STATUT
§ 1
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung würdigt seit 1958 ein übersetzerisches Lebenswerk oder herausragende Einzelleistungen.
Der Preis wird vom Land Hessen gestiftet und ist mit 20.000 Euro dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung der Akademie vergeben.
§ 2
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis berücksichtigt Übersetzungen aus allen literarischen Darstellungsformen. Ausgezeichnet werden Übersetzungen in die deutsche Sprache. Die auszuzeichnende Übersetzung bewegt sich auf dem künstlerischen und sprachlichen Niveau des Ausgangstextes und stellt eine eigene sprachschöpferische Leistung dar.
Eigenbewerbungen sind nicht möglich.
§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden. Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.
§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.
Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Johann-Heinrich-Voß-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.
Das Land Hessen ist mit einem Vertreter bzw. einer Vertreterin beratend an der Entscheidung beteiligt. Die Bekanntgabe erfolgt über eine gemeinsame Pressemitteilung.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 2. November 2022
Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin
Geboren 16.10.1956
Mitglied seit 2009
... für ihr vielfältiges übersetzerisches Werk aus dem Französischen, insbesondere aber wegen der eleganten Präzision ihrer Neuübersetzung von Stendhals ›Le Rouge et le Noir‹...
Jurymitglieder
Kommission: Heinrich Detering, Joachim Kalka, Friedhelm Kemp, Werner von Koppenfels, Ilma Rakusa, Lea Ritter-Santini, Michael Walter
Mitglieder des Erweiterten Präsidiums
Welt-Literatur
Die Ehre, hier stehen und Ihnen für den Voß-Preis danken zu können, haben mir auch Gedichte, Essays, Tagebücher eingebracht, doch den Ausschlag dürfte mit Stendhals Le Rouge et le Noir eine literarische Form gegeben haben, die auch sonst in meiner Arbeit stark im Vordergrund steht: der Roman. Darum möchte ich heute ein paar Worte sagen zu einer Sache, die man oft geneigt ist als Selbstverständlichkeit zu übergehen: nämlich zum Übersetzen von Romanen, besonders von klassischen Romanen der Weltliteratur. Häufig ist die Rede vom Lyrikübersetzen, von seiner Problematik oder gar Unmöglichkeit. Daß man dagegen große Romane übersetzen kann, wird gar nicht in Zweifel gezogen – solange es sich nicht um Finnegans Wake handelt. Ich möchte deshalb heute das Lob des Prosaübersetzens, des Romanübersetzens anstimmen, und zwar als einer ganz eigenständigen Herausforderung, derer man sich erst seit einiger Zeit wirklich bewußt zu werden beginnt. Naturgemäß hat es auch in früheren Zeiten bedeutende Romanübersetzungen gegeben; ich glaube aber doch, daß es seit einigen Jahren eine Reihe von Übersetzungen klassischer Romane gibt, die einer ganz eigenen, früher nicht geübten Poetik verpflichtet sind.
Man behilft sich oft mit einer Theorie, der zufolge bedeutende Werke alle paar Jahrzehnte zwangsläufig neu übersetzt werden müßten, und zwar wegen eines unaufhaltsamen Alterungsprozesses der Übersetzung selbst. Ich glaube nicht, daß das stimmt. Auch das oft benutzte Bild vom »Entstauben« eines Klassikers trifft die Sache wohl kaum; es sei denn, man betrachtet eine alte, inadäquate Übersetzung als Staubschicht auf dem viel glanzvolleren, nie veraltenden Original. Als ich vor Jahren nachzudenken begann, ob eine neue Übersetzung von Rot und Schwarz auch etwas wirklich Neues sein könnte, so wie ich das schon bei Julien Greens Adrienne Mesurat getan hatte, da war natürlich der zweite Schritt die Lektüre der Vorgängerübersetzungen. Das Ergebnis dieser Lektüre zeigte, daß ein neuer Zugang nicht nur möglich, sondern auch dringend geboten war. Das hatte jedoch nichts zu tun mit einem »Veralten« früherer Übersetzungen, auch nicht mit einem bloßen pauschalen Qualitätsurteil. Kurz gesagt: das neue Übersetzen eines klassischen Romans (und das gilt für viele Romane) ist nicht deshalb notwendig, weil die Übersetzungen etwa vom Anfang des 20. Jahrhunderts zunächst adäquat gewesen und dann veraltet wären, sondern weil sie ihrem Gegenstand, wenn man ihn als verbindliches Sprachkunstwerk betrachtet, schon damals in vielen Fällen nicht wirklich gerecht wurden. Daß dies ganz sicher nicht immer an persönlichen Unzulänglichkeiten gelegen hat, sondern an einer Idee des Übersetzens, die noch ganz anderen Absichten und Prinzipien folgte, möchte ich wenigstens kurz andeuten.
Die »Epoche der Welt-Literatur« wurde bekanntlich von Goethe ausgerufen. Zwar hat er selbst Le Rouge et le Noir sofort nach Erscheinen im Januar 1831 auf französisch gelesen; doch natürlich war es diese neue Idee der Weltliteratur, die den Anstoß gab zu einer entwickelten Kultur der Übersetzung. Jeder Gebildete las im 19. Jahrhundert noch Französisch, und deshalb wurde Stendhals Roman auch erst 1901 zum ersten Mal auf deutsch gedruckt. Aber mit Cervantes’ Don Quijote stand es schon schlechter, und bei kleinen oder gar fernöstlichen Sprachen könnte von Weltliteratur keine Rede mehr sein, gäbe es nur die Lektüre in der Originalsprache. Um einen chinesischen Roman in französischer und chinesische Poesie in englischer Übersetzung dreht sich das Gespräch, als der berühmte Satz fällt, den Eckermann aufgezeichnet hat. Die Weltliteratur ist also eine Literatur, die sich in Übersetzungen verbreitet hat und immer noch verbreitet.
Deshalb steht in ihrem Mittelpunkt die Prosa und ganz besonders der Roman. Wer »Über allen Gipfeln ist Ruh’« lesen will, muß es auf deutsch und kann es nicht auf französisch tun; »Le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui« vermag keine deutsche Fassung wiederzugeben. Die gelungenste Übersetzung eines Sonetts von Baudelaire oder Shakespeare wird zu einem Gedicht aus eigenem Recht, doch sie kann nicht an die Stelle des französischen oder englischen treten. Les Pas ist ein Gedicht von Paul Valéry; Die Schritte eines von Paul Valéry und Rainer Maria Rilke, ein anderes Gedicht, in dem die Erwartete mit ganz eigenem Schritt sich nähert. Das gilt nicht ebenso für den Roman. In seinem gerade in Paris erschienen großen Essay Le rideau (Der Vorhang) schreibt Milan Kundera:
»Will ich etwa sagen, daß man, um einen Roman zu beurteilen, nicht unbedingt seine Originalsprache können muß? Natürlich, genau das will ich sagen! Gide konnte nicht Russisch, George Bernard Shaw nicht Norwegisch, Sartre hat Dos Passos nicht im Original gelesen. Wären die Bücher von Witold Gombrowicz und Danilo Kiš einzig vom Urteil jener abhängig gewesen, die Polnisch und Serbokroatisch konnten, dann wäre ihre radikale ästhetische Neuheit nie entdeckt worden.«(1)
Wenn Kundera den Roman also geradezu durch seine Übersetzbarkeit definiert, dann erhöht er aber zugleich ganz erheblich den Anspruch an die Übersetzung. Denn nur eine in allen Einzelheiten adäquate Übersetzung kann so, wie Kundera es verlangt, vollkommen an die Stelle des fremdsprachlichen Originals treten. Und hier, in der Frage, was die adäquate Übersetzung eines bedeutenden Romans ist, haben sich die Auffassungen und damit die Ergebnisse doch sehr verändert, und zwar, gerade da liegt des Pudels Kern, als eine Konsequenz des modernen Romans.
Um zu zeigen, was ich meine, möchte ich noch zwei Stellen aus Kunderas Essay anführen:
»Die Künste sind nicht alle gleich; jede von ihnen kommt durch eine andere Tür in die Welt. Unter ihnen ist eine ausschließlich dem Roman vorbehalten. Ich sagte: ausschließlich, denn der Roman ist für mich keine ›literarische Gattung‹, nicht ein Zweig unter vielen eines einzigen Baumes. Man kann den Roman nicht verstehen, wenn man ihm seine eigene Muse streitig macht, wenn man in ihm keine Kunst sui generis, keine autonome Kunst sieht.«
Die zweite Stelle:
»Kafka, Musil, Broch, Gombrowicz... alle waren sie Poeten des Romans, das heißt: begeistert von der Form und von ihrer Erneuerung; auf die Intensität jedes Wortes, jedes Satzes bedacht; von der Phantasie verführt, die Grenzen des ›Realismus‹ zu überschreiten; gleichzeitig jedoch unzugänglich für jede lyrische Verlockung: der Verwandlung des Romans in eine persönliche Beichte feind; allergisch gegen jede Verzierung der Prosa; ganz und gar auf die wirkliche Welt konzentriert. Alle verstanden den Roman als große antilyrische Poesie.«
Zwei Dinge sind es, die mich hier interessieren: Zum einen der Roman als ganz eigene sprachliche Kunstform für sich; zum anderen der Roman, bei dem die »Intensität jedes Wortes, jedes Satzes« ebenso zählt wie bei seinem Widerpart, der Poesie. Kundera spricht von einer Lehre, die er aus dem Roman des 20. Jahrhunderts zieht, aber wie so oft erkennt man im Rückblick, daß das Gelernte bereits vorher galt: bei Flaubert, Stendhal, Cervantes, Rabelais. Heute kann man den Roman nicht mehr als eine Form verstehen, in der das sprachkünstlerische Detail zweit- oder gar drittrangig wäre und es im Belieben des Übersetzers stünde, ihm zu folgen oder auch nicht.
Jetzt noch einmal gefragt: Warum eigentlich soll der Roman eher übersetzbar sein als die Poesie? Allein aus technischen Gründen? Bloß an Reim und Versmaß des Gedichts kann es ja wohl nicht liegen, und ein Roman wie Rot und Schwarz bietet sicher ebenso viele sprachliche Probleme wie die Fleurs du mal. Ich hatte zwei berühmte Gedichtanfänge zitiert: »Über allen Gipfeln ist Ruh’« und »Le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui«, zwei Beispiele dafür, daß das Gesagte mit seiner Sprachgestalt vollkommen identisch ist, denn was Mallarmés Vers ohne diese einmalige Konstellation von »Wort und Weise« bedeuten sollte, weiß kein Mensch zu sagen, und Goethe wollte dem Leser gewiß nicht mitteilen, daß es im Wald ruhig war. Der große Roman aber kennt ein Drittes, und das ist es, was ihn übersetzbar macht: die wirkliche Welt, von der er spricht. So lange Flaubert auch an Klang und Rhythmus feilte, so pointiert Stendhal die spezifisch französische Ironie anzuwenden wußte, so unvergleichlich die Periode eines Proust auch ist: Zwischen Original und Übersetzung steht als Tertium comparationis jene Wirklichkeit, die beide Sprachen meinen. Und solange der Roman festhielt an jenem Wirklichkeitsbezug, der für die großen Werke des 19. Jahrhunderts so bestimmend ist, gehört die Übersetzbarkeit unauflöslich zu seinem Wesen dazu – wie schwierig diese Übersetzung im Einzelfall auch sein mag.
Der Roman ist ein äußerst komplexes Gewebe aus Handlung und Historie, Tatsachen und Erfindung (der »Roman, dieses zusammengestoppelte Unding aus Erlebtem und Ausgedachtem«, nannte ihn Walter Benjamin in seinem Essay über Julien Green), aus Sprache und Form, Rhythmus und Klang, und jeder Roman balanciert diese Dinge anders, und jede Übersetzung muß sie entsprechend anders nachschaffen. Die Übersetzung, wie man sie, grob gesagt, seit Ende des 19. Jahrhunderts praktizierte, hat das zumeist nicht getan; sie hat den Roman auf seine bloße Handlung reduziert und hat ihn nicht ernst genommen als eigenständiges sprachliches Kunstwerk. Ich könnte Ihnen hier aus den Übersetzungen von Rot und Schwarz unzählige Beispiele vorlegen, die das illustrieren. Wenn etwa Stendhal für die Augenblicke der Desillusionierung leitmotivartig sein »N’est-ce que ça?« einsetzt, dann muß auch die deutsche Version eine entsprechend wiederkehrende Formel finden; wenn er Julien Sorel für seine erotischen Eroberungen ausdrücklich militärischen Jargon in den Mund legt, dann darf der junge Mann in der Übersetzung nicht zum amourösen Zivilisten werden. All das läßt sich am Ende jedoch auf eines zurückführen: Das Instrumentarium des Übersetzers war gröber als das des Autors; er hielt Dinge und Hintergründe für gleichgültig, die es nicht sind; er verkannte, daß auch in der Prosa Rhythmus, Wortstellung, Klang, Sprachregister, ironische Valeurs ihre unverzichtbare Bedeutung haben. Wenn der Roman aus Handlung und Historie, Tatsachen und Erfindung, Sprache und Form, Rhythmus und Klang besteht, dann muß all das auch in der Übersetzung wiederkehren. In Rot und Schwarz etwa muß der historische Hintergrund stimmen, und zwar bis in die Einzelheit eines juristischen Begriffs oder eines Kleidungsstücks, denn es ist alles andere als gleichgültig, ob Stendhal Staaten mit Verfassung ablehnt oder eben nur sein Frankreich der Restauration und die Charta von 1814. Es muß der Sprachstand der Epoche respektiert werden, und zwar ohne historisierende Imitation. Und wenn all dieses getan ist, dann muß die Sprache selbst geschaffen werden, in ihrer eigenen Ausdrucksqualität.
Da ich es mir nicht verkneifen kann, wenigstens einmal aus »meiner« Sprache zu zitieren, mute ich Ihnen ein einziges Beispiel zu, um zu zeigen, was ich meine. Es stammt aber nicht aus Rot und Schwarz, sondern bezieht sich, pars pro toto, auf den ersten und letzten Satz aus Adrienne Mesurat von Julien Green: »Debout, les mains derrière le dos, Adrienne regardait le cimetière.« Das heißt in einer Übersetzung von 1965: »Mit den Händen auf dem Rücken stand Adrienne und schaute den Friedhof an.« Übersetzt ist das vollkommen richtig: être debout heißt stehen, regarder heißt anschauen. Der Satz aber hat, gerade als Anfangssatz!, alle Fassung verloren: Im Französischen setzt das erste Wort »Debout« sofort einen mächtigen Akzent für den eigensinnigen, halsstarrigen Charakter des jungen Mädchens, und der ganze Satz läuft zu auf den finalen cimetière: »Aufrecht, die Hände hinter dem Rücken, stand Adrienne da und betrachtete den Friedhof.« Um diese Qualität des Satzes wiederzuerschaffen, war es nötig, ein Verb hinzuzufügen, und doch entspricht diese Version dem Original weitaus stärker als jede schulmäßig korrekte. Das mag manchem wenig erscheinen, doch es setzt sich fort bis zum letzten Wort: »Elle ne put donner ni son nom ni son adresse. Elle ne se rappelait plus rien.« – »Sie konnte weder ihren Namen noch ihre Adresse angeben. Sie erinnerte sich an überhaupt nichts mehr.« Oder: »Sie wußte weder ihren Namen noch ihre Adresse. Sie erinnerte sich an nichts.« Nein, auch in einem Roman ist es kein Zufall, beendet der Autor Satz und Buch mit dem harten »rien«, und da muß der deutsche Übersetzer auf sein umständliches »an überhaupt nichts mehr« verzichten, zugunsten eines definitiven: »an nichts«. Hier gilt es, das zu sein, was Kundera verlangt: »allergisch gegen jede Verzierung der Prosa«, und in dieser Knappheit, Genauigkeit, Schmucklosigkeit berührt sich übrigens Julien Green auch gerade mit Stendhal.
Die Prosa kennt nicht den Zwang durch Versmaß und Reim, dem sich der Lyrikübersetzer gegenübersieht. Doch so, wie ich es skizziert habe, ist im großen Roman der Zwang nicht geringer: durch den inneren Rhythmus des Satzes, seinen dramaturgischen und dramatischen Aufbau, durch seine Knappheit oder weit ausgreifende Periode. Eine Übersetzung, die das wiederzugeben versucht, könnte man vielleicht »mimetisch« nennen: Sie reproduziert nicht einfach den Inhalt eines Satzes, sondern versteht seinen Sinn als eine Einheit aus dem Was und dem Wie des Gesagten. Sie versucht, das Gesicht, die Physiognomie jedes einzelnen Satzes, und damit des ganzen Buches und des Autors selbst, in der eigenen Sprache neu zu schaffen. Eine Übersetzung, der das gelingt, soll nicht nur sehr viel näher an das Werk heranführen, sondern ihm auch, in Kunderas Sinne, eine wirkliche Gegenwärtigkeit in anderen Sprachen und damit in der Weltliteratur geben.
Gerade deshalb, um mit Goethe zu schließen, »ist und bleibt [das Übersetzen] doch eins der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltwesen«. Und ganz gewiß freut sich jedermann, wenn seine Tätigkeit Anerkennung findet; sei’s als würdiges Geschäft im allgemeinen Weltwesen, sei’s durch eine Auszeichnung, wie die, für die ich der Akademie und vor allem natürlich der Jury ganz herzlich danke.