Friedrich-Gundolf-Preis

The »Friedrich-Gundolf-Preis« has been awarded by the German Academy for Language and Literature since 1964.
As a »Prize for German Scholarship Abroad«, for 25 years it was exclusively awarded to linguists and literary scholars at foreign universities.
However, the prize has also been awarded to persons outside of academia who are committed to imparting German culture and cultural dialog since the prize was renamed the »Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland« (Prize for the Imparting of German Culture Abroad) in 1990.
The Friedrich Gundolf Prize is awarded annually at the spring conference of the German Academy. It has been endowed with €20,000 since 2013.

Alison Lewis

Germanist
Born 12/2/1958

»Am Anfang stand die Dissertation über Irmtraud Morgner an der University of Adelaide. Heute ist Alison Lewis eine international anerkannte Expertin für die Literatur der DDR sowie der Nachwendezeit...«

Jury members
Günter Blamberger, László Földenyi, Daniel Göske, Claire de Oliveira, Marisa Siguan, Stefan Weidner und Leszek Żyliński (Vorsitz)

Laudatory Address by Karen Leeder
Germanist and Translator, born 1962

Verehrter Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Freunde, liebe Alison,
es ist mir eine große berufliche und persönliche Freude, mich heute an Sie wenden zu dürfen zu Ehren der australischen Germanistin Alison Lewis, die mit dem diesjährigen Friedrich-Gundolf-Preis »für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland« ausgezeichnet wird. Alison zählt zu den bekanntesten und aktivsten Germanistinnen Australiens, und wie die Jury bekanntgegeben hat, würdigt diese Auszeichnung ihre einflussreiche Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der deutschen Wiedervereinigung, zum Vermächtnis der DDR und der ostdeutschen Staatssicherheit.
Alisons Beitrag zur Germanistik und zur Vermittlung der deutschen Kultur beschränkt sich jedoch keineswegs auf diesen einen bedeutenden Wirkungsbereich. Ihre Vita umfasst nicht weniger als elf außerordentlich breitgefächerte Forschungsschwerpunkte, von Kleist bis hin zum Kosmopolitismus oder zu Medizin und Psychoanalyse, und schließt einige faszinierende Exkurse zum Spracherwerb sowie – nur auf den ersten Blick frivol – zum Eurovision Song Contest mit ein.
Neben ihrer Forschung zur Staatssicherheit ist es wahrscheinlich ihre langjährige Arbeit auf dem Gebiet des Feminismus und der Geschlechterforschung, die sie am meisten auszeichnet. Ähnlich vielseitig und einflussreich gestaltet sich ihr beruflicher Werdegang. Auf eine erste Anstellung an der Universität von Westaustralien folgten Forschungsund Lehrtätigkeiten in Queensland und seit 1995 an der Universität von Melbourne. Ihr wurden bedeutende Auszeichnungen zuteil, etwa die Vergabe eines Forschungspreises von der Alexander von Humboldt- Stiftung im Jahr 1998 und 2005 die Aufnahme in die Australische Akademie sowie Stipendien für Forschungsaufenthalte in Deutschland, insbesondere in Berlin, wo Alison, denke ich, ebenso zu Hause ist wie in Melbourne oder es zumindest sein könnte, wenn da nicht der fehlende Meerblick wäre. Sie hat Vorlesungen in Brasilien, Tschechien, Schweden, den USA und Indonesien gehalten, um nur einige zu nennen, hat dem Beruf aber ebenso in der Heimat gedient als Gründungsherausgeberin des Journals Limbus, als Präsidentin des Australischen Germanistenverbandes und an der Universität von Melbourne als Prodekanin an der geisteswissenschaftlichen Fakultät, als Lehrstuhlinhaberin für Europäische Sprachen und schließlich als Studiendekanin an der Graduate School. Ich erwähne diese Ämter, da ich weiß, wie sehr Alison sich für German Studies als Universitätsfach sowie Humanities im Allgemeinen eingesetzt hat, aber nicht zuletzt deswegen, weil dies alles eine zentrale Rolle spielt in der Vermittlung der deutschen Kultur und darüber hinaus wesentlich zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der allgemeinen Revitalisierung des Fachbereichs beiträgt. D. h., bleibendes akademisches Verdienst misst sich nicht nur oder nicht einmal in erster Linie an einer beeindruckenden Liste von Veröffentlichungen, sondern am Denken, das es inspiriert, und an den nachfolgenden Generationen, die es unterstützt und befähigt.
Seit ihrer Promotion im Jahr 1990 hat Alison elf Bücher und über siebzig Artikel und Beiträge in Sammelbänden veröffentlicht sowie bisher vierzehn Themenhefte von Limbus herausgegeben. Sie ist eine der wenigen Kollegen, deren Arbeiten ich nie zu lesen versäume. Eine pauschale Zusammenfassung lässt sich angesichts einer solchen Breite von Forschungsinteressen kaum vornehmen, aber bei der Re-Lektüre ihrer Arbeiten ist mir aufgefallen, wie frisch sich diese lesen, was für eine beeindruckende Kommunikatorin Alison ist. Überaus fachkundig natürlich, aber auch radikal, leidenschaftlich engagiert, menschlich, unerschrocken.
Sie bezieht Stellung zu strittigen Themen, oft im Namen der Marginalisierten, oft ihrer Zeit voraus. Immer hoch differenziert und interdisziplinär, aber vollkommen klar und anschaulich, im Bewusstsein eines Publikums, zu dem es eine Verbindung herzustellen gilt. Und stets darauf bedacht, zu ergründen, wie das Menschliche, das Politische und das Ästhetische aufeinander einwirken und das Leben in seinem ganzen Facettenreichtum die Formen der Literatur prägt.
Alisons erste Veröffentlichung und zugleich die erste, der ich begegnet bin, war Subverting Patriarchy: Feminism and Fantasy in the Works of Irmtraud Morgner, in der sich Alison damit auseinandersetzt, wie das Phantastische in Morgners Werk einerseits der feministischen Kritik an der Geschichte des Patriarchats dient und andererseits transgressive feministische Alternativen auf deren Realisierbarkeit hin prüft. Ihr Forschungsansatz vereinigt literaturgeschichtliche, semiotische, soziale, feministische und marxistische Perspektiven in einer hoch innovativen Analyse von Morgners Schaffen. Aber Alison macht Morgner dadurch auch für eine englischsprachige Leserschaft zugänglich und legt damit die Grundlage für einen Großteil künftiger Morgner-Forschung im Ausland. Eine ähnliche Haltung liegt all ihren Beiträgen auf dem Gebiet zugrunde: zu Karen Duve, Birgit Vanderbeke, Sigrid Damm, Brigitte Burmeister; zur Reiseliteratur von und über Frauen, zu den ›Technologien des Geschlechts‹, zu Macht und Autorität, Familie, Arbeit oder der Kodierung der Liebe. Derselbe Ansatz erstreckt sich über Zeitalter, wie in ihrer Arbeit zu Kleist und Gewalt, und über verschiedene Medien, wie in der 2009 erschienenen Untersuchung Eine schwierige Ehe. Liebe, Geschlecht und die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung von literarischen Werken bis hin zu Comicstrips.
Einige dieser Interessen tauchen in ihren Arbeiten über Literatur und Medizin wieder auf, namentlich in A History of the Case Study:
Sexology, Psychoanalysis, Literature
, 2017 herausgegeben mit Birgit Lang und Joy Damousi. Dieser wahrhaft radikale Forschungsband beleuchtet die Geschichte der »Fallstudie« zu einer Zeit, in der diese das Genre par excellence war, dessen man sich bediente, um die menschliche Sexualität in den Geistes- und Lebenswissenschaften zu diskutieren. Alison liefert hier einen faszinierenden Beitrag zu Döblin, aber im Rückblick sind zwei Dinge besonders bemerkenswert: das anhaltende Interesse an der Psychoanalyse, das ihre Auseinandersetzung mit all ihren menschlichen Subjekten bestimmt, aber auch ihre bahnbrechende Arbeit an der Fallstudie als Gattung, in der bereits anklingt, wie sich Alison später auch mit den Stasiakten gattungstechnisch auseinandersetzen wird.
Ihre Studie Die Kunst des Verrats. Der Prenzlauer Berg und die Staatssicherheit kam 2003 heraus, im selben Jahr, in dem Anna Funders Stasiland einen durchschlagenden Erfolg erzielte. Die Kunst des Verrats nimmt sich die Beziehung zwischen dem Ministerium für Staatssicherheit in der DDR und der Untergrund-Künstlerszene des Prenzlauer Bergs als Gegenstand der Untersuchung vor, um dem Schwarz-Weiß-Denken und der moralischen Entrüstung der Zeit ein zeitgerechtes Korrektiv entgegenzusetzen. Von den kürzlich veröffentlichten Akten Gebrauch machend, analysiert Alison die paradoxe Rolle der »Inoffiziellen Mitarbeiter« in der Literaturszene, die deren künstlerische Bemühungen zu steuern suchten, gleichzeitig aber auch als Blitzableiter für ihre Ängste dienten und es gewissen Schlüsselmitgliedern erlaubten, zu bestimmten Zeiten ohne Furcht vor Stasi-Repressalien zu agieren. Überdies legt Alison eine originelle Perspektive auf die Künstlerszene in Prenzlauer Berg vor, deren künstlerisches Schaffen die gesellschaftliche Randstellung ihrer Schriftsteller in eine Form von anarchischer ästhetischer Dissidenz sublimierte.
Konsequent vom Impuls bestimmt, politische Gewissheiten zu entlarven und das Wirken der Staatssicherheit neu zu beleuchten, hat Alisons Forschungstätigkeit in den letzten zwei Dekaden eine tiefgreifende Wirkung auf internationale post-kommunistische Studien gehabt. Zum einen ist dies auf ihre Entschlossenheit zurückzuführen, die DDR im Vergleich mit anderen Ostblock-Staaten vor dem Hintergrund des Kalten Krieges zu untersuchen, zum anderen auf ihre Bemühung, die Auswirkung auf die Kinder der Betroffenen zu ergründen. Des Weiteren hat sie aber auch in zwei Sammelbänden und einer Spezialausgabe des US-Journals Monatshefte bahnbrechende Arbeit in gattungstechnischer Hinsicht geleistet in ihrer Untersuchung der Akten auf deren formale und sogar literarische Aspekte hin, was es ihr zum Beispiel erlaubte, die geheime Polizeiakte als eine Form von »feindseliger Biographie« zu lesen. Dieser Meisterstreich bestimmt bis heute die Forschungsarbeit an sowjetischen Staatssicherheitsakten im Ostblock und wird von der jüngeren Generation von Stasi-Forschern im Vereinigten Königreich und in den USA weitergeführt, unter anderen von denjenigen, die sich mit der rumänischen Geheimpolizei befassen.
Alisons gesamtem Forschungskomplex liegt die Überzeugung zugrunde, dass die Fronten zwischen Schriftstellern wie auch der gewöhnlichen Bevölkerung und der ostdeutschen Geheimpolizei selten so klar waren, wie es scheinen mag. Vielmehr ist diese Konstellation in einen komplexen Diskurs eingebettet, in dem Begriffe wie Opfer und Täter mit Vorsicht behandelt werden sollten. Alison hat uns gezeigt, dass die Informationen, die wir Biographien, Porträts oder Archiven entnehmen können, weit weniger unzweideutig sind, als manchmal vorgegeben wird, und dass die Akten selbst bemerkenswert offene Lebensbeschreibungen darstellen.
Hiermit ist die Grundlage gelegt für Alisons neueste Monographie A State of Secrecy: Stasi Informers and the Culture of Surveillance von 2021, eine Art kollektive Biographie oder vielmehr eine Folge von ineinandergreifenden detaillierten Fallstudien zu jenen Individuen, die Denunzianten für die Stasi wurden (sei es aus freien Stücken oder unter Zwang), und gleichzeitig ein chronologischer Bericht über die Verflechtung von Macht und Kunst im sozialistischen Staat. Die Studie stützt sich auf umfangreiche Archivforschung sowie auf Augenzeugenberichte, Literatur und Film und bedient sich einer breiten Auswahl an Forschungsmethoden aus den Bereichen der Biographie, Soziologie, Kulturwissenschaft und Literaturgeschichte bis zur Politikwissenschaft und der Überwachungs- und Geheimdienstforschung. Mit einer Kombination von akribischen Detailstudien, schonungslos scharfsichtiger Analyse und psychologischer Intuition deckt Alison die Dynamik der Geheimhaltung in der DDR auf, aber weit wichtiger noch, die Mechanismen, die den Totalitarismus in der modernen Welt aufrechterhalten. Eine intellektuelle Tour de Force, die so fesselnd zu lesen ist wie die außerordentlichen Geschichten, die darin enthalten sind.
Alison Lewis ist nicht die erste Vertreterin der australischen Geisteswissenschaften, die mit diesem renommierten Preis ausgezeichnet worden ist: 1989 ging dieselbe Auszeichnung an Leslie Bodi, den ungarischen Lukács-Forscher und Repräsentanten der ersten Generation von Germanisten, die aus Europa emigrierte. Bodi etablierte die Germanistikabteilung an der Monash University und bildete eine ganze Generation von Forscherinnen und Forschern aus. Aber ich maße mir an zu urteilen, dass Alisons Einfluss dem seinen um nichts nachsteht. Das Studium der deutschen Kultur wie auch das der Geisteswissenschaften im weiteren Sinn ist an vielen Universitäten außerhalb Europas im Rückgang begriffen. DDR-Studien sind ebenfalls vom Aussterben bedroht. Alison hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, einen Beitrag, der bei weitem zu vielfältig ist, als dass ich ihm hier gerecht werden könnte, der aber im Wesentlichen darin besteht, über die deutsche Kultur zu schreiben, sie zu lehren und andere darin anzuleiten, dasselbe zu tun. Alison ist ein Vorbild dafür, wozu die wissenschaftliche Welt im besten Fall befähigt werden kann: neue Wissensbestände und neue Denkstrukturen zu entwickeln, humane Werte aufrechtzuerhalten, über die politischen Einstellungen des Momentes hinauszugreifen und dabei stets ein selbstkritisches Bewusstsein für die eigene Einstellung zu haben. Sie ist des Weiteren, denke ich, ein Vorbild dafür, was die Auslandsgermanistik leisten kann – engagiert, natürlich aber auch vom Privileg der kritischen Distanz profitierend, jene politischen Allianzen, die manchmal Wahrheiten verschleiern können, kritisch zu durchleuchten.
Es sei dir also gedankt, Alison, für alles, was du erreicht hast, und alles, was du weiterhin erreichen wirst. Es ist mir ein Privileg, diese Worte sagen zu dürfen, und eine absolute Freude, dich heute von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet zu sehen.