Wenn nämlich die österreichischen Stämme die nichtdeutschsprechenden Österreicher waren, dann war in Österreich für die eigentlichen, für die deutschsprechenden Österreicher kein Platz mehr. Was war ferner die Erlösung, ein eigentlich religiöses Wort, das man aber immer häufiger in der erotischen und in der politischen Sphäre verwendete? Bestand nicht etwa ein Zusammenhang zwischen Ibsens unverstandener Frau und den Irredentisten, den politisch Unerlösten? Das Mystisch-Messianische im Eros und in der Politik war vielleicht das drohendste Zeichen eines von Nietzsche herrührenden Irrationalismus, der sich am vollkommensten in D’Annunzios erotisierter Politik und politischem Eros verkörperte. Konnte man aber noch vom Übermenschen sprechen, wenn die Sprache der Sportler den besten Reitpferden, also den Übertieren, bereits Genie zusprach? Im glücklichen alten Österreich wurde jedes Genie gleich unfehlbar zum Lümmel gestempelt, nie aber ein Lümmel zum Genie. Auch Musil versucht es, auf dem Wege der Mystik eine neue Sprache der Totalität zu schaffen; er weiß aber nur zu gut, daß der mystische Zustand, den er vorsichtig nur als den anderen Zustand bezeichnet, schwer zu erzeugen und nicht lange festzuhalten ist. Alles in allem ist aber Musils Geschichts- und Weltbild nicht grundsätzlich pessimistisch. Er analysiert und entlarvt die Irrtümer und Torheiten der Zeit, betrachtet aber stets mit menschlicher Wärme das konservative, maß- und taktvolle Wesen der Österreicher im allgemeinen, der Bürokraten insbesondere, ihre Sagazität, die auch Humanität ist und die nur eine jahrhundertelange administrative und diplomatische Erfahrung, insbesondere im Gebiet der Nationalitäten, ermöglichen konnte. Diese Sagazität ist aber keineswegs ein Korrektiv des österreichischen reinen Toren; sie ist dieselbe scheinbare Torheit auf einer höheren Ebene, eine durch Instinkt und Erfahrung geformte Intelligenz, die allen Nationalitäten gerecht werden wollte, soweit es eben ging, wohl wissend, daß jeder Ausgleich nur provisorisch sein kann, aber auch, daß das Leben selbst ein ununterbrechbarer Ausgleichsprozeß ist. Noch ein Jahr vor 1914 glaubt Musil, oder gibt vor zu glauben, daß die Donaumonarchie ein Miniatureuropa war, das Einheitlichkeit und Vielfältigkeit harmonisch verband und als Muster für das von allen ersehnte Großeuropa hätte dienen können, wenn (ja, wenn!) der Weltkrieg nicht gekommen wäre.
Mit Musil habe ich angefangen, mit ihm möchte ich schließen. Mitteleuropa als die Einheit des Donaugebietes wurde ein geschichtlicher Begriff, als Österreich seinen Höhepunkt längst überschritten hatte; deshalb ist es heute oft von wehmütigen Gefühlen begleitet, besonders wenn man im neuentdeckten Wiener fin de siècle die vollkommenste Verwirklichung der angeblich paradiesischen »Welt von Gestern« sieht. Teilen wir aber die Musilsche Deutung der Sagazität und Humanität Kakaniens, so dürfen wir getrost behaupten, daß es noch immer da ist: ist es ja nur eine besondere Form, eine besonders glückliche Form jener Gemeinschaft der Menschen guten Willens, die es immer gab und immer geben wird.