Johann-Heinrich-Voß-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung würdigt seit 1958 ein übersetzerisches Lebenswerk oder herausragende Einzelleistungen.

Der Preis wird vom Land Hessen gestiftet und ist mit 20.000 Euro dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung der Akademie vergeben.

§ 2
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis berücksichtigt Übersetzungen aus allen literarischen Darstellungs­formen. Ausgezeichnet werden Übersetzungen in die deutsche Sprache. Die auszuzeichnende Übersetzung bewegt sich auf dem künstlerischen und sprachlichen Niveau des Ausgangstextes und stellt eine eigene sprachschöpferische Leistung dar.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden. Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Johann-Heinrich-Voß-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Das Land Hessen ist mit einem Vertreter bzw. einer Vertreterin beratend an der Entscheidung beteiligt. Die Bekanntgabe erfolgt über eine gemeinsame Pressemitteilung.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 2. November 2022

Rudolf Wittkopf

Schriftsteller und Übersetzer
Geboren 5.8.1933
Gestorben 22.9.1997

Rudolf Wittkopf für seine Übertragungen französischer und lateinamerikanischer Autoren...

Jurymitglieder
Kommission: Hanno Helbling, Friedhelm Kemp, Marian Szyrocki, Elmar Tophoven, Hans Wollschläger

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Laudatio von Fritz Vogelgsang
Übersetzer, Journalist und Publizist, geboren 1930

Insulare Offenheit

»Der Floh macht den Hund zum Gitarristen.« Dieser Satz, der mit seinen sieben Wörtern augenblicklich im Kopf des Hörenden ein Zwitterbild von beglückend komischer Evidenz erweckt, indem er vertraute Impressionen aus getrennten Bereichen sozusagen durch Kurzschluß zu ungeahnter, aber spontan einleuchtender, also mit Entzücken entdeckter grotesk-phantastischer Einheit verschmilzt, ist kein Gleichnis, kein aphoristisches Emblem aus dem goldenen Münzvorrat klein und fein geprägter menschlicher Selbsterkenntnis. Es ist ein metaphorischer Scherz, eine von Rudolf Wittkopf verdeutschte »Greguería« des Spaniers Ramón Gómez de la Serna, ein Muster ingeniöser Nonsense-Poesie, eine Absurdität von schönster Augenscheinlichkeit, die vorgibt, eine bizarre Verwandlung zu erklären: »La pulga hace guitarrista al perro.« Nicht nur die Regeln festlicher Gesittung verbieten es, die flohbedingte Scheinmetamorphose des Hündischen ins Hymnisch-Klampfnerische Ihnen ad hoc als Parabel einer Geburt der Laudatio aus dem Geist der Gereiztheit zu präsentieren.
Nein, meine lustvolle Bereitschaft, hier und heute in die Saiten zu greifen, sollten Sie nicht als reflexhafte Reaktion auf eine Reizung der Epidermis sehen. Die Lust an solch elektrisierender Belästigung reicht etwas tiefer. Sie bedürfte keiner Erklärung, wenn mir die Möglichkeit vergönnt wäre, Ihnen jetzt einfach, stundenlang rezitierend, den ganzen Sack voll köstlich-poetischer Sprachgags vor die Füße zu schütten, den Rudolf Wittkopf aus eigenem Antrieb, als Übersetzer der »Greguerías«, erst unlängst jedem deutschen Leser zum fast kostenlosen Zulangen vor die Haustür gestellt hat. Meinem Drang zur Mitteilung, zu verschwenderischem Austeilen, sind enge Grenzen gesetzt. »Die Harfenspieler stecken in goldenen Käfigen«, sagte der uns dank Wittkopf zum Deutschen gewordene Gómez de la Serna, mit mehrfachem Recht.
Lustgedrängt also, kann und will ich jedoch nicht leugnen, daß an der Lust, die es mir verwehrt hat, mich der ehrenvollen Verpflichtung zur Laudatio zu entziehen, auch ein Anreiz beteiligt war, der aus einem permanenten, wieder und wieder moiestierenden Juckreiz resultiert, aus einem alltäglichen Ärgernis von winziger Monstrosität. Verzeihen Sie mir darum, wenn ich, scheinbar höchst unpassend, die Dank- und Jubelfeier, die eine Preisverleihung doch sein soll, zunächst als die Gelegenheit nutze, am rechten Ort ein barbarisches Alltagsdelikt vor denjenigen anzuklagen, die hierzuland als einzige den für derartige Kriminalfälle zuständigen Gerichtshof bilden könnten. Denn jede andere Instanz würde meine Klage wegen offenkundiger Belanglosigkeit zurückweisen. Ich entferne mich mit dieser Anrufung keineswegs vom Werk und von der Person des heute zu Feiernden.
Auf der Titelseite eines der vielen Bücher, die der frisch gekürte Voß-Preisträger übersetzt hat, lese ich: »Octavio Paz − Der Bogen und die Leier − Aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf.« Ein eklatanter Fall von Unterschlagung.
»Aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf« − fehlt da nicht ein Wort? Oder wollte man im Ernst dem kärglich bezahlten Autor der deutschen Version damit ein gewaltiges Besitztum attestieren? Meinte man, wußte man, was man damit behauptet: das im Buch Gebotene stamme aus dem Eigentum des Verdeutschers, aus einem Spanisch nämlich, das ihm gehöre? Hat er nicht sich und uns das Fremde zu eigen gemacht, indem er es zu einem Bestandteil dessen machte, worüber er wirklich als Erbe und Meister in Freiheit verfügen muß, wenn er seinen Beruf zur eigenen Befriedigung und zur Freude seiner Landsleute ausüben will? »Aus dem Spanischen von Rudolf Wittkopf« − da schwingt, ich gebe es zu, auch ein recht schmeichelhafter Anklang mit. Man fühlt sich angenehm erinnert an Herkunftsbezeichnungen, wie man sie auf Weinflaschen von nobler Provenienz entziffert: »Aus dem Weingut des Freiherrn von...« Korrekt aber, und das heißt: sachlich unanfechtbar, wäre die pedantische Deklaration: »Aus dem Spanischen von Octavio Paz in das Deutsch von Rudolf Wittkopf übersetzt von ebendemselben.« Doch Scherz beiseite. Warum, verflixt nochmal, serviert man uns tausendfach, in den anspruchsvollsten Blättern, in den Produkten unserer angesehensten Verlage, diese unsinnige Krüppelformel: Aus dem Idiom Sowieso von X. Y. − Welch schwachsinniger Geist der Sparsamkeit gebietet es, das Partizip des Perfekts zu streichen, das Tätigkeitswort zu tilgen, das die Tat, die Leistung des Übersetzers benennt?
Ich glaube nicht, daß irgendwelche tückische Absicht diese Unterschlagung diktiert. Der wohl meist unbeachtete, unbedachte Verstoß gegen die geltenden Gesetze grammatikalischer Logik, die anstandslos hingenommene Lücke, die nur eine sinnwidrige Reihung von Wörtern als tote Standardfloskel fortdauern läßt, erscheint mir auch nicht als Zufallsversagen, sondern als vielsagendes Schweigen, als Hohlraum, in dem ein ungeklärtes Denken halb verlegen, halb trotzig verbirgt, daß ihm jenes Tun, das mit dem fortgefallenen Verb bezeichnet wird, schon immer dubios gewesen ist; eine Peinlichkeit, die man am besten übergeht. Und ist es denn etwa nicht peinlich, ja verdrießlich, wenn man der fragwürdigen Manipulationen eines Mittelsmannes bedarf? Ein Mensch von Anstand redet bei der Hochzeit doch auch nicht lauthals von der Mühewaltung des Kupplers.
Lieber Rudolf Wittkopf, machen wir uns nichts vor! Auch hier, im Kreise echter, namhafter Urheber und ordentlich bestallter Gelehrter, die Dir in dieser Stunde gemeinsam auf das schönste ihre Anerkennung beweisen, haftet dem, wodurch Du diese Auszeichnung verdient hast, der Ruf einer gewissen Halbheit an, der fatale Ruch des Uneigentlichen. Und muß nicht notwendigerweise der Dolmetsch, der die Stimme, den Gestus eines großen Abwesenden vertritt, etwas geduckt erscheinen, damit wenigstens die Imagination der Hörenden den »Eigentlichen« wahrnehmen zu können glaubt, über den Darsteller eines Darstellers hinweg? Schließlich bemüht sich ja der Bauchredner, alle Aufmerksamkeit seines Publikums auf das Phantom zu lenken, mit dem er spielt, um dessen vermeintlich eigene Stimme als das Eigentliche erscheinen zu lassen, das allein von Bedeutung ist.
Obwohl, wenn ich recht informiert bin, ein so vorzüglicher Übersetzer wie Hans Schiebelhuth zu den Gründervätern dieser Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung gehörte(1); obwohl seit Jahrzehnten in ihr Männer (nur Männer?) tätig sind, deren literarischer Rang vor allem auf ihrer übersetzerischen Leistung beruht, fehlt unsere Profession in der offiziellen schriftlichen Selbstdarstellung der Akademie, in der Aufzählung all derer, die ein Œuvre vorzuweisen haben, »das die deutsche Sprache und Literatur bereichert hat«. Es heißt dort: Die Arbeit und die Interessen der Akademie »erstrecken sich auf alle Gattungen und Gebiete der Literatur«. Die Fortsetzung dieses Satzes lautet: »und so vereinigen sich in der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Lyriker, Erzähler, Dramatiker, Essayisten, Publizisten, Geschichtsschreiber, Sprach- und Literaturforscher.« Derjenige, der wie Du die Fähigkeit haben muß, all diese Rollen mit Virtuosität zu mimen, bleibt unerwähnt − wohl eben weil er all dies tut, all dies ist als literarischer Mime, nicht als beglaubigtes, seriöses Original.
Dieser Vagantenstatus ist kein Grund zur Trauer oder gar zum Protest (zumal da ja, wie diese Stunde zeigt, die Praxis der Akademie ihrer papieren verlautbarten Theorie ein wenig vorauseilt). Er ist merkwürdig, bedenkenswert. Wie kommt es, daß der literarische Virtuose, der als Übersetzer Meisterwerke der Weltliteratur darstellt, sie im Spiel auf dem Instrument seiner eigenen Sprache faszinierend interpretiert, sie im Raum einer anderen Nation, einer anderen Kultur, überhaupt erst als Kunst vernehmbar macht, niemals wahrhaft als ausgewachsener Künstler gilt − was doch jeder Klavierlöwe, jeder halbwegs abgefeimte Teufelsgeiger erreicht? Gewiß, das Moment der Schaustellung entfällt. Die Kunst des Übersetzers vollzieht sich in der Zelle, nicht auf dem Podest. Niemand verfolgt mit Spannung den Produktionsvorgang. Aber ein Horowitz, den man nur von der Schallplatte kennt − gälte der jemals als einer, dem man es nachsehen muß, daß er eben doch nicht der Chopin, nicht der Schumann ist, den er spielt? Er zählt als der große Interpret, der er ist; nicht als das unvollendete Talent, dem es leider, leider doch nicht zum Komponisten gelangt hat.
Im literarischen Übersetzer vornehmlich den verhinderten Schriftsteller zu sehen, das verunglückte Originalgenie, ist keineswegs ein Privileg der Unbedarften. Thomas Mann hat sozusagen die Goldschnittedition dieser Vulgärauffassung geliefert, als er im »Doktor Faustus« den ihm befreundeten Übersetzer Hans Reisiger als »Rüdiger Schildknapp« porträtierte. Hans-Martin Gauger hat vor zwei Jahren in Madrid, bei einem Treffen von Übersetzern, zu denen auch Rudolf Wittkopf gehörte, dieses »Bildnis eines Übersetzers« einer genauen, behutsam diagnostizierenden, ebenso interessanten wie amüsanten Betrachtung gewürdigt. Sein Resümee:

»[...] das Portrait Schildknapps entbehrt nicht sympathischer Züge, es ist aber im Kern boshaft und mehr als dies: es hat etwas Ungutes [...] Thomas Mann [...] sieht im literarischen Übersetzer einen Gescheiterten: einen, der ursprünglich und eigentlich anders, der mehr wollte und irgendwann hängenblieb im zugleich reizvollen und enervierenden Gestrüpp eines Seitenpfads, in einer Sackgasse. Ein Übersetzer, so kommt es heraus, ist einer, der Herr, Ritter (Regierungsrat) sein wollte und eigentlich noch immer sein will − und sich als Diener, als Knappe eines anderen (als Inspektor) wiederfindet.«

Bei aller kritischen Distanz, die Gaugers Scharfsinn zu wahren weiß, widerspricht er nicht dem Funktionsbild, das der Großromancier dem Übersetzer zudenkt. Der Gelehrte meinte: »Thomas Manns Übersetzer − und bereits dies (oder zumindest dies) ist ein überzeugender Griff − heißt Rüdiger Schildknapp. Gibt es für einen Übersetzer einen passenderen Namen?«
Nun ja, gewiß, der wahre Übersetzer dient, aus Liebe, und als der Liebende, der er ist, wird er zum Eroberer, zum Usurpator, ja zum Kannibalen, der sich einverleibt, was seinesgleichen und doch nicht er selber ist.
Thomas Mann spricht angesichts seines »vermittelnden Literaten«, der sich doch eigentlich zum »hervorbringenden Schriftsteller« berufen glaube, von einem »nicht gerade Superioren Selbstgefühl« und meint, damit einen Mangel, ein Versagen festzustellen. Ich fürchte, daß der gewitzte Kopf, der dem Freund nicht ohne hämisches Behagen das abspricht, was er für sein eigenes Ich nicht entbehren zu können wähnt, wohl niemals die von Novalis ausgesprochene Erkenntnis begriffen und akzeptiert hätte, ohne deren Erfahrung niemand zum wahren Übersetzer wird: »Wir sind gar nicht Ich − wir können und sollen aber Ich werden. Wir sollen alles in ein Du − in ein zweites Ich verwandeln − nur dadurch erheben wir uns selbst zum großen Ich − das eins und alles zugleich ist.« An anderer Stelle erklärt derselbe Novalis: »Der vollendete Mensch muß gleichsam zugleich an mehreren Orten und in mehreren Menschen leben.« Und die Forderung, die er selbst an den »wahren Übersetzer« richtet, drückt demzufolge eine wahrhaft maßlose Erwartung aus: er »muß in der Tat der Künstler selbst sein [...] − er muß der Dichter des Dichters sein und ihn also nach seiner und des Dichters eigner Idee zugleich reden lassen können.«
Was besagt bei solcher Sicht der Aufgabe die Unterscheidung von Produktion und Reproduktion, von Hervorbringung des Eigenen und Wiedergabe des Fremden? Der ausschließliche Kult des Originals, wie ihn Thomas Mann seinem Tonsetzer Adrian Leverkühn zuschreibt und Gauger ihn zustimmend zitiert, die Fixierung des Urtextes zum nur noch staunend anzustarrenden Fetisch »als das einzig Richtige, Würdige, Authentische«, wird, aus der Perspektive solch eines unbefriedigten, teilhabewütigen, expansiven Ich-Verlangens gesehen, nicht nur fraglich, sondern nichtig.

Octavio Paz behauptet:

»Von dem einen Gesichtspunkt aus erscheint uns die Welt als eine Ansammlung von Unterschieden, von dem anderen aus als eine Überlagerung von Texten, deren jeder nur geringfügig vom anderen abweicht: Übersetzungen von Übersetzungen von Übersetzungen. Jeder Text ist einmalig und zugleich die Übersetzung eines anderen. Kein Text ist gänzlich original, weil die Sprache selbst ihrem Wesen nach bereits eine Übersetzung ist: zunächst der nichtverbalen Welt, sodann der verbalen, in der jedes Zeichen, und somit jeder Satz, die Übersetzung eines anderen Zeichens und eines anderen Satzes ist. Diese Argumentation läßt sich auch umkehren, ohne daß sie an Gültigkeit verliert: alle Texte sind einmalig, weil jede Übersetzung anders ist. Jede Übersetzung ist demnach, bis zu einem gewissen Grad, eine Erfindung und bildet einen einmaligen Text.«

Das heißt auch: Für die Hervorbringung sogenannter »eigener« Dichtung wie für die Verfertigung dessen, was man »Übersetzung« nennt, gilt ein Gesetz, das jedem menschlichen Wesen vorgegeben und aufgegeben ist. Paz hat es sich auf seine Weise übersetzt, in ein paar Sätzen, die ich Ihnen in der Übersetzung Rudolf Wittkopfs zitieren kann:

Der Mensch verwirklicht oder vollendet sich, wenn er ein anderer wird. Indem er ein anderer wird, gelangt er wieder zu sich selbst, erlangt sein ursprüngliches Sein wieder, das Sein vor dem Verderben oder dem Sturz in die Welt, vor der Spaltung in das Ich und den »anderen«. − Die Eigenart des Menschen besteht nicht so sehr darin, daß er ein mit Worten begabtes Wesen ist, als in dieser seiner Möglichkeit, ein »anderer« zu sein. Und weil er ein anderer sein kann, ist er ein mit Worten begabtes Wesen. Die Worte sind eines der Mittel, über die er verfügt, ein anderer zu werden. Diese dichterische Möglichkeit verwirklicht sich freilich erst dann, wenn wir den Todessprung tun, das heißt, wenn wir wirklich aus uns selbst heraustreten und uns dem »anderen« hingeben, uns in ihm verlieren. Da, mitten im Sprung, ist der Mensch, über dem Abgrund schwebend, zwischen dem Diesen und Jenen, für einen blitzhaften Augenblick dieser und jener, das, was er war, und das, was er sein wird, Leben und Tod, in einem Er-selbst-sein, das volles Sein ist, gegenwärtige Fülle. Der Mensch ist jetzt all das, was er sein wollte: Fels, Frau, Vogel, die anderen Menschen und die anderen Wesen. Er ist Bild, Vermählung der Gegensätze, Gedicht, das zu sich selbst spricht. Schließlich ist er das Bild des im Menschen verwirklichten Menschen. − Die dichterische Stimme, die »andere Stimme«, ist meine Stimme. Das Sein des Menschen umfaßt bereits diesen anderen, der er sein will. »Die Geliebte«, sagt Machado, ist eins mit dem Liebenden, nicht am Ende des erotischen Geschehens, sondern an seinem Anfang.« Die Geliebte ist schon in unserem Sein, als Begierde und »Andersheit«. Sein ist Erotik.

Nicht beiläufig oder gar zufällig zitiert Octavio Paz in diesen zentralen Sätzen seines kapitalen Essays »Der Bogen und die Leier«, den ich als die Poetik unserer Jahrhunderthälfte betrachte und dessen bewundernswerte, beneidenswerte Übersetzung ich jedem Anwesenden zur Pflichtlektüre machen möchte − nicht zufällig, sagte ich, zitiert Paz hier den großen Spanier Antonio Machado, der aus seiner Erfahrung der essentiellen ›Andersheit‹ eines jeden Seins, seiner wesensbedingten, radikalen Heterogenität, eine poetische Praxis des pluralen Ichs entwickelte, indem er sich die geistige Gestalt, die literarische Stimme mehrerer »apokrypher« Denker und Dichter erfand, um so zugleich als der eine und der andere zu fühlen, zu denken und zu sprechen, sich selbst also wahrhaft zu ›übersetzen‹, dank einem hochartifiziell anmutenden Verfahren, das doch aus der lang vorausgegangenen, schöpferisch ernstgenommenen Elementarerkenntnis eines sich selbst als »brüderliche Monade« Verstehenden erwachsen war: »Das Auge, das du siehst, ist nicht / ein Auge, weil du es siehst, / sondern weil es dich sieht.« Woraus sich zwangsläufig die an die eigene Adresse gerichtete stetige Mahnung ergibt, die der Schildknapp-Porträtist vielleicht hätte beherzigen sollen: »Suche im Nächsten den Spiegel, / doch nicht, um dich zu rasieren / oder dir das Haar zu färben.«
Angeregt von Machado, vexiert von der rätselhaft widersprüchlichen, geheimnismächtig ansprechenden Einheit eines heraklitischen Doppelbildes − »die Leier, die den Menschen konsekriert und ihm so einen Platz im Kosmos gibt; der Bogen, der ihn über sich hinaus verweist« hat Paz eine anthropologisch fundierte Ästhetik der Dichtkunst entwickelt, deren Reichtum kein Festreferat zu vermitteln vermag. Ihre Quintessenz bedeutet jedenfalls das Ende des »superioren Selbstgefühls«. Was bleibt, ist das Gedicht, gesehen, gelesen, erlebt in einem fortwirkenden Prozeß stetigen Neuerschaffens − das Gedicht als

»einsamer und pluraler Held in ständigem Zwiegespräch mit sich selbst: Pronomen, das in alle Pronomen zerstiebt und in einem einzigen, unermeßlichen, absorbiert wird, das nicht das Ich der modernen Literatur ist. Dieses Pronomen ist die Sprache in ihrer widersprüchlichen Einheit: das Ich bin nicht du und das Du bist mein Ich

Der Gedichtband, den Rudolf Wittkopf als Autor mit seinem eigenen Namen und mit dem Titel Einzelgänger veröffentlicht hat − ein Gedichtband, in dem (nebenbei, aber doch mit Nachdruck sei’s gesagt) sich ein paar der schönsten Verse heutiger deutscher Lyrik finden − beginnt mit der »Bitte«: »Möge ich leben / wie ich gelebt werde...« Und er endet mit den Worten:

»Meine schöne Gelassenheit, wo?

Einst heiliger Müßiggang, weich
flog es über mich hin, anderes
kuschelte sich mir zur Seite
Wind war oder seine Stille
und die Steine lagen verstreut
waren Steine, hatten Augen, hörten

Unter ihnen ging ich umher
Hirte von nichts, aber Hirte
und wurde als Hirte geweidet

Jetzt wohne ich und wohne nicht
in einem haushohen Haus
und werfe es zu den Fenstern hinaus.«

Spricht so ein superiores Ich? Auch hier hat es ausregiert. Hans-Martin Gauger meinte, dank Thomas Mann einen Einblick in die Seele eines Übersetzers zu gewinnen. Ich meine − verzeihen Sie Das Schildknapp-Bildnis können wir leichten Herzens vergessen. Authentische Auskunft gibt das Selbstbildnis dessen, der sich sieht als Hirte von nichts, aber Hirte, der als Hirte geweidet wurde. Es ist derselbe, der von sich sagt: »Meine Augen möchten sehen als Baum, als Stein, als Wasser... Statt dessen hadern sie mit deren Wesen.« Derselbe, der sich zu dem ekstatischen Satz versteigt: »Hätten wir doch anstelle des Kopfes Luftwurzeln!«
Kaum dem humanistischen Gymnasium entronnen, ging der neunzehnjährige Wittkopf, von Rimbaud begeistert und bereits zum Schauspieler ausgebildet, für zwei Jahre nach Paris. Heimgekehrt nach Heidelberg, fuhr er fort, die von ihm ins Leben gerufene Poesie-Zeitschrift »Profile« herauszugeben. Er arbeitete im Limes-Verlag, fungierte als Lektor bei Karl Rauch, bis es ihn nicht mehr hielt und er, südwärts getrieben, sich in einem menorquinischen Fischerdorf niederließ, wo er mit seiner Frau und der dort geborenen Tochter fast ein Jahrzehnt lang als Meeresnachbar lebte. Nur die Notwendigkeit, für das Kind eine geeignete Schule zu finden, veranlaßte ihn, sich in der Großstadt Barcelona einzunisten, von wo er, aus ökonomischen Gründen, erst vor wenigen Jahren, zwar nicht ›heimkehrte‹, aber doch zurück nach Deutschland übersiedelte, nach Straelen, in die Nähe des Europäischen Übersetzerkollegiums − Einzelgänger noch immer und doch auch sympathisierender Nachbar.
Die übersetzerische Ernte, die der Fleiß des doch stets auf seine Gelassenheit Bedachten für uns einbrachte, ist reich und von reizvoller Vielfalt. Seine Bibliographie, die drei ganze Seiten füllt, weist englische und amerikanische Namen auf, aber es dominieren die Romanen: zunächst die Franzosen und dann die Spanier oder Hispanoamerikaner. Allen Ginsberg steht da neben Gertrude Stein, Apollinaire neben Breton; Gedichte von Pedro Salinas und Gerardo Diego sind zu finden, Lorcas »Diwan des Tamarit« und zwei Theaterstücke aus dem Nachlaß des ermordeten Granadiners. Eine üppige, reichbewegte Literaturlandschaft, aus der − für meine Augen − als Gipfel von dauerhaftem Schimmer vier oder fünf Meisterwerke der zwiefachen Autorschaft emporragen: Louis Aragons Pariser Landleben, Die Abenteuer des Freibeuters Sanglot von Robert Desnos, die Aurora von Michel Leiris, ein ganzes Massiv diverser Essays von Paz, bekrönt von dessen Poetik, und − nicht zu vergessen − der phantastisch gezackte Höhenzug der Erzählungen von Julio Cortázar: fast eine höllische Himmelfahrt...
Trotz der Leistung, dies alles für den deutschen Leser erlebbar gemacht zu haben, als eine zweite Wirklichkeit, wird der bürgerliche Verstand befinden müssen: Unser Preisträger hat zwar heute Lorbeer erlangt, aber er ist nie auf einen grünen Zweig gekommen. Einer solchen Einschätzung würde der wahre Übersetzer, der er ist, vielleicht mit einer »Greguería« erwidern: »Der Baum hält die Vögel, die sich an seine Zweige klammem, für seine Ringe.«
Wenn nicht tröstlich, so doch gewiß erheiternd, lieber Rudolf Wittkopf, ist ein Detail aus der ökonomischen Intimsphäre eines großen Kollegen, das uns von dessen Gattin überliefert wurde, von Ernestine Voß, der Frau unseres Preispatrons. Sie berichtet aus ihren frühen Ehejahren in Otterndorf:

»Zu unserer Hausökonomie gehörte unter ändern, daß Abends nur ein Licht angezündet ward. Da Voß immer stehend am Pult arbeitete, und dazwischen auf und ab ging, entweder schweigend oder mittheilend, was in ihm lebte, ich aber für die zierlichen Stiche mit der Nadel der Helle nicht wohl entbehren konnte; so ersannen wir die Aushülfe, neben das Pult unsern Eßtisch und auf diesen für mich einen kleinen Strohsessel aus der Küche zu stellen.«

Bei Johann Heinrich selbst aber, in einer Fußnote zu einem seiner Briefe, stieß ich auf ein anderes Detail, aus dem, als wär’s ein jäh geöffnetes Himmelsfenster, ein Lichtgruß von gloriosem Glanz auf diesen Festakt, auf das Haupt des hier zu Feiernden fällt. »Trotz allem Unwetter«, heißt es da, »wuchs die Ilias fröhlich fort. Angefangen ward sie gegen den September 1786 und am 16. Mai 1787 geendigt.«
Also heute, genau heute vor zweihundert Jahren, wurde das gewaltige Werk der Homer-Übersetzung beendet − ein Œuvre, das wahrlich satzungsgerecht »die deutsche Sprache und Literatur bereichert hat«.
Niemand, lieber Rudolf Wittkopf, niemand hat sinnig Deine Ehrung gerade für diesen Tag geplant. Völlig eigenmächtig hat sich die segnende Kollegenhand des deutschen Homeriden Dir auf den Scheitel gelegt. Und die Worte, die er der Datumsoffenbarung folgen läßt, darfst Du als die verdiente Ermunterung aus dem Mund eines Zuständigen nehmen: »Wer einmal tapfer sich angestrengt, zu finden, worauf es ankommt, der arbeitet sicherer und leichter, als der flatternde Liebhaber, der ohne Kunstfertigkeit huscht und pfuscht.« Aufgeräumt plaudernd, läßt der einst ob seiner Strenge von manchem Kollegen Gefürchtete Dich einen Blick in die enge Häuslichkeit tun, die dem »redlichen Autochthonen« − wie Goethe ihn nannte − die Lust zur Bewältigung des Größten erlaubte.

»Auf dem abgelegenen Stübchen konnte mit lebendiger Stimme gedeutscht werden; und, ob Leben gewonnen sei, entschied in der Feierstunde die unbestechliche Hausrichterin. Für uns hätt’ ich auf Robinsons Insel mit Begeisterung das Werk vollendet, und dann freilich gewünscht, daß es ein Schiff nach Deutschland brächte.«

Was Schiller an der Übersetzungskunst Vossens rühmte, daß sie »mit der Bestimmtheit und auch der Leichtigkeit des Meisters« wirke, läßt sich − bei aller Verschiedenheit der Naturen und der Gegenstände − mit Fug und Recht auch den besten Arbeiten Wittkopfs nachsagen.
Das Huschen und Pfuschen ist seine Sache nie gewesen. Leichtigkeit, ja − aber eine Leichtigkeit sehr spezifischer, sehr präziser Art. Eine langsame Leichtigkeit, langsame Wendigkeit, lauernd in sinnlicher Wachsamkeit, wie ein stoßbereites Schweben in der Luft.
Der leidenschaftliche Segler, dessen Boot noch immer auf Menorca wartet, hat nicht nur das Witterungsvermögen, das schon von weitem den Wind über die Wellen heranpirschen fühlt; er hat auch die Hand, die reffen kann.
Sein eigentliches Zuhause ist die Insel, der Ort, dessen Isolation völlige Offenheit bedeutet, ausgesetzt einer grenzenlosen Weite.
»Das Meer oder die Verheißung des Menschen mit ausgebreiteten Armen« − so lautet einer der ureigenen Sätze dieses Übersetzers. Wir brauchen den Verheißenen nicht zu erwarten: er ist es. Darum haben wir noch viel von ihm zu erwarten.
Ich gratuliere ihm und uns. Enhorabuena!