Johann-Heinrich-Voß-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung würdigt seit 1958 ein übersetzerisches Lebenswerk oder herausragende Einzelleistungen.

Der Preis wird vom Land Hessen gestiftet und ist mit 20.000 Euro dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung der Akademie vergeben.

§ 2
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis berücksichtigt Übersetzungen aus allen literarischen Darstellungs­formen. Ausgezeichnet werden Übersetzungen in die deutsche Sprache. Die auszuzeichnende Übersetzung bewegt sich auf dem künstlerischen und sprachlichen Niveau des Ausgangstextes und stellt eine eigene sprachschöpferische Leistung dar.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden. Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Johann-Heinrich-Voß-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Das Land Hessen ist mit einem Vertreter bzw. einer Vertreterin beratend an der Entscheidung beteiligt. Die Bekanntgabe erfolgt über eine gemeinsame Pressemitteilung.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 2. November 2022

Helmut Scheffel

Übersetzer
Geboren 7.5.1925
Gestorben 17.7.2010

Gerda und Helmut Scheffel, die in zwanzigjähriger gemeinsamer Arbeit mit Spürsinn, Sachkenntnis und Einfühlung einen bedeutenden Teil der neueren französischen Literatur übersetzt...

Jurymitglieder
Kommission: Karl Dedecius, Hermann Lenz, Horst Rüdiger, Elmar Tophoven, Ernst Zinn

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Übersetzen heißt interpretieren

Meine sehr verehrten Damen und Herren, als ich vor etwas über zwanzig Jahren an meiner ersten Übersetzung eines literarischen Werkes arbeitete ‒ es war der Roman »La Modification« von Michel Butor ‒ konnte ich nicht ahnen, welche überraschenden Folgen diese mühevolle Tätigkeit noch haben würde. Eine davon erlebe ich heute. Eine andere, damals nicht minder überraschende, war eine Einladung der »Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung« zu einer Tagung, die 1958 in Trier stattfand und bei der es um Fragen der französischen Gegenwartsliteratur ging. Den Johann-Heinrich-Voß-Preis erhielt damals Benno Geiger für seine Petrarca-Übersetzung. Die Veranstaltung ist mir noch in außerordentlich lebhafter Erinnerung.
Ich muß gestehen, daß ich in den ersten Jahren meiner Übersetzertätigkeit nicht sehr viel wußte von Übersetzungstheorie, daß ich nur eine schwache Ahnung von all dem hatte, was im Laufe der Jahrhunderte über das Übersetzen geschrieben worden ist. Inzwischen habe ich wenigstens einen Teil davon nachgelesen. Von Cicero, Hieronymus, Goethe, Schleiermacher, Schopenhauer, Benjamin, Schadewaldt, Gadamer und zahlreichen anderen oder auch ‒ mitunter kopfschüttelnd, manchmal doch mit Gewinn - von einigen Sprachwissenschaftlern wie Georges Mounin und Mario Wandruszka. Ich habe dadurch eine Menge Einsichten gewonnen in das, was Übersetzen ist, was es sein soll, was es sein kann. Ich kann heute mit Begriffen hantieren, um etwa das Autorspezifische vom Sprachspezifischen zu unterscheiden, um lexikalische Schwierigkeiten, semantische Probleme zu umgrenzen, Klangschichten von Bedeutungsschichten zu trennen. Der Übersetzungsvorgang ist damit für mich etwas durchsichtiger geworden. Sie werden jedoch Verständnis dafür haben, daß ich hier nicht eine Theorie rekapituliere oder gar eine eigene Übersetzungstheorie entwickele, sondern es bei dieser allgemeinen Feststellung bewenden lasse und allenfalls den programmatisch klingenden Satz sage: Übersetzen heißt interpretieren.
Ich bin in den letzten Jahren mehrfach, meist von Studenten, gefragt worden: wie wird man literarischer Übersetzer?
Die Frage hat mich immer in eine gewisse Verlegenheit versetzt. Ja, wie wird man das? Wenn ich mich unter Übersetzerkollegen umsehe, stelle ich fest, daß es jeder auf eine andere Weise geworden ist, aber auch, und darauf hat meine Frau schon hingewiesen, daß es viele nicht geblieben sind. Ich kann die Fragesteller jedesmal nur auf ein paar unerläßliche Voraussetzungen hinweisen, ohne die Übersetzen nicht möglich ist: sehr gründliche Kenntnisse der fremden Sprache, des fremden Landes, seiner Geschichte, Kultur, seiner Institutionen, seiner Menschen und ihrer Mentalität. Eine Binsenweisheit, aber da man immer noch gelegentlich hört, der Übersetzer müsse vor allem seine eigene Sprache können, scheint es mir nötig, dem nachdrücklich zu widersprechen. Natürlich muß der Übersetzer eine äußerst geschärfte Aufmerksamkeit für seine Sprache aufbringen, er muß hören, was er schreibt, und er muß vor sich sehen, was er schreibt. Außerdem sollte er mit möglichst vielen Werken von Autoren der eigenen Sprache vertraut sein.
Doch das sind nur die äußeren Voraussetzungen für das Üben der sprachlichen und literarischen Sensibilität. Das Übersetzen ist auch, wie man von der Medizin gesagt hat, »un art fondé sur une science«, eine Kunst, die sich auf eine Wissenschaft gründet. Nichts gegen den ehrenwerten Stand der Mediziner, aber wir wissen, wie selten die Medizin-»Künstler« unter ihnen sind. Die Sensibilität ist eine Sache der psychologischen Konstitution. Nicht, daß diese angeboren wäre, doch wie sie zustande gekommen ist, könnte nur von Fall zu Fall durch eine komplizierte Analyse geklärt werden, wenn es denn überhaupt zu klären ist.
Nun soll der Übersetzer nicht nur nachempfinden, was ein Autor schrieb, er soll es nicht nur verstehen ‒ er muß es übrigens nicht auch unbedingt theoretisch erklären können, es gibt sehr unterschiedliche Übersetzertypen ‒, er soll es auch reproduzieren in seiner eigenen, in einem langen historischen Prozeß auf besondere Weise kodifizierten Sprache. Nachdem er in das Fremde hineingekrochen ist, es sich einverleibt hat ‒ ich wähle absichtlich Ausdrücke für physische und physiologische Vorgänge ‒ soll er es in seiner Sprache nachahmen, nachspielen, soll er es über-setzen. Er muß ersetzen üben, denn man hat seine Tätigkeit ja auch schon bezeichnet als üb-ersetzen.
Da sitzt nun der Mimetiker, der Proteus mit den vielen Seelen und Gesichtern. Handwerker ist er, aber auch Künstler. Nur hat er nicht die künstlerische Freiheit, denn dort, wo ein Autor sich diese leisten und sich etwa von seiner Phantasie lenken lassen kann, herrscht für den Übersetzer das Gebot der Treue, der Unterwerfung unter das Original. Denn, es sei mir erlaubt ein Lessingzitat abzuwandeln: »ich kenne keine gute Übersetzung, die ihren Glanz nicht von der größtmöglichen Treue gegenüber dem Original mehr oder weniger entlehnt«.
Treue ‒ ich weiß, welche Fragen das auf wirft. Lassen Sie mich es ganz allgemein so formulieren: in der Übersetzung soll so viel wie irgend möglich von dem erscheinen, anschaulich und nachvollziehbar werden, was der Autor intendiert hat. Das Gebot der Treue wird der Übersetzer um so leichter akzeptieren, je größer die Qualität, die Stimmigkeit, die ästhetische Überzeugungskraft, der Reichtum des Originals ist. Zu bedauern ist der Übersetzer, der sich wochen- und monatelang mit einem Text plagen muß, der mit Mängeln behaftet ist. Wir hatten das Glück, das Privileg, wenn man so will, in den allermeisten Fällen nur Bücher zu übersetzen, die wir selbst ausgesucht und häufig den Verlagen selbst vorgeschlagen haben. Es macht die Lösung der konkreten Übersetzungsprobleme nicht leichter, es verringert die Qualen nicht, wenn man das zu übersetzende Werk achtet oder bewundert.
Ich danke der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für den Preis, ich danke Traugott König für seine freundschaftliche und verständnisvolle Preisrede, und ich danke meiner Frau, meiner ersten und meiner besten, und in manchen Fällen überhaupt der einzigen Lektorin.