STATUT
§ 1
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung würdigt seit 1958 ein übersetzerisches Lebenswerk oder herausragende Einzelleistungen.
Der Preis wird vom Land Hessen gestiftet und ist mit 20.000 Euro dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung der Akademie vergeben.
§ 2
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis berücksichtigt Übersetzungen aus allen literarischen Darstellungsformen. Ausgezeichnet werden Übersetzungen in die deutsche Sprache. Die auszuzeichnende Übersetzung bewegt sich auf dem künstlerischen und sprachlichen Niveau des Ausgangstextes und stellt eine eigene sprachschöpferische Leistung dar.
Eigenbewerbungen sind nicht möglich.
§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden. Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.
§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.
Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Johann-Heinrich-Voß-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.
Das Land Hessen ist mit einem Vertreter bzw. einer Vertreterin beratend an der Entscheidung beteiligt. Die Bekanntgabe erfolgt über eine gemeinsame Pressemitteilung.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 2. November 2022
Übersetzerin und Dolmetscherin
Geboren 3.11.1944
Dabei gelingt es ihr, ihre Nachdichtungen zu einem Kunstwerk eigenen Ranges in deutscher Sprache zu machen.
Jurymitglieder
Kommission: Friedhelm Kemp, Werner von Koppenfels, Roswitha Matwin-Buschmann, Lea Ritter-Santini, Michael Walter, Hans Wollschläger
Mitglieder des Erweiterten Präsidiums
Laudatio von Georg Witte
Der Autor als Übersetzer
Alexander Puschkin errichtet sich 1836 sein berühmtes Monument. Nicht aus Stein − aus Worten. Das Überleben, der Ruhm des Dichters in der Nachwelt wird hier beschworen.
»In tausend Zungen kehrt dereinst mein Ruhm zurück!
Dann kennt der Slawe mich, der Finne und Tunguse,
Selbst in der Steppe der Kalmück.«
Mit anderen Worten: Der Ruhm des Dichters besteht darin, daß er übersetzt ist! Puschkin ist übersetzt, und mehr als das − er ist zu einem solch starren Monument geworden, daß er sich auch einmal wie sein eigener »eherner Reiter« in Bewegung setzen könnte, seine Götzendiener zu jagen. Er muß heute schon wieder rückübersetzt werden in die eigene Geschichte, in den eigenen Text, in das eigene Leben.
Dieses Bild sieht Andrej Bitow, ein Autor, der sich um die Rückübersetzung Puschkins verdient gemacht hat. In der Erzählung Ein Photo von Puschkin (1985) führt er das zitierte Zitat ein weiteres Mal auf. Aber es kommt nun aus dem Munde eines Funktionärs, und es wird gewissermaßen medial umkodiert. Zum dreihundertsten Geburtstag, zur Jubiläumsfeier im Jahre 2099 wird ein Photo des Dichters benötigt. Das sei die zeitgemäße Erfüllung der Vision Puschkins vom Nachruhm. Also nicht mehr der Text, sondern das Bild ist der Garant eines Wissens vom Autor. Und auf die Jagd nach eben diesem Photo wird ein Philologe aus dem 21. ins 19. Jahrhunderts zurückgeschickt. Bitows Text ist ein Text vom Ende des Übersetzens.
Rosemarie Tietze übersetzte diesen Text vom Ende des Übersetzens, und auch ihr fällt in ihrem Nachwort ein ähnliches Bild ein. Ihre Übersetzung sei »eine zur Momentaufnahme erstarrte Bewegung« des in permanenter Umstellung befindlichen Bitowschen Texts, eine Momentaufnahme in einer fremden Sprache.
Ich finde in dieser, wie ich vermute, nicht einmal absichtlichen Koinzidenz ein kleines Aufblitzen jener Beziehungen zwischen Autor und Übersetzer, das die Person und Produktion Tietze verkörpern. Rosemarie Tietze paßt nicht in die rührende Rolle des »Mediums«, die ja immer ein ontologisches Gefälle zwischen einem echteren Text und einer unechteren Übersetzung voraussetzt. Sie paßt noch viel weniger in das primitive Spiel der »vertauschten Rollen«: der Übersetzer als Autor... Als wenn es so einfach wäre, als wenn alle Kreativität, alle Erfindungsgabe, alle Interpretationsleistung des Übersetzers den einen elementaren Sachverhalt vom Tisch wischen könnte: daß es eben nie und nimmer ein eigener Text ist, den der Übersetzer produziert, daß es immer der fremde Text bleibt.
Rosemarie Tietzes Konstellation ist eine andere: sie macht den Autor zum Übersetzer. In ihrer Arbeit begegnen sich zwei Übersetzer − im philosophischen wie im handwerklichen Sinn. Zum Kult des Originals hat sie sich dezidiert geäußert: »Jedes Kunstwerk ist ein Weiter, es greift auf, lehnt sich an, übernimmt, hält entgegen, fuhrt fort, wandelt ab − es transformiert. Mit anderen Worten: es ›übersetzt‹!« Und handwerklich, handgreiflich wird es dann, wenn sie den Autor ins Übersetzen seiner eigenen Texte einspannt. Rosemarie Tietze ist eine fragende, den Autor »löchernde« Übersetzerin. Und ihre Fragen können dann zum Anstoß werden für die Fortsetzung der Geschichte. Dann übersetzt sich der Autor in eigene Sprache.
Auf der Jagd nach dem Puschkin-Photo scheucht Bitows Held, als er im Schneefeld seinem Objekt auflauert, einen Hasen auf. Der Hase springt ins Feld des Autors, ins Feld seiner Geschichte, seiner Biographie − aufgescheucht vom Gast aus der anderen Zeit. Über diese Stelle hat es offensichtlich eine besonders intensive Diskussion zwischen den beiden Übersetzern, zwischen Bitow und Tietze gegeben, und auch dies ist kein Zufall. Denn die Stelle ist eine utopische Lücke in dieser Geschichte, die ansonsten ihren Helden − den zeitreisenden Literaturwissenschaftler − in einen Eindringling verwandelt. In der leibhaftigen Begegnung mit seinem »Gegenstand«, mit Puschkin stellt sich heraus, daß sein akkumuliertes Wissen von aggressivem Charakter ist. Puschkin verwechselt »seinen« Philologen mit einem Spitzel der zaristischen Polizei.
In dieser Fabel formuliert sich eine Angst, dem zeitlich und räumlich Fremden mit unserer Sprache, mit unserem Wissen, mit unseren Interpretationen zu Leibe zu rücken. Oder genauer gesagt: weniger eine Angst, als vielmehr eine Vorsicht, gründend auf der Einsicht eben in die Notwendigkeit dieser »Entstellung« − als Bedingung allen Wissens, allen Verstehens, allen Übersetzens − und dem gleichzeitigen Einkalkulieren der damit verbundenen Gefahren. Eben diese gemeinsame Vorsicht provoziert wohl die Diskussion der beiden Geistesverwandten. Und Bitow schreibt nach diesem Gespräch seinen Text weiter, über den Hasen, und daß der es war, der den abergläubischen Puschkin auf seinem Weg nach Petersburg im Dezember 1825, wenige Tage vor dem Dekabristenaufstand, zurückkehren ließ. Ohne den Hasen, ohne den Helden, ohne den »Eingriff« fremden Wissens − ein am Strick baumelnder Puschkin?
Vieles von der Einstellung des Übersetzers offenbart sich in den »Apparaten«, in Nachworten, Anmerkungen, Fußnoten, Quellenangaben: Der Übersetzer übersetzt hier seinen eigenen Text. Rosemarie Tietzes »Apparate« sind von dieser Vorsicht gegenüber dem Fremden geprägt. Sie sind dienend, sind nicht klüger als den Autor, sie machen den Übersetzer nicht zum Lehrer des Lesers. Rosemarie Tietze läßt den Text dem Autor und seiner Kultur, sie läßt ihn fremd, anstatt von der irrigen − in der Sprache der Lektoren: »leserfreundlichen« − Annahme auszugehen, ein russischer Text müsse vom deutschen Leser so gelesen werden wie ein russischer vom russischen, ein deutscher vom deutschen. Nein − als russischer muß er gelesen werden. Eben diesem Ziel dient die Übersetzung ins Deutsche − daß er russisch bleibt, dieser Text.
Rosemarie Tietze nennt ihre Anmerkungen »Fundstücke«: Sie ist nicht die Mitautorin, die dem Leser fürsorglich den präparierten Text aushändigt, sondern sie ist die erste Leserin. ›Legere‹ heißt sammeln, aufsammeln. Tietze wandert, wie nach ihr auch die anderen Leser, über Text und Kontext als ein Feld: Und was sie dort schon einmal findet, das hinterläßt sie den Folgelesern als Proviant.
Der Autor als Übersetzer − auch andere der von Rosemarie Tietze übersetzten zeitgenössischen Autoren passen in diese Rolle, jeder auf eine eigene Art und Weise: Wassilij Axjonow, Russe in Amerika, ein Übersetzer zwischen den Kontinenten, dessen Rosa Eisberg sie in einem Schub verbaler Erfindungskraft übertragen hat; Jewgenij Popow, Russe in Rußland, Übersetzer zwischen den in interkontinentale Entfernungen auseinanderdriftenden Jargons des zerfallenden Sowjetreichs; Ljudmilla Petruschewskaja, eine Übersetzerin zwischen den tradierten Mythen der russischen Intelligencija und dem »Bodensatz« der zeitgenössischen russischen Gesellschaft. Und schließlich − für die russische Kultur eine kardinale Konstellation: die Übersetzung zwischen Metropole und Provinz! Unter Rosemarie Tietzes Leitung erstellte eine Übersetzergruppe den Sammelband Sibirische Erzähler − wohl die erste literarische Präsentation der russischen Provinz in deutscher Sprache.
Die angeführten Namen sind Embleme einer Epoche. Sie stehen für eine Literatur, die sich − nach der gutgemeinten, aber eindimensionalen Entstalinisierungsliteratur der fünfziger und sechziger Jahre auf das Potential der Sprache rückbesinnt. Mit Bitow, Axjonow, Tarkowskij sind Autoren vertreten, die schon seit den sechziger Jahren zu den Experimentatoren einer sprachlichen Erneuerung zählen und darum zu Vorbildern der jüngeren Generation wurden. Metropol, jener illegalisierte, in Autorenregie zusammengestellte Almanach aus dem Jahre 1974 war ein Programmbuch dieser neuen Literatur, und es ist sicher kein Zufall, daß einige der von Rosemarie Tietze übersetzten Autoren bereits an diesem Projekt beteiligt waren. Hier stoßen wir in jene Dimension vor, in der die Übersetzerin mehr ist als eine perfekte sprachliche Reproduktionsmaschine, in der sie einen Namen hat, der etwas markiert, der einsteht für eine ästhetische Tradition.
Tietzes Ausflüge in die erste Hälfte des Jahrhunderts bestätigen dies, sei es in der Übersetzung Nabokows (Erzählungen 1921-1934), sei es in der Übersetzung des Briefwechsels zwischen Boris Pasternak und Olga Freudenberg, der spät rehabilitierten Meisterin der sowjetischen Antiken- und Mythenforschung, sei es in der Übersetzung Leonid Dobytschins, jenes besonders nachhaltig vergessenen Erzählers, der in der repressiven Atmosphäre der 30er Jahre in den Tod getrieben wurde. Sätze von einer solch brutalen Einfachheit nicht zu glätten, ihnen nichts von ihrer sog. Primitivität zu nehmen, auf die Gefahr hin (wie immer!), die Schelte dafür abzubekommen − hier wird deutlich, daß die erwähnte Vorsicht eine große Portion Mut impliziert.
Rosemarie Tietze ist ausgebildete Theaterwissenschaftlerin, Germanistin und Slawistin. Ihre Dramenübersetzungen und ihre Studien zu Meyerhold verdanken sich wohl auch dieser Kombination. Zur literarischen Übersetzung kam sie aber erst über den »Umweg« des Dolmetschens (ab 1972). Wer in den letzten zwei Jahren vor dem Fernsehbildschirm Zeuge wurde, wie sie Alexander Kluges Dialoge begleitete, wird ermessen können, welche Früchte diese harte Schule des Dolmetschens zur Reife brachte. Seit 1974 »mischt sie mit« im literarischen Übersetzungbetrieb, und sie mischt sehr aktiv. Wiederholt leitet sie das russische Seminar beim »Esslinger Gespräch«, der jährlichen Fachtagung der Übersetzer. 1976-1988 arbeitete sie mit im Vorstand der Abteilung Übersetzer im Verband deutscher Schriftsteller, 1981-1987 ist sie Redakteurin der Fachzeitschrift Der Übersetzer, neuerdings, seit einem Jahr, Präsidentin des »Freundeskreises zur internationalen Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen«. Ihre Kommentare und Rezensionen zeugen von einem empfindlichen Engagement für die Institution Übersetzer. Ob es um die fachliche Qualität oder um berufsständische Interessenpolitik geht − alles steht unter einem großen Vorzeichen: dem Pathos der Professionalität. Ein kleines Vermächtnis ihres Berufsethos hat sie in dem »Plädoyer für den sicht- und hörbaren Übersetzer« verfaßt. Der kulturellen Mißachtung des Übersetzers, die sich ja in den materiellen, juristischen, atmosphärischen Verachtungen nur niederschlägt, wird hier in selten hellsichtiger Weise auf den Grund gegangen. Das Original ist alles − und die Übersetzung kann dann gar nicht anders als nach dem Maß des Verlusts bewertet werden. Die Übersetzung ist in dieser Mentalität von allem Anfang ein Unfall, und das einzige, was eine gute Übersetzung dann noch leisten kann, ist − Schadensbegrenzung. Rosemarie Tietze wendet das Blatt, indem sie die Übersetzung, jenes »Unwerk« schlechthin, zum Paradigma eines offenen Werkbegriffs erhebt. Jede Übersetzung ist »eine, in Raum und Zeit fixierbare Realisation des Originals«, eine Lesart, für die ein Name einsteht, nicht unbescheiden, sondern als Manifestation dieser Pluralität, die mit dem Original selbst beginnt. Daß der Name Rosemarie Tietzes ab dem heutigen Datum mit einem etwas fetteren Schriftgrad erscheint, ist ein gutes Zeichen.