Johann-Heinrich-Voß-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung würdigt seit 1958 ein übersetzerisches Lebenswerk oder herausragende Einzelleistungen.

Der Preis wird vom Land Hessen gestiftet und ist mit 20.000 Euro dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung der Akademie vergeben.

§ 2
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis berücksichtigt Übersetzungen aus allen literarischen Darstellungs­formen. Ausgezeichnet werden Übersetzungen in die deutsche Sprache. Die auszuzeichnende Übersetzung bewegt sich auf dem künstlerischen und sprachlichen Niveau des Ausgangstextes und stellt eine eigene sprachschöpferische Leistung dar.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden. Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Johann-Heinrich-Voß-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Das Land Hessen ist mit einem Vertreter bzw. einer Vertreterin beratend an der Entscheidung beteiligt. Die Bekanntgabe erfolgt über eine gemeinsame Pressemitteilung.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 2. November 2022

Hanns Grössel

Übersetzer und Journalist
Geboren 18.4.1932
Gestorben 1.8.2012
Mitglied seit 2010

... der seine Wirksamkeit als »Öffnen literarischer Grenzen« versteht.

Jurymitglieder
Kommission: Richard Alewyn, Martin Beheim-Schwarzbach, Hans Hennecke, Horst Rüdiger, Harald Weinrich

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Laudatio von Gustav Korlén
Germanist, geboren 1915

Die Entscheidung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, den diesjährigen Übersetzerpreis an Dr. Hanns Grössel zu verleihen, ist aus skandinavischer Sicht überaus erfreulich. Nicht nur, daß damit zum ersten Mal ein Übersetzer geehrt wird, dessen Hauptinteresse der dänischen und der schwedischen Literatur gilt. Darüber hinaus hat Hanns Grössel sich als Verlagslektor, Rundfunkredakteur und Literaturkritiker in Zeitungen und Zeitschriften in hervorragendem Maße um die Rezeption skandinavischer Literatur in Deutschland verdient gemacht.
Wie kam es dazu? Wer mit der biographischen Methode der schwedischen Literaturwissenschaft aufgewachsen ist, greift gern auf die Vita des Preisträgers zurück. Zwei Abschnitte in diesem Lebenslauf scheinen mir von besonderer Bedeutung gewesen zu sein. Einmal der Umstand, daß es Grössel 1939 im Alter von sieben Jahren nach Kopenhagen verschlug, da sein Vater an die dortige Sankt Petri-Schule berufen wurde. Erst 1947 kehrte Grössel in die damalige Sowjetische Besatzungszone zurück und ging im folgenden Jahr nach Westdeutschland, wo er vier Jahre das Humanistische Gymnasium in Lüneburg besuchte. Nun lehrt die moderne Linguistik in der Nachfolge von Noam Chomsky bekanntlich, daß wer vor der Pubertät eine Zweitsprache erlernt, zu dieser in ein besonders enges Verhältnis kommt, und gerade Hanns Grössel scheint mir ein weiterer Beweis für die Richtigkeit dieser These zu sein.
Der zweite Faktor ist sein Studiengang. Er führte von Göttingen nach Paris − daß auch seine romanistischen Studien in seiner Übersetzertätigkeit Spuren hinterlassen haben, sei hier jedenfalls am Rande vermerkt − und von Paris wieder zurück nach Göttingen. Hier promovierte er im Jahre 1960 mit einer Arbeit über Clemens Brentano, und zwar bei Wolfgang Kayser, bei jenem allzu früh verstorbenen Akademiemitglied und Meister des Sprachlichen Kunstwerks also, der wie wenige Germanisten damals schon einen so klaren Blick hatte für die Bedeutung des Sprachvergleichs als Mittel der stilistischen Schulung: »Es ist kein Zufall«, heißt es bei Kayser, »daß es oft Ausländer sind, die eine Nationalsprache als Stil deuten. Geschieht dies an der eigenen Sprache, so wird dabei, wie man etwa an den Fußnoten von A. Dauzats Génie de la langue française ablesen kann, ausführlich auf andere Sprachen gewiesen. Im Vergleich, der sich dem Ausländer immer aufdrängt, hebt sich das Besondere einer Sprache am deutlichsten heraus, und das Besondere verheißt die schnellsten Rückschlüsse auf den in einer Sprache waltenden Geist«, heißt es abschließend bei Kayser, wobei ich freilich als Linguist mit dem Wort Geist etwas vorsichtiger umgehen würde. Aber daß Hanns Grössel auch von dieser Sehweise Wolfgang Kaysers geprägt worden ist, wage ich zu vermuten.
Der Schwerpunkt der Bemühungen von Grössel liegt, wie zu erwarten, im Bereich der sehr vitalen dänischen Nachkriegsliteratur, bei der sich wieder einmal meine alte These bestätigt, daß Dänemark nicht nur geographisch dem europäischen Kontinent näher liegt. Grössel hat so verschiedenartige und so bedeutende Schriftsteller wie Leif Panduro, Villy Sørensen und Klaus Rifbjerg dem deutschen Publikum vorgestellt, um hier nur eine knappe Auswahl der von ihm bevorzugten Autoren zu nennen. In einem Gutachten von berufenerer Feder heißt es, daß er »alle Stilstufen vom rein Umgangssprachlichen über das Impressionistische zum Surrealistischen beherrscht. Folglich wird das Künstlerische nirgends angetastet, sondern ins Deutsche hinübergerettet.«
Nun schrieb mir Hanns Grössel vor einiger Zeit, als ich ihn um ein Gesamtverzeichnis seiner Übersetzungen bat, er habe auch ein bißchen und mit schlechtem Gewissen aus dem Schwedischen übersetzt. Nun, über die semantische Interpretation von Ausdrücken wie »ein bißchen« kann man verschiedener Meinung sein − darüber gibt es schon Dissertationen. Und auf jeden Fall kann ich ihn beruhigen: zum schlechten Gewissen liegt kein Anlaß vor. Auch seine Übersetzungen aus dem Schwedischen halten nämlich einer näheren Prüfung stand. Und dies ist um so bemerkenswerter, als gerade bei so verwandten Sprachen, wie das Dänische und Schwedische es nun einmal sind, die Tücken der sog. false friends besonders gefährlich sind. Was es mit diesem linguistischen Terminus technicus auf sich hat, darf ich vielleicht mit einem drastischen deutsch-schwedischen Beispiel erläutern. In einer deutschen Übersetzung eines bekannten Gedichts von Lars Gustafsson mit dem Titel »Die Karikatur des Mannes mit dem abgeschnittenen Schatten« heißt eine Zeile »Aber dieses Rätsel, was bedeutet es?« Das phonetisch anklingende Wort des schwedischen Textes, rädsla, bedeutet nun aber nicht Rätsel, sondern Angst, und es ist leicht einzusehen, welche katastrophalen Folgen sich daraus für die Interpretation dieses in der deutschen Fassung nun in der Tat rätselhaften Gedichts ergeben. Und derartige falsche Freunde sind zwischen der dänischen und der schwedischen Sprache Legion. Unnötig zu sagen, daß der Übersetzer des zitierten Gedichts nicht Hanns Grössel heißt, der seine Kapazität auch gerade an Texten von Lars Gustafsson unter Beweis gestellt hat.
In einem bemerkenswerten Aufsatz mit dem Titel »Die nördliche Grenze« in der Neuen Rundschau vom Jahr 1973 hat der Preisträger die Rezeption der skandinavischen Literatur in Deutschland nach 1945 mit souveräner Beherrschung der Materie behandelt. Er unterstreicht, daß die große Zeit um die Jahrhundertwende, wo skandinavische Literatur in Deutschland geradezu Mode war, natürlich unweigerlich vorbei ist. Aber andererseits: es gibt Ansätze, zumindest für Schweden, daß der deutsche Sprachraum − vor allem Berlin − eine ähnlich entscheidende Rolle wie zu Zeiten Strindbergs zu spielen beginnt. Gerade Lars Gustafsson scheint mir dafür ein besonders markantes Beispiel zu sein.
Man sollte sich nun von dem Einfluß dänischer und schwedischer Literatur in der Bundesrepublik natürlich keine übertriebenen Vorstellungen machen. Ich bin der Letzte, solche Illusionen zu hegen. Aber daß diese Literaturen doch präsent sind, daß sie überhaupt eine Rolle spielen, das ist zu einem nicht geringen Teil das Verdienst von Hanns Grössel.
Die skandinavischen Autoren, die ihm so viel verdanken, sind daher mit mir einig, wenn ich ihm hier zu dieser Auszeichnung, in der ich zugleich eine Ehrung unserer eigenen Literaturen sehe, mit sehr gutem Gewissen und sehr herzlich gratuliere.