Johann-Heinrich-Voß-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung würdigt seit 1958 ein übersetzerisches Lebenswerk oder herausragende Einzelleistungen.

Der Preis wird vom Land Hessen gestiftet und ist mit 20.000 Euro dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung der Akademie vergeben.

§ 2
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis berücksichtigt Übersetzungen aus allen literarischen Darstellungs­formen. Ausgezeichnet werden Übersetzungen in die deutsche Sprache. Die auszuzeichnende Übersetzung bewegt sich auf dem künstlerischen und sprachlichen Niveau des Ausgangstextes und stellt eine eigene sprachschöpferische Leistung dar.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden. Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Johann-Heinrich-Voß-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Das Land Hessen ist mit einem Vertreter bzw. einer Vertreterin beratend an der Entscheidung beteiligt. Die Bekanntgabe erfolgt über eine gemeinsame Pressemitteilung.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 2. November 2022

Gabriele Leupold

Übersetzerin
Geboren 11.3.1954
Mitglied seit 2017

Gabriele Leupold, der sensiblen und wagemutigen Übersetzerin, die durch ihre Arbeit seit vielen Jahren den deutschen Lesern die russische Literatur näherbringt...

Jurymitglieder
Kommission: Ralph Dutli, Elisabeth Edl, Hanns Grössel, Joachim Kalka, Per Øhrgaard, Ilma Rakusa, Henning Ritter

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Laudatio von Ralph Dutli
Schriftsteller und Übersetzer, geboren 1954

Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Akademie-Kollegen, liebe Gabriele Leupold,
Vladimir Nabokov hatte seinen eigenen Kanon. Zu den vier wichtigsten Prosawerken des 20. Jahrhunderts zählte er – neben leichter zu erratenden Texten von James Joyce, Franz Kafka und Marcel Proust – auch Andrej Belyjs Roman Petersburg von 1913. Der Autor ist eine der faszinierendsten Figuren der russischen Moderne, doch trotz Heiligsprechung durch Nabokov noch immer viel zu wenig bekannt. Nach früheren, gekürzten und geglätteten deutschen Versionen konnten wir diesen ungeheuer modernen, ebenso musikalischen wie monströsen Roman in ursprünglicher und vollständiger Gestalt erst im Jahr 2001 in Gabriele Leupolds großartiger Übersetzung lesen.
Es ist der Roman eines dramatischen Vater-Sohn-Konfliktes im Jahr der blutig niedergeschlagenen Revolution von 1905, der Roman einer terroristischen Verschwörung, eines geplanten Bombenattentates. Hauptfigur ist aber die schon von den großen Vorläufern Puschkin, Gogol und Dostojewskij dämonisierte russische Hauptstadt Petersburg, ein unheimliches giftiggrünes Babylon, wo Aufruhr und Chaos lauern. Der Roman ist ein Kampfplatz wimmelnder Stimmen und flackernder Bewusstseinsinstanzen, eine groteske Welt voller Fratzen, ein nervöser, stark rhythmisierter, symphonisch orchestrierter Prosa-Koloss. Und zugleich halluzinatorischer Klangteppich, der ein Universum in Auflösung beschwört. Lineares Erzählen gibt es nicht mehr, es ist explodiert.
Nur dank Gabriele Leupolds hellhöriger Übersetzung ist dieses Romanwerk mit seinen verwegenen lautmalerischen Passagen in seiner überragenden Gestalt und modernen Musikalität für den deutschen Leser überhaupt erst erkennbar geworden. Die heutige Preisträgerin hatte zuvor schon eine Strecke sprachlicher Extremkletterei absolviert, einen alpinistisch-akrobatischen literarischen Kraftakt geleistet, der an sich noch nicht lobenswert wäre, wenn sie nicht auch mit bezwingender Eleganz die Steilwände erklimmen würde. Sie hat nämlich 1993 noch einen anderen, ebenso halsbrecherisch kühnen Roman Andrej Belyjs ins Deutsche übertragen, den 1915/1916 in Dornach bei Basel, wo Belyj als Anhänger Rudolf Steiners lebte, entstandenen Roman Kotik Letajew (deutsch etwa: »Katerchen Fliegermann«), der den Bewusstseinsstrom eines Kleinkindes simuliert, das Werden einer Welt aus Lichtern und Bildern und immer wieder aus Gehör-Eindrücken, Silben, Wortfetzen. Man hat dieses Werk, das ein paar Jahre vor James Joyce’ Ulysses entstand, mit diesem verglichen, nur dass der Bewusstseinsstrom eben nicht von einem erwachsenen Leopold oder einer Molly Bloom stammte, sondern tatsächlich von dem Kleinkind Kotik, in dessen drittem Lebensjahr.
Wer so etwas übersetzen will, muss schwindelfrei sein, sich vor den Abgründen, die zwischen den Sprach-Welten liegen, nicht fürchten dürfen. Sie sehen, Gabriele Leupold hat sich nicht gerade die leichtesten aller möglichen Herausforderungen gewählt. Sie ist überhaupt eine der wagemutigsten und sprachlich talentiertesten Übersetzerinnen aus dem Russischen. Gerade das Anspruchsvolle, ja Verwegene scheint sie zu reizen.
Alles aufzuzählen, was sie geleistet hat, ist unmöglich, doch vergessen wir nicht, dass ihre allererste Arbeit die Übersetzung eines Stücks Literaturtheorie war, das zum Besten gehört, was in diesem Bereich aus Russland zu uns gefunden hat: Michail Bachtins Rabelais und seine Welt von 1940, ein Werk, das die Grundlage für seine inspirierende Theorie bildete, dass die Literatur seit dem 16. Jahrhundert eine Erbin des mittelalterlichen Karnevals sei, dass sie fortan die Kraft verkörperte, verkehrte Welten oder Gegenwelten zu schaffen, Hierarchien zu stürzen, Stimmenvielfalt zuzulassen, mit vitalem Lachen alle versteinerte Ideologie aufzulösen. Auch der polyphone Roman Dostojewskijs ist laut Bachtin dem Geist des Karnevals entsprungen, und selbst eine Akademie für Sprache und Dichtung wäre wohl für den russischen Literatur- und Lachtheoretiker die Schrumpfform einer Narrengesellschaft. Dass Bachtins verblüffendes Rabelais-Buch 1987 auch auf Deutsch zugänglich wurde, ist einmal mehr unserer heutigen Preisträgerin zu verdanken.
Doch lassen Sie mich nach diesem Blick in die Vergangenheit endlich Gabriele Leupolds jüngste Großtat benennen, nämlich die Übersetzung der gesammelten Erzählungen aus Kolyma von Warlam Schalamow, deren vierter voluminöser Band unter dem Titel Die Auferweckung der Lärche gerade ans Licht der lesenden Welt getreten ist. Die seit dem Jahr 2007 im Verlag Matthes & Seitz erscheinende Werkausgabe ist noch nicht abgeschlossen, doch die sechs Kolyma-Zyklen liegen jetzt erstmals vollständig vor. Was für ein Werk!
Meine Damen und Herren, der Literaturbetrieb, die immerdurstigen Medien, Klappentext-Vorbeter und Vorschau-Epiker haben sich in den letzten Jahren den zweifelhaften Reflex angeeignet, noch jedes winzige, mit warmer Luft nur halbgefüllte literarische Bläschen als ein »Ereignis« zu feiern. Die Inflation der »Ereignisse« ist in letzter Zeit schlicht haarsträubend geworden. Aber wie soll man denn das nennen, was da als stilles, beharrliches Projekt langsam angewachsen, dank Gabriele Leupolds übersetzerischer Kompetenz und ihrem nicht nachlassenden Willen zu sprachlicher Intensität zum Vorschein gekommen ist? (Natürlich darf man hier auch der Herausgeberin Franziska Thun-Hohenstein und dem Verleger Andreas Rötzer ein großes Lob aussprechen.)
Gestatten Sie mir bitte dieses persönliche Geständnis: Für mich ist diese Schalamow-Ausgabe eine der wichtigsten editorischen Unternehmungen des letzten Jahrzehnts und nicht nur des letzten Jahrzehnts. Es ist ein bestürzendes literarisches Monument von immenser Verstörungskraft und künstlerischer Potenz. Ich kann mir schlicht keine notwendigere Literatur denken.
Was ist nun aber, wenn der Autor Schalamow – 1907 im nordrussischen Wologda geboren, 1982 in einer Moskauer Nervenheilanstalt verstorben – es selber verneinte, überhaupt Literatur schaffen zu wollen? Er wollte einzig »authentisches« Schreiben zulassen, dokumentarische Werke, bei denen sich noch der Autor in ein erlittenes »Dokument« verwandeln sollte. Schalamow forderte eine paradoxe »nicht-literarische Literatur«, ja sogar: Anti-Literatur. Der Autor hatte siebzehn Jahre in der Lagerhölle am nordostsibirischen Fluss Kolyma verbracht, an jenem »Kältepol der Grausamkeit«, wo Millionen Menschen durch Sklavenarbeit, Schläge, Hunger und Kälte der Vernichtung zugeführt wurden. Für das Unsagbare der Lagererfahrung sollte eine neue Schreibart entstehen, schmucklose, pathosfreie, nüchterne Prosa von absoluter Kunstlosigkeit und purer Lakonie, die keinen Trost spenden, keine Lehre und keinen alles einbettenden Sinn bereithalten wollte.
Wer so viele Jahre in der Hölle verbrachte, hat gewiss ein Recht darauf, keine Kunst mehr machen zu wollen. Bei Schalamow findet sich die erschreckende Frage: »Gott ist tot, weshalb soll dann die Kunst leben?« Ich zweifle nicht eine Sekunde lang an der Wahrhaftigkeit dieses Autors, nur dieses eine Mal hat er gelogen. Oder nennen wir es einfach: das Schalamowʼsche Paradox. Denn diese deklarierte Nicht-Kunst ist sehr wohl kunstvoll komponiert, von bestechender erzählerischer Ökonomie. Die Erzählungen aus Kolyma sind mit sicherem Zugriff komponierte Gebilde, kraftvoll gerafft, oft schonungslos gekappt, voller bizarrer, verstörender Details. Dieser Autor täuscht jede simple Erwartung, seine Erzählungen sind unvorhersehbar, enigmatisch, sprunghaft, dicht. Erst mit der rückwirkenden Explosion abrupter Schlüsse ergießt sich ein prekäres Licht auf die Abgründe. Ein schöner Anti-Künstler! Nein: ein Prosaist ersten Ranges.
Und selbst wenn die Fiktion der Nicht-Kunst wahr wäre, ist es auch kunstlos, angeblich kunstlose Prosa zu übersetzen? Für die Übersetzerin war Schalamow eine ebenso große Herausforderung wie die Werke des symbolistischen Wort-Symphonikers Andrej Belyj. Auch hier gibt es eine Musikalität, eine spröde, strenge, manchmal tonlose, sich oftmals verweigernde. Und es gab hellhörige Leser dieser in Sowjetrussland nur im Untergrund zirkulierenden Erzählungen, die hinter der behaupteten kunstlosen Faktographie anderes wahrnahmen. Nadeschda Mandelstam etwa, die als Gefährtin und Witwe eines großen Lyrikers über Jahrzehnte hinweg ihr Musikgehör hatte schärfen können, schreibt am 2. September 1965 an Schalamow: »Meiner Meinung nach ist das die beste Prosa in Russland seit vielen, vielen Jahren. Als ich sie zum ersten Mal las, folgte ich so sehr den Fakten, dass ich in nur ungenügendem Maße die tiefe, innere Musik des Ganzen beachtet habe. Vielleicht ist das überhaupt die beste Prosa des 20. Jahrhunderts.«
Ich bin überzeugt, dass Gabriele Leupolds Übersetzung auch zum Nutzen der deutschsprachigen Literatur ihre Wirkung entfalten kann. Damit ist Gabriele Leupold eine sehr würdige Trägerin des Johann-Heinrich-Voß-Preises, weil dieser Preis mit dem Namen des Homer-Übersetzers solche Übersetzungen auszeichnen soll, die für das deutschsprachige Literaturschaffen horizonterweiternd, befruchtend oder verstörend, befreiend wirken.
Ein guter Übersetzer, eine gute Übersetzerin muss vielleicht ganz gegensätzliche Qualitäten besitzen: Wagemut und Sensibilität, Unerschrockenheit und Musikgehör, eine experimentelle Ader und zugleich sprachliche Strenge, ja Rigorosität, sowie den beharrlichen Willen, die Grenzen der eigenen Sprache zu dehnen und zu weiten, selbst wenn die Sprache zu knarzen, zu dröhnen beginnt, bevor sie eine von ihr selber bisher unvermutete Musik hergibt. Gabriele Leupold besitzt alle diese Eigenschaften, sie hat sich nicht nur der rauschhaft symphonischen, wortakrobatischen Romankunst Andrej Belyjs gewachsen gezeigt, sondern auch der nur scheinbar kunstlosen Lakonie, Herbheit und Sprödigkeit von Schalamows Prosa, die aber laut der berufenen Zeugin Nadeschda Mandelstam eine tiefe, innere Musik auszeichnet. Müsste ich von den aufgezählten Qualitäten Gabriele Leupolds eine herausheben, so wäre es Musikgehör. Ja, gewiss: Musikgehör.
Herzlichen Glückwunsch, liebe Gabriele Leupold, zum Johann-Heinrich-Voß-Preis 2012!