STATUT
§ 1
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung würdigt seit 1958 ein übersetzerisches Lebenswerk oder herausragende Einzelleistungen.
Der Preis wird vom Land Hessen gestiftet und ist mit 20.000 Euro dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung der Akademie vergeben.
§ 2
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis berücksichtigt Übersetzungen aus allen literarischen Darstellungsformen. Ausgezeichnet werden Übersetzungen in die deutsche Sprache. Die auszuzeichnende Übersetzung bewegt sich auf dem künstlerischen und sprachlichen Niveau des Ausgangstextes und stellt eine eigene sprachschöpferische Leistung dar.
Eigenbewerbungen sind nicht möglich.
§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden. Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.
§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.
Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Johann-Heinrich-Voß-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.
Das Land Hessen ist mit einem Vertreter bzw. einer Vertreterin beratend an der Entscheidung beteiligt. Die Bekanntgabe erfolgt über eine gemeinsame Pressemitteilung.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 2. November 2022
Voß-Preis für Übersetzung an Stefan Moster
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht den diesjährigen »Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung« an Stefan Moster für seine Übertragungen finnischer Literatur ins Deutsche.
Der mit 20.000 Euro dotierte Preis wird vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur finanziert.
Die Preisverleihung wird am 5. April 2025 in Bozen im Rahmen der Akademie-Tagung stattfinden.
Die Laudatio hält die Lektorin Susanne Gretter.
Übersetzer
Geboren 4.12.1918
Gestorben 16.9.1985
... für seine Verdienste um die Vermittlung unserer Literatur in die polnische Sprache und für seine Übertragungen deutscher Lyrik.
Jurymitglieder
Kommission: Rudolf Hagelstange, Hans Hennecke, Karl Krolow, Horst Rüdiger, Walter Franz Schirmer, W. E. Süskind
Mitglieder des Erweiterten Präsidiums
Einige aktuelle Elemente moderner Lyrik-Übersetzung
Der polnische Verfasser hat diese Rede in deutscher Sprache gehalten und geschrieben; stilistische und grammatikalische Eigenwilligkeiten wird man ihm zugutehalten.
1.
Ich bin selbstverständlich nicht imstande, in einer so kurzen Skizze all das zu sagen, was mir im Hinblick auf die Übersetzung von Lyrik in den Sinn kommt, ganz besonders was die moderne Lyrik anbelangt. Daher will ich mich lediglich auf einige, nur flüchtig hingeworfene Thesen beschränken.
Unter meinen persönlichen Gedanken über dieses Thema nimmt den ersten Platz die sich stets vertiefende Überzeugung ein, daß es immer schwieriger wird, von einer Übersetzung der Lyrik zu sprechen; wenn man in der Praxis auf diesem Gebiet seine Arbeit anständig ausüben will, muß man vorerst überlegen, was man eigentlich tut. Das heißt: ob man Schöpfer, Interpret oder noch etwas anderes ist; dabei schließe ich aber den Gedanken an die Arbeit eines Informanten aus, d. h. eines Menschen, der uns eine philologisch getreue oder zumindest korrekte Übermittlung eines dichterischen Werkes in eine andere Sprache gibt; wobei hier nun auch noch Zweifel entstehen, was man unter philologischer Treue oder Korrektheit verstehen soll; wahrscheinlich nur gleichbedeutende Ausdrücke und annähernd gleichwertige grammatikalische Konstruktionen; doch weiß man, daß man in einem solchen Fall nur ein ungenauer Informant sein wird, da uns bei einer derartigen Prozedur eben das verloren geht, was über die Spezifik des gegebenen Textes entscheidet.
Die Tradition des XIX. Jahrhunderts, besonders der Romantik, kennt noch ein Mittelding zwischen einem Schöpfer und einem Interpreten. Mickiewicz, um hier nur bei Beispielen aus Polen zu bleiben, übersetzte den »Handschuh« von Schiller, Goethes »Mignon« und Byrons »Traum«. Jedoch: bei einer nur scheinbaren Ähnlichkeit entstanden Werke in der polnischen Sprache, die im Hinblick auf die materia poética und auf ihren künstlerischen Charakter vom Original wesentlich verschieden waren. Ähnlich verhält es sich mit der Übersetzung von Calderons »Das Leben ein Traum«, die Slowacki machte. Man könnte wohl sagen, daß wir es hier mit einer sogenannten freien Übersetzung, einer freien Adaption, einer Paraphrase zu tun haben, im besten Fall mit einer anderssprachigen Variante, niemals aber mit einer getreuen Wiedergabe des Originalwerkes: stets schien da die eigene, dichterische Persönlichkeit des Übersetzers durch; Oft übertönte sie sogar die Persönlichkeit des eigentlichen Autors; entscheidend bleibt dabei die persönliche Einstellung des Übersetzers zu seiner Muttersprache. Es entstand also etwas, was man ‒ mutatis mutandis ‒ mit den Variationen von Brahms über ein Thema von Haydn vergleichen kann: Haydn läßt sich da wohl ahnen, doch Haydn selbst existiert dort nicht; es wurde ein Werk mit anderen Werten und Qualitäten geschaffen. »Ad libitum« umfing hier das ganze Werk.
Ich denke, daß man diese Erscheinung wohl genauer untersuchen könnte, wenn jemand den Versuch einer Übersetzung »in der entgegengesetzten Richtung«, z. B. von dem »Handschuh« Schillers nach dem Text von Mickiewicz in die deutsche Sprache riskieren möchte. Ich glaube, die Deutschen würden sich sehr wundern. Und hier kommen wir an den Kern der Frage: die Deutschen würden nämlich zu der Überzeugung kommen, daß der »Handschuh« durch Mickiewicz nicht so sehr übersetzt, als vielmehr interpretiert worden sei. Statt einer Übersetzung haben wir hier eigentlich eine recht eigenartige Kritik des Originaltextes.
In diesem Zusammenhang scheint es erwähnenswert, daß andere, moderne oder spätere Übersetzungen dieser Dichtung, trotz der genaueren Nachahmung des Originaltextes, sich in der polnischen Literatur und unter den polnischen Lesern nicht »eingebürgert« haben. Diese Erscheinung hat also, meines Erachtens, eine recht große Bedeutung.
2.
Es scheint mir nämlich, daß die Tätigkeit eines Übersetzers nicht eine nachahmende, auch nicht eine reproduktive ist und daß sie nicht eine im vollen Sinne des Wortes dichterisch schöpferische Tätigkeit ist, da sie ja stets von der Quelle der Inspiration abhängig bleibt. Diese Abhängigkeit ist aber wiederum recht eigentümlich, da sie die schöpferische Aktivität nicht völlig ausschließt. Kurz: die schöpferische Tätigkeit bei der Übersetzung von Lyrik scheint mir eine interpretatorische, d. h. eine kritische zu sein; wobei ein spezifisches Werkzeug dieser Kritik einer sprachlichen Schöpfung die andere Sprache ist, woraus nun wiederum resultiert, daß wir als Ergebnis einer derartigen schöpferischen und interpretatorisch-kritischen Tätigkeit ein neues sprachliches Gebilde erhalten. Dieses sprachliche Gebilde kann wohl (muß aber nicht) gewisse qualitative Merkmale der Lyrik in der eigenen Sprache besitzen.
Diese kritische Aktivität scheint im Bewußtsein des Kritikers-Übersetzers von gewissen, meistens unbewußten Prozessen, vielleicht Mechanismen begleitet zu sein ‒ von ziemlich komplizierten Begebenheiten jedenfalls, die ‒ meines Erachtens ‒ die Rolle der vermittelnden Elemente spielen; von einer Sprache zu einer anderen führt nämlich kein gerader und direkter Weg. Bevor ich jedoch diese meine These hier näher zu formulieren versuche, möchte ich vorerst eine kleine, praktische Analyse vornehmen, was mir anhand der eigenen Dichtung am leichtesten fällt.
In einem meiner Gedichte befindet sich eine Zeile, die in der polnischen Sprache folgendermaßen lautet:
»smierć gwiazdy śmierdzą«.
Zwei Substantive, einmal im Nominativ Singular, einmal im Nominativ Plural, sowie ein Zeitwort in der dritten Person Plural, Praesens, im Indikativ. Ferner: das erste Substantiv ist mit dem Zeitwort durch eine recht tiefgehende Alliteration verbunden, die mit dem Wortkörper fast identisch ist, wobei diese Alliteration aus Spiranten und einem ziemlich eingeengten, den Akzent tragenden Vokal besteht. Das Substantiv aber, das diese beiden Wörter trennt, besteht aus stimmhaften Konsonanten und einem offenen, den Akzent tragenden Vokal. Der ganze Vers ist also nach dem Prinzip einer möglichst weitgehenden lautlichen Symmetrie bei einer völligen Verschiedenheit der Bedeutungen dieser drei einzelnen Wörter konstruiert. Eine wortwörtliche Übersetzung dieses Verses ins Deutsche lautet:
»der Tod die Sterne stinken«.
Rein zufällig gelang hier zwar eine ‒ wenn auch nicht so tiefgreifende ‒ Alliteration, doch wurde die Symmetrie vernichtet. Aber nicht nur das: angetastet wurde ebenfalls die Bedeutungsschicht der Alliteration; in dem polnischen Text sind nämlich durch Alliteration die Wörter »śmierć« und »śmierdzą« verbunden; im Deutschen hingegen entsteht diese Verbindung zwischen den Wörtern »Sterne« und »stinken«; das Wort »Tod« springt in der deutschen Fassung sozusagen ab und der Vers verliert seine Struktur, trotz Beibehaltung der Reihenfolge wie des Sinnes der Wörter. Nach einer noch tiefer gehenden Analyse wird die Sache fast hoffnungslos. Denn: die allernächsten Assoziationen, die einem sogar nur mittelmäßig gebildeten polnischen Leser bei den Wörtern »śmierć« (der Tod) und »śmierdzą« (stinken) einfallen, lauten wie folgt: »śmieć« (Unrat) und »śmiech« (Lachen), und bei dem Wort »gwiazda« (der Stern) fällt jedem sofort »gwizd«. (der Pfiff) ein. Außerdem bildet die Wortgruppe »gwiazdy śmierdzą« (die Sterne stinken) eine Lautvariante und Anspielung zu der banalen Wortgruppe »gwiazdy świecą« (die Sterne leuchten), von der man von vornherein weiß ‒ ich meine die Anspielung ‒, daß sie sich in eine andere Sprache nicht übertragen läßt. Ich will hier schon gar nicht von solchen Schwierigkeiten sprechen, die infolge des Umstandes entstehen müssen, daß in der polnischen Sprache die Deklination rein flexibel (ohne Anwendung des Artikels) ist und daß man im Deutschen, sogar im Nominativ, den Artikel gebraucht. Doch sogar dann, wenn wir auf Grund der »licentia poética« auf den Artikel zu verzichten versucht wären, würden wir in der deutschen Version nur:
»Tod Sterne stinken«
erhalten, das heißt, es würde uns nicht gelingen, die Symmetrie wiederzugewinnen. Die zwei in diesem Fall möglichen Inversionen: »Sterne Tod stinken« und »stinken Tod Sterne« haben wohl in der deutschen Sprache keinen Sinn. Und selbstverständlich sind dort die Bedeutungen nicht so durch Alliterationen verbunden wie im Polnischen. Na schön, mag jemand sagen, aber wenn man die Lizenz noch erweitern und ‒ ganz korrekt ‒ Deutsch schreiben würde:
»die Sterne im Tode stinken«? ‒ oder:
»es stinken im Tode die Sterne«?
Es scheint mir, daß wir ‒ besonders in dem letzten Fall ‒ einen Vers erhalten, der zwar seinem Sinn nach vom polnischen Original entfernt, doch aber in einer deutschen Dichtung verwendbar wäre. Jedoch ‒ si parva magnis comparare licet ‒ ist das Verhältnis zwischen diesen beiden poetischen Texten ähnlich, wie zwischen dem Originalthema von Haydn und, sagen wir, der dritten Variation von Brahms. Darüber hinaus, eben in diesem einzelnen Fall, wird eine gewisse Reaktion beim gebildeten deutschen Leser rege, der wahrscheinlich in der letzten Formulierung dieses Verses (in der deutschen Sprache) eine Allusion zu Goethes »Faust« empfinden wird: »es sinken die Sterne«, was dem polnischen Verfasser durchaus fern lag. Soll man wohl derartige Allusionen vermeiden? Ich möchte hier keine endgültige Antwort geben; da dies eben mit der Eigenschaft der Übersetzungsarbeit als einer kritisch-interpretatorischen Tätigkeit zusammenhängt. Und eine kritisch-interpretatorische Tätigkeit muß nicht immer auf die Absichten des Autors Rücksicht nehmen, sogar, wenn diese bekannt sind. Unter gewissen Vorbehalten und bei einem gewissen Taktgefühl gilt hier das Prinzip der Auswertung der Möglichkeiten, die im Text verborgen sind.
3.
Welche sind nun die Begebenheiten im Bewußtsein des Übersetzers, d. h. eines Kritikers und Interpreten, von welchem ich zuvor sagte, daß sie vermittelnde Eigenschaften besitzen?
Ich gestatte mir hier eine ‒ zweifellos apodiktische ‒ Intuition auszusprechen (ihre Begründung würde jedoch zu viel Platz in Anspruch nehmen), daß die Vermittlung zwischen Originaltext und Übersetzungstext durch ein gewisses Vehiculum zustande kommt, das ich einem Ensemble von leeren Zeichen vergleichen möchte, die in einem gewissen Sinne analog zu solchen scheinen, die wir in der Mathematik oder Logik verwerten; das heißt Zeichen, welchen wir ‒ mit gewissen Einschränkungen selbstverständlich ‒ veränderliche Werte (Variable) unterstellen können. Am leichtesten läßt sich das wohl an einem Beispiel von idiomatischen Ausdrücken, sagen wir ‒ an Sprichwörtern ‒ erklären. Wenn ich in einer fremden Sprache auf ein Sprichwort stoße, dann steht mir, da ich keine wortwörtliche Fassung dafür in der Sprache, in die ich übersetze, finden kann, zweierlei zur Wahl: entweder ein analoges Sprichwort zu finden, oder aber etwas zu erfinden, was in dieser anderen Sprache an ein Sprichwort erinnert, oder auch endlich dieses Sprichwort zu übersetzen; jedenfalls aber entsteht in meinem Bewußtsein etwas wie ein leerer Raum, oder besser noch: eine »Zelle«, und ein sinnvolles Ausfüllen dieses Raums hängt eben von der Durchführung der doppelten Kritik ab: sowohl der Sprache des Originals wie der Sprache der Übersetzung. Diese beiden Sprachen kritisieren sich nämlich gegenseitig, doch sozusagen auf neutralem Grund, durch die Sprache der leeren Zeichen ‒ und so ist dieses neutrale Gebiet in dem Bewußtsein des Übersetzers mehr oder minder formalisiert; diese Formalisierung bezieht sich natürlich auch auf die Schemata der Grammatik, der Syntax, des Stils, die Schemata der verschiedenen Konventionen, die Schemata der Prosodie, der Versifikation usw.
Nun entsteht die Frage: wodurch werden diese Zeichen bestimmt? Wie und was bestimmt dieses variable »X« im Bewußtsein des Übersetzers? Und welche sind die Grenzen dieser Variabilität? Grob verkürzt verstehe ich die Frage wie folgt:
Ich akzeptiere das Prinzip von Mallarmé ‒ wenigstens hinsichtlich der modernen Lyrik ‒, daß eine Dichtung aus Wörtern konstruiert wird; daraus resultiert für mich, daß die einzelnen Wörter im Akte der Schöpfung füreinander undurchdringbar bleiben, sie haben miteinander nur in der Weise Fühlung, wie die Wände der Ziegelsteine bei der Errichtung einer Mauer; ein Kontakt zwischen den Wörtern erfolgt erst in der nächsten Phase, d. h. in der Phase des Empfangs; dieser Kontakt zwischen den Wörtern befreit erst die Kraft, die bis jetzt im Wort eingeschlossen war, es erfolgt nun ein mehrdeutiges Versprühen dieser Kraft, wobei sich die einzelnen Strahlen dieses Versprühens gegenseitig kreuzen. Anders gesagt: das Wort hat im schöpferischen Akt nur potentielle Energie, im Akt des Empfangs wird die kinetische Energie frei, und zwar ‒ was wohl das Wichtigste ist ‒ unter aktiver Teilnahme des Empfängers (Lesers).
In diesem Sinne ist also das Wort in der Phase des schöpferischen Aktes »ein Zustand, der zugleich auch eine Möglichkeit ist«, wie die Physiker sagen; mehr noch: ein Zustand, der zugleich mehrere Möglichkeiten in sich birgt, deren Verwirklichung durchaus nicht determiniert ist; diese Verwirklichung, die ja letzten Endes nichts anderes ist als die Verbindung des Zeichens mit dem Signifikat, oder viel mehr ‒ bei einer großen poetischen Energie ‒ mit zahlreichen Signifikaten, mit verschiedenen signifikativen Möglichkeiten des Zeichens, erfolgt im Akt des Empfangs.
Das heißt: die Zeichen, von welchen ich hier spreche und die ich per analogiam leere Zeichen nenne, werden in ihrem »Zustand« bestimmt und beschränkt durch die Anhäufung der »Möglichkeiten«, wobei diese Beschränkung und Bestimmung in jedem einzelnen Fall nicht fest umrissen, vielmehr »flüssig«, und wiederum von der Aktivität und dem Grad der Phantasie des Empfängers abhängig ist.
Nun läßt sich auch schon die Spezifik der Arbeit des Übersetzers deutlicher sehen. Der Übersetzer überträgt nämlich ein Zeichen (sagen wir: ein Wort, obwohl es nicht immer so ist) intakt, d. h. in seinem »Zustand«, mit den noch nicht versprühten »Möglichkeiten« in ein Gebiet, das wir ‒ nach Vereinbarung ‒ Wörterbuchgebiet nennen können. In diesem Wörterbuchgebiet erfolgt nun die eigentliche Konfrontation der Wörterbuch-Synonyme zweier Sprachen, die ein wesentlicher Faktor der intersprachlichen Kritik ist. Im Bewußtsein des Übersetzers findet ein Versprühen der »Möglichkeiten« der Zeichen in beiden Sprachen statt und bei diesem Versprühen zugleich auch ein Zusammenstoß; die Wörterbuch-Synonyme zerfallen, jedes in viele Signifikate, doch in jedem Sprachbereich sind diese Signifikate verschieden; eine Identität der Signifikate findet nur zum Teil statt, es verbleibt immer ein gewisser »Rest«, der sich bedeutungsmäßig nicht deckt; das Kraftfeld der Zeichen in der einen und in der anderen Sprache ist fast immer etwas verschieden, und das gegenseitige Verhältnis dieser Felder zueinander ist meistens zwei dekonzentrischen Kreisen ähnlich, deren Flächen sich nur teilweise decken. Meines Erachtens erleichtert auch derjenige Teil, wo sich diese Kreise eben decken, dem Übersetzer keinesfalls die Entscheidung.
Ganz allgemein gesprochen haben wir es also bei der Übersetzung eines dichterischen Textes und insbesondere der Lyrik nicht mit einer »Übertragung« dieses Textes von einer Sprache in die andere zu tun, sondern mit einer Kritik des Textes, der in der gegebenen Sprache geschrieben wurde, durch das Interpretationswerkzeug einer anderen Sprache, doch ist dieses Werkzeug, was wir offen bekennen dürfen, nur scheinbar dafür geeignet. Da ja darüber hinaus der eigentliche Vorgang, wie ich es hier aufzuzeigen versuchte, auf dem vermittelnden Gebiet der »leeren« Zeichen verläuft, so können wir, indem wir die Definition von Schopenhauer für die Ironie als das Ergebnis der Vermittlung annehmen, sagen, daß der Sinn der Arbeit eines Übersetzers tief ironisch sei.
4.
Diese Ironie möchte ich an einem, wie mir scheint, vielsagenden Beispiel zeigen. Es ging dabei um einen Versuch, den Titel des Gedichts von Walter Höllerer »Ich sah ich hörte« zu übersetzen. Der deutsche Text ist grammatikalisch vieldeutig und läßt sich nachfolgend auslegen: 1. »Ich sah (und) ich hörte«, wie auch: 2. »Ich sah (daß) ich hörte«, oder aber auch noch: 3. »Ich sah (als ob) ich hörte«. Möglichkeiten einer derart vieldeutigen grammatikalischen Konstruktion gibt es im Polnischen nicht und daher sind die »leeren« Zeichen in dem vermittelnden Gebiet bei der Konfrontation Polnisch-Deutsch ziemlich hohl, ich würde sogar behaupten: geradezu intensiv hohl. Im Polnischen haben wir da also gleich zu Anfang drei Übersetzungsvarianten, die philologisch den drei Möglichkeiten des Lesens dieses Textes in der deutschen Sprache entsprechen: 1. »Widziałem i słyszałem«, 2. »Widziałem że słyszałem« und 3.»Widziałem jakbym słyszał«. Die praktische Frage für den Übersetzer lautet: kann man eine Wahl zwischen diesen drei Varianten treffen? Meines Erachtens: entschieden nein! Das Zeichen in dem vermittelnden Gebiet wurde von der polnischen Seite nicht voll ausgefüllt, der deutsche Text suggeriert hier noch andere Möglichkeiten, das Hohle in dem Zeichen wird immer intensiver.
Ich will hier nicht die einzelnen Phasen beschreiben, durch welche ich dann zu einer Lösung kam, die mir persönlich im Polnischen annehmbar erscheint. Ich will lediglich die Lösung selbst anführen: »Widziałem w słuchaniu« ‒»Im Hören sah ich«, oder genauer, doch etwas anders nuanciert: »Ich sah im Hören«. Allein schon die Möglichkeit einer Inversion zeugt davon, daß der kritische Vorgang, den durchzuführen ich bemüht war, arg ironisiert ist.
5.
Ich sage das alles im Bewußtsein, daß das Leben eines Kunstwerkes, also auch einer Dichtung, in der heutigen Zeit recht eigenartig ist. Seit etwa hundert Jahren steigert sich die Rolle der Interpretation: vor hundert Jahren war die Interpretation eigentlich nur Beschreibung oder Kommentar; heute wird sie in einem stets ansteigenden Grad zur kritischen Mit-Schöpfung, zum Eingriff in das Werk selbst, das dadurch eine größere Intensität gewinnt, ich würde sagen: zu schillern beginnt. Man kann wohl sogar die Behauptung riskieren, daß im heutigen Leben der Kunst erst das Werk plus Kritik zu einem vollen, kompletten Werk wird.
Die Übersetzung ist eine der wichtigeren Arten der Interpretation und der Kritik eines Werkes; um so wichtiger, als sie sich in der intersprachlichen, also internationalen Sphäre abspielt. Anthropomorphisierend könnte man wohl sagen, daß dadurch, daß sich die Sprachen in ihren besten Werken gegenseitig kritisieren, auch die Völker dies tun, also intensiver miteinander verkehren. Und daß diese Kritik ironisch ist? Um so besser! Die große Ironie fußt auf Verständnis; Verständnis aber bringt Verständigung.