Johann-Heinrich-Voß-Preis

STATUT

§ 1
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung würdigt seit 1958 ein übersetzerisches Lebenswerk oder herausragende Einzelleistungen.

Der Preis wird vom Land Hessen gestiftet und ist mit 20.000 Euro dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Frühjahrstagung der Akademie vergeben.

§ 2
Der Johann-Heinrich-Voß-Preis berücksichtigt Übersetzungen aus allen literarischen Darstellungs­formen. Ausgezeichnet werden Übersetzungen in die deutsche Sprache. Die auszuzeichnende Übersetzung bewegt sich auf dem künstlerischen und sprachlichen Niveau des Ausgangstextes und stellt eine eigene sprachschöpferische Leistung dar.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich.

§ 3
Der Preis darf nicht geteilt werden. Kann der Preis aus zwingenden Gründen nicht ausgehändigt werden, so bleibt es dem Erweiterten Präsidium überlassen, die Verleihung des Preises auf das nächste Jahr zu verschieben.

§ 4
Eine Fachkommission der Akademie berät über Kandidatinnen und Kandidaten für den Johann-Heinrich-Voß-Preis. Sie besteht aus sieben sachkundigen Mitgliedern, die von der Mitgliederversammlung gewählt werden.

Auf der Grundlage des Vorschlags dieser Kommission für den Johann-Heinrich-Voß-Preis entscheidet das Erweiterte Präsidium über den Träger bzw. die Trägerin des Preises.

Das Land Hessen ist mit einem Vertreter bzw. einer Vertreterin beratend an der Entscheidung beteiligt. Die Bekanntgabe erfolgt über eine gemeinsame Pressemitteilung.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 2. November 2022

Elisabeth Kaerrick Rahsin

Übersetzerin
Geboren 6.1.1886
Gestorben 25.6.1966

Seit einem halben Jahrhundert hat sie ihre Arbeit als Übersetzerin dem Lebenswerk Dostojewskijs gewidmet...

Jurymitglieder
Kommission: Rudolf Hagelstange, Hans Hennecke, Karl Krolow, Walter Franz Schirmer, W. E. Süskind, Georg von der Vring

Mitglieder des Erweiterten Präsidiums

Dostojewskij und die Dekabristen

Von jener ersten, dreiundzwanzigbändigen Gesamtausgabe Dostojewskijs, die von 1906 bis 1922 erschienen ist, sind die Bestände im zweiten Weltkrieg in Leipzig größtenteils den Brandbomben zum Opfer gefallen. Doch hatte der Piper-Verlag auch die Nachlaßschriften Dostojewskijs erworben und in mehreren Bänden unter der Redaktion von Fülöp Miller und Friedrich Eckstein ab 1925 herausgebracht, dazu noch die »Lebenserinnerungen« und das »Tagebuch« der zweiten Gattin des Dichters, die Lebensgeschichte seiner »Ewigen Freundin« Polina Ssùsslowa, und ähnliche Quellenwerke.
Dieses ganze neue Tatsachenmaterial konnte erst nach dem Sturz des Zarismus (1917) und nach dem Tode der Witwe des Dichters (1918), von russischen Dostojewskij-Forschern sichergestellt, geordnet und in liebevoller Kleinarbeit kommentiert werden. In jüngster Zeit sollen noch weitere sieben Hefte mit Entwürfen und Notizen des Dichters gefunden worden sein und demnächst veröffentlicht werden. Auch die Zahl der Spezialarbeiten allein der russischen Forscher über die vielen Themen, die das Gesamtwerk stellt, ist kaum noch abzuschätzen und wächst jährlich weiter, so daß das Bild Dostojewskijs in den letzten Jahrzehnten eine entscheidende Berichtigung, Erweiterung und Vertiefung erfahren hat ‒ nicht zuletzt auch infolge der jüngsten historischen Ereignisse, vor allem der von Dostojewskij so stark vorausgefühlten russischen Revolution mit allen ihren qualvollen Problemen, diesem eigentlichen Thema seines Gesamtwerkes.
Dostojewskij zu übersetzen, ist eine vergleichsweise einfache Arbeit; ihn ohne Vorurteil verstehen zu helfen, ist ungleich komplizierter. Dem bekannten großen Essay von Stefan Zweig über Dostojewskij folgend, war lange die Vorstellung verbreitet, Dostojewskij sei schlechthin »der Dichter der Armen«, und diese Annahme wurde sogar noch damit erklärt, daß »er selbst in Armut geboren und aufgewachsen« sei. Das stimmt keineswegs.
Dostojewskij wurde 1821 in Moskau geboren, als zweiter Sohn des Chefarztes am großen staatlichen Marienhospital. Der Vater, der nebenbei in der Stadt eine große Praxis hatte, verfügte über vier Pferde und sieben Dienstboten. Die literarisch sehr interessierten Eltern sprachen unter sich französisch, wenn die Dienstboten sie nicht verstehen sollten. Die Kinder ‒ vier Söhne und drei Töchter ‒ besuchten die besten und teuersten Privatschulen, wurden zum Sonntag im Zweispänner aus den Internaten heimgeholt und am Montag früh wieder hingefahren. Man lebte allerdings ohne jeden gesellschaftlichen Verkehr, da dem sehr adelsstolzen Vater keiner seiner Kollegen zu privatem Umgang gut genug schien. Das Geschlecht der Dostojewskijs gehörte nämlich zum alten Krieger- und Landadel aus dem westlichen Grenzgebiet bei Minsk, von wo die Dostojewskijs im 17. Jahrhundert in die Ukraine auswanderten, Ukrainerinnen heirateten und zum griechisch-katholischen Glauben übertraten. Der Vater des Dichters hatte bereits als Fünfzehnjähriger, »nach einem außergewöhnlichen Streit«, mit seinen Eltern und Geschwistern gebrochen und hat später nie mit einem einzigen Wort geantwortet, wenn man ihn nach seinen ukrainischen Verwandten fragte. So war er 1804, »ohne Geld, ohne Protektion«, nach Moskau aufgebrochen, um dort Medizin zu studieren. 1812 nahm er als Militärarzt am Kriege gegen Napoleon teil und trug seitdem auch die Uniform der Militärärzte mit dem hohen goldgestickten Kragen am Frack und dem Zierdegen an der Seite, was ihm das Aussehen eines höheren Offiziers verlieh. Seine Stellung als Chefarzt entsprach dem Rang eines Obersten. Als solchen höheren Offizier hat ihn der Dichter für immer in der Erinnerung behalten.
Aber dieser Vater, der nach dem Tode seiner Frau den Abschied genommen und auf seinen zwei kleineren Landgütern bei Tula zum Säufer, Wüstling, Haustyrannen und Geizhals geworden war, wurde schon 1839 von seinen Leibeigenen umgebracht. Zum Vormund der Kinder wurde der Gatte der ältesten Tochter gewählt, Karépin, ein älterer, sehr angesehener, zuverlässiger und grundgütiger Mensch, der es gewiß nicht verdiente, von seinem jungen Schwager als knickerige Spießerseele von oben herab beurteilt zu werden, bloß weil dieser als Portepee-Junker an der Akademie für Militär-Ingenieure mit keinem zusätzlichen Taschengelde auskam. Nachdem aber Dostojewskij 1842 zum Leutnant befördert worden war, verließ er das Ingenieurpalais und mietete eine Fünfzimmerwohnung in vornehmer Gegend, angeblich, weil ihm das Gesicht des Vermieters gefiel.
Im nächsten Jahr, 1843, kam Balzac nach Petersburg und wurde drei Monate lang von der Presse und der Gesellschaft hingebend gefeiert. Dostojewskij, der nun beim Ingenieur-Departement angestellt war, aber immer noch an nichts als an Literatur dachte, begann nebenbei Balzacs »Eugénie Grandet« zu übersetzen, danach George Sand und Sue, »um sich im Schriftstellern zu üben«. Aber schon 1844 hielt er es nicht mehr aus im Militärdienst und nahm den Abschied, um als freier Schriftsteller zu leben, was er sich in seiner Unerfahrenheit spielend leicht dachte. Auf die Bitten des Vormunds, sich diesen Schritt reiflich zu überlegen, verlangte er von dem ihm zustehenden Erbe eine einmalige größere Summe als Abfindung, unter Verzicht auf weitere Bezüge. Die Fünfzimmerwohnung natürlich hatte er schon bald nicht mehr bezahlen können, hatte in billigeren Räumen gewohnt, auch zusammen mit einem Dr. Riesenkampf, der ihm deutsche Sparsamkeit beibringen sollte, aber statt dessen bewirtete Dostojewskij des Arztes Patienten, die ihm dafür von ihrem Leben im Milieu der kleinen Leute erzählten, das in der russischen Literatur gerade zum Modethema geworden war. Von solchen erzählenden Zufallsbekannten, die er auch in billigen Restaurants kennenlernte und die ihm die Augen öffneten für die Großstadtarmut, wurde er uferlos ausgenutzt, angepumpt und oft, sehr oft einfach bestohlen. Das taten auch seine Diener in unverschämtester Weise.
So darf man sagen, daß Dostojewskij weder »in Armut geboren« noch »in Armut auf gewachsen« ist, sondern bis zu seinem Austritt aus dem Militärdienst echte Armut gar nicht gekannt hat. Was er aber von nun ab als »freier Schriftsteller« erlebte, war die Misere des Künstlers und Träumers, die doch immer wieder überspielt wird vom Rausch schöpferischer Stunden. Und dabei ist es sein Leben lang geblieben: er fristete sich von Vorschuß zu Vorschuß für erst noch zu schreibende Werke durch. Trotzdem hat er sich nie zu den »Armen« gerechnet, sich nie als arm empfunden, trotz aller Peinlichkeiten und Qualen, wenn das Geld auf sich warten ließ und er Kleider versetzen oder wieder auf Pump leben mußte. Anfang Mai 1845 war sein erstes Werk beendet. Es hieß »Arme Leute«. Der Erfolg war berauschend für den jungen Autor. Auch seine nächsten sogenannten Jugendwerke aus den folgenden drei Jahren blieben dem Milieu der Großstadt treu, allerdings mit schnell abnehmendem Erfolg..., bis seine Verhaftung am 24. April 1849 seiner schriftstellerischen Tätigkeit ein Ende setzte. Aber darf man ihn wegen dieser ersten Werke zwischen 1845 und 1849 schon als »Dichter der Armen« bezeichnen, als Sozialisten im üblichen Sinne, als Ankläger aus Mitleid mit den materiell in Not Lebenden? ‒ Bei allem Mitempfinden mit der einzelnen leidenden Kreatur, gleichviel auf welcher sozialen Stufe, hat Dostojewskij die Einteilung der Menschen in »Reiche« und »Arme« nie mitgemacht, sondern sie nach viel subtileren Merkmalen unterschieden. Denn daß ein armer, »ausgebeuteter« Mensch, der Hunger und Unrecht erleidet, schließlich auf die Barrikaden geht, das versteht ziemlich jedermann. Daß aber auch Wohlsituierte, die alle Annehmlichkeiten des Lebens genießen, vermeintlich »grundlos« rebellieren, ihren ganzen Reichtum und Rang, ja ihr Leben aufs Spiel setzen, das zu verstehen, ist nicht jedermann gegeben.
Wer die Geschichte Rußlands, wenigstens seit Peter dem Großen, kennt, wird zu erraten glauben, worauf damit angespielt wird: auf die Dekabristen.
Aber, was verbindet sich für einen Nichtrussen mit der Bezeichnung: die »Dekabristen«? Bestenfalls ein paar Sätze aus dem Programm des Obersten Paul von Pestel, wie: Liquidierung des Zarenhauses, Ausrufung der Republik, Übergang vom Privatkapitalismus zum Staatskapitalismus im Laufe von zehn Jahren, natürlich auch die Aufhebung der Leibeigenschaft, und so weiter. Im Grunde aber handelte es sich um das Andrängen eines Gefühls, das sich in der geistigen Elite Rußlands schon unter Katharina II. zu regen begonnen hatte, stark angefacht durch die vorrevolutionären Denker Frankreichs, deren Werke in Rußland gierig verschlungen wurden. Nach dem Sieg über Napoleon aber hatten diese revolutionären Ideen auch die Offiziere der russischen Garderegimenter infiziert, die als Besatzungstruppen bis 1818 in Paris geblieben waren. Nachdem 1825 Großfürst Nikolaus den Dekabristenaufstand zusammenkartätscht hatte, wurden von den über 1000 Verhafteten 121 für schuldig befunden. Unter diesen befanden sich sieben Fürsten, zwei Grafen, drei Barone, zwei Generäle, 23 Obersten und unzählige weitere Offiziere. Aber welcher Zugehörige der geistigen Elite war heimlich nicht Dekabrist? Die Dichter Puschkin und Gribojédoff entgingen der Verhaftung nur, weil sie im Augenblick im Süden Rußlands weilten.
Sieht man nun im Lichte dieser historischen Tatsachen Dostojewskijs Gesamtwerk, so muß man sich gestehen, daß alle seine positiven Helden, wie auch er selbst, »Dekabristen« sind. Ihrer inneren Struktur nach stammen sie alle aus dem gleichen geistigen Magma, wenn sie auch, nach Dostojewskijs eigener sibirischer Erfahrung, viel vorsichtiger, weil viel wissender, und darum auch viel gefährlicher sind als jene Heißsporne vom Dezember 1825.
Eben das aber ist heute wohl das wichtigste Merkmal, das an Dostojewskij erst noch herausgearbeitet und gegen die anderen »Fortschrittler«, oder wie immer sie sich nennen mögen, abgegrenzt werden muß.
Dostojewskij hatte in den vierziger Jahren die Zeit des erwachenden sozialen Denkens miterlebt. In Rußland wurden nicht nur die französischen Romane verschlungen, die den sozialen Gedanken propagierten, von George Sand, später von Victor Hugo, sondern auch die Werke der französischen »utopischen« Sozialisten. Als er nach seinem sibirischen Jahrzehnt zurückkehrte, hatte Dostojewskij, dank seinen Erfahrungen mit den Sträflingen, für die romantischen Freiheitsillusionen, für die Koketterie der herrschenden Klassen mit dem Liberalismus nur noch beißenden Spott übrig, der sich in seinen gesellschaftskritischen Satiren entlud. Seit seinen ersten Auslandsreisen (ab 1862) war er außerdem geradezu gehetzt von der Angst, auch sein Rußland könnte mit seiner kommenden Revolution, die er bereits am Ende des Jahrhunderts erwartete, ebenso scheitern wie Frankreich mit seiner Revolution von 1789 und auch zu einem Bürgereldorado werden wie Paris unter Napoleon III. Aber wie diese Befürchtung klar ausdrücken, wie vor dieser Gefahr warnen, nicht abstrakt warnen, mit Formeln und Parolen, die doch nicht wirken, sondern anschaulich, bildhaft, damit es unmittelbar und persönlich ergreife, durch Beispiele etwa, durch Menschen vielleicht, deren Verhalten gefällt, einleuchtend und dadurch ansteckend wirkt? Und so schrieb er seine Dichtungen, die er Romane nannte, und die selbst heute noch vom breiten Publikum nur als »Romane« gelesen werden.
Natürlich hat Dostojewskij nebenbei und zwischendurch viel unverschleiert Politisches geschrieben, das viele »ungenießbar konservativ« finden. Sie spüren dann offenbar noch nichts von Dostojewskijs tiefer Witterung dessen, was sich gleich einem Lavastrom, aus dem Innersten glühend, langsam, sehr langsam, aber absolut unaufhaltsam nähert, und gegen den sich vorerst nur Nihilismus aufplustert. Angesichts dieses chaotischen Nihilismus war ihm die alte Autokratie der Zaren, die alte Orthodoxie der Popen und der alte Hurrapatriotismus immerhin noch lieber als die Sintflut des Chaos, die eine scheinbare Freiheit bringen sollte! Deshalb seine Beschwörung der Revoluzzer, die alte Form, mag sie auch noch so unschön geworden sein, nicht vor der Zeit leichtsinnig zu zerstören, nicht bevor eine neue Form sich wenigstens abzuzeichnen beginnt. So stellte er in seinen Gleichnissen die Gestalten der innerlich leeren, nur auf materielles Wohlergehen, auf sogenanntes Vorwärtskommen versessenen Lushin, Gánja, Iwólgin, Lipútin, Rakítin hin, gegen die er dann die Phalanx seiner »Dekabristen« ins Feuer führt: vom Fürsten Myschkin bis zu den Brüdern Karamasoff. Wie gesagt: Dostojewskij hat mit jeder leidenden Kreatur mitempfunden und den Schmerz der materiellen Not weder übersehen noch verschwiegen. Aber die Schmerzen der geistigen Not unserer Zeit waren für ihn ‒ wichtiger.