Friedrich-Gundolf-Preis

The »Friedrich-Gundolf-Preis« has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964.
As a »Prize for German Scholarship Abroad«, for 25 years it was exclusively awarded to linguists and literary scholars at foreign universities.
However, the prize has also been awarded to persons outside of academia who are committed to imparting German culture and cultural dialog since the prize was renamed the »Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland« (Prize for the Imparting of German Culture Abroad) in 1990.
The Friedrich Gundolf Prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy. It has been endowed with €20,000 since 2013.

Claude David

Germanist
Born 8/7/1913
Deceased 26/11/1999
Member since 1977

Sein Werk hat die europäische Versöhnung gefördert.

Jury members
Kommission: Richard Alewyn, Eduard Goldstücker, Herman Meyer

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Lob der Philologie und des Humanismus

Ich kann nicht sagen, verehrter Herr Präsident, meine Damen, meine Herren, daß Sie mit der Erteilung des Preises für Germanistik im Ausland meine Wünsche erfüllt haben. Die Nachricht dieses Preises kam eines Tages völlig unerwartet; Sie sind meinen Wünschen zuvorgekommen. Daß Sie mir mit dieser schönen Belohnung – sicherlich der schönsten, die einem ausländischen Germanisten zuteil werden kann – eine Freude bereitet haben, brauche ich kaum zu sagen. Es ist für mich die angenehmste Pflicht, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung meine Dankbarkeit auszudrücken. Eine weitere Freude war für mich, daß Professor Jan Aler es angenommen hat, die Laudatio zu sprechen. Wir kennen uns, lieber Herr Aler, seit vielen Jahren; wir haben lange in derselben Richtung gearbeitet; keiner war mehr als Sie berufen, mich hier vorzustellen; Ihnen auch danke ich aufs herzlichste.
Der Preis, den ich heute erhalte, trägt den Namen des Darmstädters Friedrich Gundolf. Und dieser Name bringt mich um einige Jahre zurück, in die Zeit wo ich über Stefan George arbeitete. Gundolf verdankte dem Dichter Stefan George alles, selbst diesen schönen Namen, der gleichzeitig sich auf Wingolf reimt und den jüdischen Klang des wahren Familiennamens etwas verdeckt. In Gundolf sah George, wie Ernst Morwitz geschrieben hat, »zum erstenmal eine Verkörperung seines Traums von einer neuen Jugend«; Gundolf ist, wie er selbst am Ende seines Lebens betonte, eine Zeitlang »der einzige Jünger« gewesen, in der Sprache des Kreises »der erste geistige Sohn«. Gleich nach der Begegnung mit dem achtzehnjährigen Gymnasiasten schreibt George für ihn die zwölf Gedichte, die im Siebenten Ring die Reihe Gezeiten eröffnen. Gundolf seinerseits bleibt beinahe zwanzig Jahre lang der Getreue unter den Getreuen; keiner hat in solchem Maße für die Verbreitung der Georgeschen Sehweise gewirkt. Ich hätte ihn mit ein wenig Glück in Heidelberg fast hören können, und habe stets bedauert, eine Gundolfsche Vorlesung nicht erlebt zu haben, obwohl mir später wiederholt erzählt wurde, daß er mit matter Stimme und ohne Pathos las und daß bei ihm das Geschriebene weit wirkungsvoller als das Gesprochene gewesen sei. Ich habe manchmal gegen ihn polemisiert. Wir wissen heute, daß sein Buch über George, wie etwa Nietzsches Richard Wagner in Bayreuth, kurz vor dem Bruch und dem endgültigen Abschied verfaßt wurde, ein Buch der Pietät und der Trauer, gewiß nicht das Beste, was er geschrieben hat. Wir wissen auch, daß er manchmal die massivste Ungerechtigkeit an den Tag legen konnte: gegen Hofmannsthal gehässig, gegen Kleist oder die Romantiker ablehnend, gegen die meisten Modernen taub. Eine gewisse Intoleranz gehört zu seinem Wesen und muß mit in Kauf genommen werden. Wer aber unvoreingenommen eines seiner Meisterwerke aufschlägt, ist bald anderer Meinung. Die Geisteswissenschaft hat heute einen so üblen Leumund, daß man sich noch kaum traut, sich auf sie zu berufen. Und freilich ist manches an ihr veraltet: mit dieser Mythologisierung des literarischen Schaffens können wir uns nicht mehr ganz versöhnen; wir glauben nicht mehr an die Selbständigkeit und Ursprünglichkeit des Genies; wir sind geneigt, der geschichtlichen und gesellschaftlichen Umgebung eine größere Bedeutung beizumessen, den Wert des Erlebten hingegen viel drastischer einzuschränken. Die synthetische Kraft von Gundolfs Darstellung setzt uns dessenungeachtet immer weiter in Erstaunen. Kein anderer weiß in der Entwicklung eines Dichters oder einer Periode mit solcher Genauigkeit und Schärfe die Etappen darzustellen; die literarische Wirklichkeit wird gleichsam in ein Netz von Abstraktionen gefangen genommen. Mit der ihm eigenen triadischen Darstellungsweise geht Gundolf mit Entschiedenheit seinen Weg weiter. Was entsteht, ist ein monumentales Gebäude, wo jeder Steinquader an seinem richtigen Platz steht, ein aus Begriffen und Beziehungen erbautes Wunderschloß. Auch wenn wir ihm im Einzelnen nicht immer folgen, haben wir an seinem Goethe, an seinem Shakespeare noch viel zu lernen. Aber selbst wenn wir nicht mehr von ihm lernen wollten: was aufrecht bleibt und der Zeit Trotz zu bieten scheint, sind diese riesigen gedanklichen Gedichte über Goethe, Shakespeare, Cäsar und andere. Auf dieser Ebene kann mit ihm kein anderer verglichen werden.
Sie erwarten nun, daß ich Ihnen etwas über mich erzähle. Von mir ist aber eigentlich wenig zu erzählen. Vielleicht nur dieses: daß ich mein zwanzigstes Jahr nicht ganz erreicht hatte, als der Nationalsozialismus an die Macht gelangte. Für einen angehenden Germanisten war das gewiß kein günstiges Omen. Nicht, weil Deutschland plötzlich uninteressant geworden war. Gerade damals hat man Deutschland viel Interesse entgegengebracht und, was man inzwischen etwas vergessen hat, besonders in gewissen fortschrittlichen Kreisen. So groß ist die von der Gewalt ausgeübte Faszination, so bezaubernd der Anblick der Macht, daß man in den Massenkundgebungen das Bild einer wiedergewonnenen Einstimmigkeit und Eintracht zu sehen glaubte. Ich persönlich bin dieser Romantik niemals erlegen – mir war Deutschland bereits vertraut und ich verstand, was damals schon am Werke war. Aber ich habe noch manche Diskussion mit einigen Kommilitonen dieser Zeit genau in Erinnerung. Ich bin dem falschen Zauber nicht erlegen, habe aber auch niemals den von mir erwählten Beruf eines Germanisten in Frage gestellt. Kaum war der Krieg zu Ende, als ich sofort nach Deutschland wieder eilte. In Tübingen gab es eine der wenigen unversehrt gebliebenen Bibliotheken. Im Sommer 1946 war ich in Tübingen und knüpfte mit der Vergangenheit wieder an.
Von dem, was ich geschrieben habe, möchte ich hier nur zwei Arbeiten erwähnen: eine steht am Anfang, die andere bildet das vorläufige Ende meiner Beschäftigung.
Am Anfang Stefan George. Die historische Rolle dieses Dichters war nicht zu verkennen. Er hat die deutsche Lyrik aus dem Schlaf geweckt; er hat ihr neue Wege gewiesen; er hat die Verbindung mit der englischen, der belgischen, der französischen Dichtung, mit der ganzen europäischen Modernität wiederhergestellt. Nicht aber diese Seite hat mich an ihn gefesselt; nicht seine Verwandtschaft mit den Traditionen der Romanität. Sondern umgekehrt: dieses typisch deutsche Schicksal, dieses außerhalb von Deutschland kaum denkbare geistige Abenteuer war mir ein Rätsel, das ich als fremder Beobachter zu lösen versuchte. Zwischen den sinnlosen Schmähungen – die heute noch, Gott weiß warum, weiter wuchern – und der unerträglichen Lobhudelei, mußte, dachte ich, für eine objektive Betrachtung Platz genug übrig bleiben. Diese Objektivität ist bezweifelt worden. In einer Rezension, die offenbar die offizielle Meinung des Kreises darstellen sollte, ist mir »Voreingenommenheit aus Uneingenommenheit« vorgeworfen worden. Voreingenommen gegen Stefan George war ich gewiß nicht. Und doch hatte der Rezensent so unrecht nicht: denn eingenommen war ich auch nicht ganz. Wie sich ein echter Dichter von seiner Rolle derartig gefangenlassen konnte, daß Ideologie und Gesinnung die lyrische Aussage mehr und mehr verdrängten, blieb mir bis zuletzt nicht ganz verständlich. Daß der Dichter ein Führer sei, wollte mir nie ganz einleuchten. Wahrscheinlich war schließlich die Ungeduld an allem schuld, das Bedürfnis, auf die Welt unmittelbar und sofort wirken zu wollen. Ganz eingenommen war ich nicht, aber von dem Machtwillen Georges, von der ungeheuren Faszination, die von ihm ausging, irgendwie doch gebannt. Und der Weg, der ihn von Baudelaires und Mallarmés ätherischen Höhen bis zum geheimen Staat führte, erschien mir auf eine doppelte Weise, für die Zeit der Jahrhundertwende und für Deutschlands inneres Schicksal, exemplarisch.
Der andere Dichter, mit dem ich mich jetzt seit längerer Zeit beschäftige, hat Stefan George hier und da in seinem Tagebuch genannt; George seinerseits hätte ihn wahrscheinlich kaum eines Blicks gewürdigt. Ich meine Franz Kafka. Ich arbeite an einer vierbändigen, vollständigen Ausgabe seines Werkes in französischer Sprache: keine historisch-kritische Ausgabe, denn eine solche ist, so viel ich weiß, in Deutschland geplant und könnte selbstverständlich von keinem einzelnen bewältigt werden, aber eine ausführlich kommentierte Ausgabe. Mein Gefühl ist dieses Mal ganz verschieden von dem, das mich vor vielen Jahren erfüllte, als ich in Georges innere Welt einzudringen versuchte. Zu Recht oder Unrecht habe ich den Eindruck, daß mir Kafkas Gesinnung und sein Gemüt so vertraut geworden sind, daß ich ihm bis in die Tiefen seiner Neurose folgen kann. Vielleicht aber irre ich mich. Jemand – es war, glaube ich, Heinz Politzer – hat einmal bemerkt, daß jeder, der über Kafka schreibt, sich selbst in dem Werk des Dichters widerspiegelt. Dies würde, wenigstens zum Teil, die Buntheit und die Widersprüchlichkeit der immer weiter florierenden Kafka-Interpretationen erklären. Vielleicht haben wir es nur mit einer optischen Täuschung zu tun, und was jeder erblickt, ist nur sein eigenes Bild. Was einigen Lesern an meinem George-Buch gefallen hat, war seine Uneingenommenheit. Wird man mir jetzt eine zu große Eingenommenheit für Kafka vorwerfen? Es kann sein, und die Eingenommenheit besagt nichts über den Wert des Buches. Ich darf aber hier verraten, daß mir selten eine Arbeit so viel Freude bereitet hat.
Damit genug über mich.
Da aber Friedrich Gundolf in diesem Haus Schirmherr und Symbol der Germanistik im Ausland geworden ist, erlauben Sie mir, meine Damen und Herren, über die Germanistik in meinem Land einige Worte zu sagen. In Frankreich, wie überall, hat die Germanistik ihre Spannungen: ein schon alter Streit trennt bei uns die Philologen alter Observanz und die Verteidiger der Deutschlandkunde. Durch die Ereignisse auf der Universität neu entfacht, hatte sich dieser Streit vor etwa zehn Jahren verschärft, und zwei feindliche Lager hatten sich gebildet. Heute, da sich die Leidenschaften etwas gelegt haben, ist es vielleicht erlaubt, an diese brennende Frage zu rühren.
Die Literatur, sagt man, sei nur ein Teil der deutschen Wirklichkeit. Warum drängt dieser Teil das übrige in den Schatten? Warum bildet nur er den Gegenstand des Unterrichts? Es ist Zeit, daß man dem anderen auch sein Recht verschafft. Hier allerdings bilden sich zwei Tendenzen, die sich wiederum gegenseitig befehden. Die eine, aufs praktische Leben gerichtet, will nur das heutige Deutschland, seine Politik, seine Presse, sein Rundfunkwesen usw., kennen: gegen diese Tendenz ist nichts einzuwenden, sie geht folgerichtig ihren Weg. Der Ehrgeiz der anderen Tendenz ist aber viel größer: was ist, sagen diese, aus der deutschen Geschichte, aus der deutschen Malerei und der deutschen Musik, aus der deutschen Philosophie, der deutschen Wirtschaft geworden? Wir möchten mehr kennen als nur Goethe und Schiller; am liebsten möchten wir, wie Wagner im Faust, alles wissen. Und freilich, wer über diese Gebiete nichts wüßte, wäre nicht einmal imstande, gute Philologie zu treiben. Wenn aber alles gleichzeitig angestrebt wird, wenn kein fester Mittelpunkt mehr besteht, wenn sich das Wissen auf diese Weise verzettelt, so läuft man Gefahr, alles auf einmal zu verlieren. Was erwartet man nicht vom Germanisten? Er soll Geschichtsschreiber sein und Kunsthistoriker, und Theologe, und Philosoph, und Nationalökonom. Man erwartet von ihm so viel, daß man schließlich nichts mehr von ihm verlangt. Einer hält eine Vorlesung über deutsche Baukunst, der von Architektur nicht mehr versteht als ein durchschnittlicher Tourist; ein anderer läßt über ökonomische Probleme arbeiten, der von Wirtschaft nicht mehr weiß als ein gewöhnlicher Zeitungsleser. Statt der erstrebten universalen Wissenschaft hat man nur Dilettantismus geerntet.
In der Deutschlandkunde ist aber das Postulat verborgen, daß die Philologie nur eine Wirklichkeit zweiter Ordnung erreicht; die echtere Wirklichkeit sei nur im politischen und sozialen Geschehen enthalten. Der Literatur wird nur eine dekorative Funktion zuerkannt; sie ist eine Beschäftigung für junge Mädchen aus der guten Gesellschaft. Wo die wirkliche Wirklichkeit liegt, ist ein philosophisches Problem, auf das ich mich gewiß nicht einlassen will. Eines aber ist sicher: was die Deutschlandkunde im besten Falle zu bieten hat, ist ein erlerntes Wissen; die Philologie bringt uns unmittelbar mit den Größten ins Gespräch. Von allen Lebensformen ist die Literatur die zugänglichste: sie ist von der Sprache geformt und getragen, die wir selber sprechen. Nichts hindert den Zugang, als nur die Kenntnis der Sprache. Freilich ist sie gleichzeitig auch die verborgenste, indem sich die Absichten und Geheimnisse der Dichter nur langsam und nach langer Vertrautheit enthüllen. Mir ist keine Beschäftigung bekannt, die konkreter wäre als die Lektüre der großen Dichtung. Und ich darf hier hinzufügen, daß diese Lektüre gerade für ausländische Studenten der Germanistik von Nutzen ist, indem diese gezwungen sind, sich in ihnen fremde Denkformen und -traditionen einzuleben. Wo könnte sich der deutsche Geist tiefer, unmittelbarer eröffnen, als in seiner Literatur? Allen Marktschreiern und Zukunftsträumern zum Trotz bleiben wir mit gutem Gewissen bei diesem Glauben.
Um so mehr, als es einem ausländischen Germanisten zukommt, die Rolle eines Vermittlers zu spielen, und weil gerade in Frankreich auf diesem Gebiet viel zu tun übrig bleibt. Das deutsche Schrifttum ist bei uns noch weit davon entfernt, seine Adelsbriefe erworben zu haben. Wer, außer einigen gebildeten Lesern, hat Stifter, Hofmannsthal gelesen? Wer kennt Jean Paul, Brentano? Wer hat den Namen Mörikes nur gehört? Wer, muß man sogar fragen, hat Goethe gelesen? Vor dem französischen Germanisten öffnet sich in der Literatur ein beinahe endloses Feld.
Wer das Lob der Philologie und des Humanismus anstimmt, kann leicht als grießgrämiger, furchtsamer Pedant erscheinen. Thomas Mann war klüger, als er dieses Lob seinem konservativen Carbonaro Settembrini in den Mund legte. Zu einer Zeit aber, wo wir von Bildern ‒ optischen und akustischen – umgeben, überschwemmt sind, ist es vielleicht mehr denn je angebracht, an die Pflege des Wortes zu erinnern. Wie dem auch sei, es war mir eine Freude, vor der Akademie für Sprache und Dichtung für die alte, bescheidene, geduldige Philologie eine Lanze zu brechen.