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Wolf Singer
[ohne Titel]
Zeit vergeht, – unaufhaltsam –. Über die Folgen dieser Erfahrung möchte ich gemeinsam mit Ihnen etwas nachdenken
Augustinus sagte: Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es, wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.
Auch heute, 1500 Jahre später, hätte sich Augustinus vermutlich in diesem Sinne geäußert, auch wenn er mit physikalischen Theorien vertraut gewesen wäre, die die Zeit mit Raum verschränken und sie relativieren.
Nicht anders verhält es ich mit dem Phänomen Bewusstsein. Auch hier glaubt jeder zu wissen, was es ist, aber wenn es näher definiert werden soll, fehlen meist die Worte.
Vielleicht ist der Grund für die Vagheit dieser Begriffe, dass wir weder für die Zeit noch für das Bewusstsein Sensoren haben und es folglich in unseren Gehirnen keine spezialisierten Systeme gibt, die für die Wahrnehmung von Zeit und Bewusstsein zuständig sind. Wir verfügen über ausgeklügelte Netzwerke, die sich mit der Verarbeitung von Sinnessignalen befassen, aber es gibt keinen Ort im Gehirn, an dem die Dimension Zeit repräsentiert wird und das gleiche gilt für das Bewusstsein. Wir benennen diese Phänomene, weil wir sie als Realitäten erfahren, als Wirklichkeiten, die untrennbar mit unserem Werden und Vergehen verbunden sind.
Uns grämt der unerbittliche Zahn der Zeit und wir hoffen, dass die Zeit Wunden heilt. Wir beobachten, dass Strukturen und Ordnungen mit der Zeit verfallen, wenn diesem Prozess nicht ständig durch Reparaturbemühungen Einhalt geboten wird und wir erfahren an uns selbst, dass lebende Systeme sich durch Zufuhr von Energie eine Weile vor dem unausweichlichen Zerfall schützen können.
Wir erleben die Zeit als gerichtet, als unumkehrbar Fließendes. Vorangehendes kann Nachfolgendes bewirken, nicht umgekehrt, und wenn etwas gleichzeitig eintritt so vermuten wir, meist zurecht, eine gemeinsame Ursache.
Entsprechend spielen zeitliche Beziehungen eine ungemein wichtige Rolle bei der Strukturierung von Hirnfunktionen. Schaltkreise schwingen in verschiedenen Frequenzen, wie die Pendel von Uhren und zerlegen den kontinuierlichen Fluss der Zeit in diskrete Intervalle. Diese inneren Uhren erst ermöglichen die zeitliche Koordination von Bewegungsabläufen, die Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung, die Reihung von Erinnerungen und die Vorstellung von Zukünftigem. Ohne innere Uhren und ohne zeitlich geordnete Erinnerungen gäbe es keine Unterscheidung zwischen "nicht mehr" "jetzt" und "noch nicht". Auch wenn es für manche Prozesse in der unbelebten Welt unerheblich ist, ob die Zeit vorwärts oder rückwärts läuft, für lebende Systeme gilt ausschließlich der gerichtete Zeitpfeil, der aus der Vergangenheit in die Zukunft weist.
Für Wesen wie uns, die über ein hoch entwickeltes Bewusstsein verfügen und sich dieser Bedingung gewahr sind, hat dies gewaltige, zumeist unerfreuliche Konsequenzen.
Wir erkennen, dass Zeit unerbittlich verstreicht und wir keine Möglichkeit haben, ihren Lauf zu bremsen. Diese Ohnmacht kränkt, liegt es doch in unserer Natur, die Welt zu kontrollieren und Widrigkeiten aktiv zu begegnen. So manches, was wir an unserem Verhalten beobachten, ist direkte Folge dieses so schmerzlich empfundenen Kontrollverlustes.
Die Zeit möglichst vollzupacken ist eine nur vermeintlich taugliche Strategie, genauso wie der Versuch, ihr Fortschreiten durch Zerstreuung und Ablenkungsmanöver auszublenden. Denn dem Rastlosen vergeht die gelebte Zeit im Flug, sie reicht nie aus. Das kostbare Intervall des Gegenwärtigen schrumpft und wird dem Vorwärtsdrängen geopfert. Erst im Rückblick, falls ein Innehalten überhaupt möglich ist, dehnt sie sich, weil die Dauer der vergangenen Zeit an der Menge und Vielfältigkeit der Erinnerungen gemessen wird.
Die antithetische Option bestünde dann darin, die verstreichende Zeit selbst ins Auge zu fassen, sich bewusst auf das Gegenwärtige zu konzentrieren und dadurch das zeitlose Intervall zwischen Vergangenem und Zukünftigem zu dehnen.
In allen Kulturen finden sich diese Versuche, den Lauf der Zeit zu entschleunigen und Kontrolle über die fliehende Zeit zu erlangen. Sie leiten sich aus den Erfahrungen ab, dass Zeitwahrnehmung manipulierbar ist, bis hin zu der Empfindung, dass die Zeit stillsteht.
Menschen, die durch Meditation, mystische Versenkung, rituelle Praktiken aber auch Drogen zu veränderten Bewusstseinszuständen gelangt sind, berichten übereinstimmend, dass ein Teil des erlebten Glücks – was sich naturgemäß nicht immer einstellt – daher rührt, dass sie das Gefühl hatten, die Zeit hätte stillgestanden. Dies wiederum hätte sie eins werden lassen mit der Welt – offenbar eine Sehnsucht, deren Befriedigung großes Glück bringt.
So nimmt nicht wunder, dass viele rituelle Praktiken darauf beruhen, durch langdauernde Wiederholung monotoner Rhythmen das Zeitempfinden zu betäuben. Besonders eindrucksvoll sind in diesem Zusammenhang die Berichte von Patienten, die an lokalisierten Epilepsien in der vorderen Insel leiden, einem Knotenpunkt des limbischen Systems. Während der Anfälle erscheint auch diesen Patienten die Zeit still zu stehen und alle beschreiben diesen Zustand als einen begnadeten, als Moment der höchsten Glückseligkeit. Im "Idiot" beschreibt Dostojewski eben dieses Gefühl, dass er von den Auren seiner eigenen Anfälle kennt. Von ähnlichen Zeitstillständen berichten auch Extremkletterer, wenn sie sich in Situationen befinden, in denen maximale Konzentration auf das augenblickliche Tun erforderlich ist. Und obgleich dies meist sehr gefährliche Momente sind, erleben sie die Zeitlosigkeit als herrliches Gefühl. Ganz offenbar ist die Befreiung vom Lauf der Zeit Quelle großen Glücks.
Nun geht es wohl auch anders und weniger aufwendig. Jedwede tiefe Versenkung bewirkt eine Dehnung der Gegenwart. Das konzentrierte Hören oder Ausüben von Musik, die Verfassung eines Textes, die Verfertigung eines wie auch immer gearteten Objektes, ob Kunst- oder Handwerk. Ebenso kann die fokussierte Suche nach der Lösung eines Problems die Zeit vergessen lassen und im Idealfall mündet die Suche auch noch in einem beglückenden Heureka – Erlebnis. Kreatives Tun als Antidot gegen die fliehende Zeit.
Auch die meisten Tiere unterscheiden zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und wappnen sich wie wir für Zukünftiges. Uns allen ist gemein, aus Erfahrungen zu lernen und dieses Wissen anzuwenden, um Vorhersagen zu machen – und für den wahrscheinlichen Fall, dass es anders kommt als erwartet, ein möglichst großes Repertoire von Reaktionsweisen bereit zu halten. Aber nur wir Menschen haben, nach allem was wir wissen, die zusätzliche Gabe zu erkennen, dass wir endlich sind, dass die vor uns liegende Zeit für jeden von uns begrenzt ist. Die Evolution hat uns, wie auch die meisten Tiere, mit dem unbändigen Willen ausgestattet, alles nur Erdenkliche zu tun, um unser Leben zu erhalten, es gegen alle Widrigkeiten zu verteidigen. Zudem hat uns die Evolution befähigt, tiefe Bindungen einzugehen, deren Verlust zu dem Schmerzlichsten zählt, das wir erleben können.
Und dann hat sie uns mit Gehirnen ausgestattet, die sich der Tragik bewusst sind, dass die Zukunft unausweichlich Abschied bedeutet, Abschied von allem, was uns lieb geworden ist und schließlich Abschied von uns selbst. Unterläge all dem ein Plan, er wäre an Zynismus nicht zu übertreffen. Nicht nur erkennen wir, dass wir dem unerbittlichen Lauf der Zeit nichts Dauerhaftes entgegensetzen können, sondern wir haben die Gewissheit, dass unser Eintauchen in den Strom der Zeit mit einem Todesurteil verbunden ist. Dass wir trotzdem durchhalten, beweist eindringlich, wie sehr wir am Leben hängen und wie sehr uns unsere mentale Kreativität dabei hilft, diese uns eingeschriebene Tragik einigermaßen zu bewältigen.
Ausnahmslos bieten alle Glaubenssysteme die naheliegende Lösung an, es ginge danach, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, irgendwie weiter. Und sie knüpfen diese Erlösungsverheißung zugleich an diesseitiges Wohlverhalten. Dieses Junktim hat viel Gutes für den Zusammenhalt innerhalb der Glaubenssysteme bewirkt und grandiose Kunstwerke hervorgebracht. Aber es ist auch verantwortlich für die blutigen Konflikte zwischen den Glaubenssystemen, die ausbrechen, wenn die verheißenen Wege zur Verwandlung des irdischen Lebens in eine transzendentale Existenz zu stark voneinander abweichen, wenn die nicht überprüfbaren Überzeugungen missionarische oder gar fundamentalistische Züge annehmen.
Was aber bleibt den Ungläubigen, denen der Trost der Permanenz versagt ist?
Einfach Verdrängen dürfte keine nachhaltige Lösung sein – zudem ist Verdrängungsarbeit sehr kräftezehrend, so zumindest die Erkenntnisse der Psychologie. Besser also eignen sich die bereits erwähnten Strategien zur Dehnung einer erfüllten Gegenwart, denen wir vieles von dem verdanken, was uns als Kulturwesen ausmacht.
Aber welcher Fertigkeiten bedarf es, um diesen säkularen Weg zu gehen? Denn die von der Aufklärung propagierten rationalen Strategien zur Daseinsbewältigung haben uns nun ein weiteres Problem beschert. Auch dieses hat mit Zeit und Zukunft zu tun.
Die wissenschaftliche Untersuchung des Woher und Wohin unserer Lebenswelt lehrt uns, dass wir in ein ungeheuer komplexes System eingebunden sind, das sich fortwährend weiterentwickelt und eine hoch nicht-lineare Dynamik aufweist. Wir wissen inzwischen, dass sich die langfristige Entwicklung solcher evolutionären Systeme nicht voraussagen lässt und dass sie sich der Steuerung durch gezielte Eingriffe entziehen, weil sie sich weitestgehend selbst organisieren.
Wir haben also ein weiteres Problem des Kontrollverlustes. Wir sind Teile eines Systems, das wir handelnd in Bewegung halten und wissen zugleich, dass wir dessen Entwicklungstrajektorie, die unsere Zukunft ausmacht, aus prinzipiellen Gründen nicht vollkommen beherrschen können. Auch diese Erkenntnis, diese narzistische Kränkung, gilt es auszuhalten.
Vor diesem Hintergrund wird zu fragen sein, ob die von der ersten Aufklärung propagierten Strategien zur rationalen Daseinsbewältigung ausreichen, um uns hinreichend resilient zu machen. Meine Wahrnehmung der zurzeit um sich greifenden Orientierungslosigkeit und Verrohung legt mir nahe, dass dies nicht der Fall ist. Das entstandene Unbehagen ob der Erfahrung, die Zukunft nicht mehr kontrollieren und beherrschen zu können ist ungemein fruchtbarer Boden für esoterische und fundamentalistische Strömungen, für die verführerische Kraft der einfachen Antworten der Anführer.
Um diese fatale Entwicklung einzudämmen braucht es dringend der Erforschung jener Mechanismen, die Menschen dazu befähigen, die konstitutive Ungewissheit des Zukünftigen und die eigene Geworfenheit auszuhalten, ohne sich mit ideologischen Pseudogewissheiten zu betäuben.
Vermutlich liegt der Schlüssel für die notwendige Entwicklung selbstbestimmter Resilienz in der Erziehung noch formbarer junger Menschen. Was braucht es, um Impermanenz auszuhalten, wie kann das Vertrauen in die Selbstorganisationskräfte komplexer Systeme gestärkt werden, wie lässt sich Demut kultivieren? Antworten auf diese Fragen wären die Voraussetzung für den Versuch, eine neue säkulare Ethik zu entwickeln. Stoff zum Nachdenken!