Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Werner Kraft

Literaturwissenschaftler und Bibliothekar
Geboren 4.5.1896
Gestorben 14.6.1991
Mitglied seit 1972

... der durch genaues Hören und Vernehmen in Glossen und Essays unseren Sinn für Sprache und Dichtung geschärft und uns Werke großer Autoren neu und feiner aufgeschlossen hat.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Gerhard Storz
Vizepräsidenten Karl Krolow, Dolf Sternberger, Beisitzer Richard Gerlach, Ernst Kreuder, Fritz Martini, Otto Rombach, Horst Rüdiger, Hans Scholz, Wolfgang Weyrauch

Überlegungen zum Thema Biographie und Autobiographie

Mit Bewegung danke ich der Deutschen Akademie für die hohe Ehre, die sie mir mit der Verleihung des Sigmund Freud-Preises erwiesen hat. Ganz abgesehen von dem großen Namen, mit dem der Preis verknüpft ist, haben ihn vor mir Persönlichkeiten erhalten, deren bewiesene geistige Leistung geeignet ist, ein Bangen in mir hervorzurufen. Damit will ich sagen, daß ein Schriftsteller, der es ernst meint und einem Ideal der Deckung von Person und sprachlich-geistiger Leistung zustrebt, daß gerade er sich einer Grundtatsache schmerzlich bewußt ist, die ihn auch wiederum vorwärtsstößt: die Vorzüge mögen sichtbar geworden sein, verschwiegen werden die Grenzen, die Mängel, die Lücken. Aber dem, den sie betreffen, sind sie fühlbar. Wie man darüber hinauskommen will, wie es gelingt und dann wieder mißlingt, wie man doch weiter will und sogar muß, wie man sich selbst nicht entfliehen kann, um mit Goethe zu sprechen, das könnte schon im weitesten Sinne der eigentliche Inhalt eines Menschenlebens sein, einer Biographie, wenn sie von anderen geschrieben wird, einer Autobiographie, wenn der Betroffene sie selbst schreibt, mit schroffer Einseitigkeit oft, aber auch mit einer gewissen erhöhten Kompetenz gegenüber dem Biographen, denn er ist beteiligt, er ist als Hauptzeuge dabeigewesen, er weiß genau, wie es gewesen ist, und bezeugt eben das, was dem Historiker trotz aller Häufung der Dokumente nur in Ausnahmefällen gelingt, wie Justi in seinem Winckelmann oder Dilthey in seinem Schleiermacher.
Damit nun bin ich beim Thema, bei Ihrem Thema nämlich, in dessen Zeichen die heutige Tagung steht und über das ich versuchen will, Ihnen einiges zu sagen. Seltsam verknüpft es sich. Ich selbst habe kürzlich im »Hochland« einen Aufsatz veröffentlicht über Rudolf Kassners Selbstbiographie »Die zweite Fahrt« und auch vor einigen Jahren eine zwar kurze, aber immerhin eine Autobiographie meiner Jugend geschrieben, und an ihr ist mir das Problem klar geworden, eher nachher als vorher, denn geschrieben habe ich unter dem Andrang des zu Sagenden, ohne viel zu fragen, ob das richtig, nötig oder auch nur wünschbar sei. Aber schon während des Schreibens stellte sich als zwingend die Begrenzung ein, daß ich über meine Jugend nicht hinausgehen würde, daß ich zwar die formierenden Kräfte darstellen könnte, die meinen Charakter und die besondere Ordnung meines Lebens entwickelt haben, daß aber diese Ordnung selbst als ein unabschließbarer Prozeß meiner Darstellung entzogen sei. Vielleicht auch wäre diese Ordnung, so scheint es mir, in ihrer Bedeutung vorausgesetzt und nur im Wege einer gewissen Selbstüberhöhung darstellbar. Da ist freilich gerade Goethe von herzerfrischender Nüchternheit, wenn er in den »Biographischen Einzelheiten«, diesen prachtvollen Ergänzungen zu »Dichtung und Wahrheit«, lapidar schreibt: »Die Frage: ob einer seine eigene Biographie schreiben dürfe, ist höchst ungeschickt. Ich halte den, der es tut, für den höflichsten aller Menschen. Wenn sich einer nur mitteilt, so ist es ganz einerlei, aus was für Motiven er es tut. Es ist gar nicht nötig, daß einer untadelhaft sei, oder das Vortrefflichste und Tadelloseste tue; sondern nur, daß etwas geschehe, was dem andern nutzen, oder ihn freuen kann.« Goethe ist hier von ganz ungewöhnlicher Großzügigkeit und Freundlichkeit. Anderseits ist nicht zu leugnen, daß das von mir hervorgehobene Moment der Bedeutung sich in jede Selbstbiographie einschleicht, auch in die bescheidenste, und daß gerade er, der an eine symbolische Bedeutung seines Lebens geglaubt hat, dies mehr oder weniger deutlich betont. Er beendet »Dichtung und Wahrheit« mit seiner chaotischen Abreise nach Weimar, bevor sein zweites, autobiographisch undarstellbares Leben beginnt, und setzt ans Ende die Stelle aus dem Egmont-Monolog, wie die Sonnenpferde der Zeit mit seines Schicksals leichtem Wagen durchgehen. Daher dann der Titel »Dichtung und Wahrheit«, und nicht umgekehrt. Der endgültige Titel besagt auch, daß die Wahrheit zwar ausgesprochen, aber durch das Gebot der Dichtung verwandelt wird, so daß vorausgenommen in der Jugend die Bedeutung desselben Dichters offenbar werde, der an dem Faust und an dem Wilhelm Meister sein ganzes Leben lang gearbeitet hat.
Die Zweiteilung des Lebens als Problem der Darstellbarkeit scheint mir zu dem Wesen der Autobiographie zu gehören. Wenn ich noch einmal auf mein eigenes Leben zurückkommen darf, so wird diese Zweiteilung ausgedrückt durch das Jahr des Verhängnisses, durch das Jahr 1933, in dem ungefähr meine Jugend zuendeging und ein Leben mit normalem Glück und normalem Unglück hätte beginnen können. Es begann aber das wahrhaft Andere, mit unnormalem Leben und Überleben, mit unnormalem Sterben und allen ungeheuerlichen Folgen für die Juden und für die Deutschen und für die Welt als ganze, auf deren Fortbestand unser aller fragende Sorge gerichtet ist. Die Aussichten, diesem fallenden Weltzustand mit seinen sich auflösenden Individuen autobiographisch gerecht zu werden, sind auf ein Minimum eingeschränkt, immer vorausgesetzt, daß es sich um echte Autobiographien handelt und nicht um noch so sympathische Ersatzformen, an denen kein Mangel ist. Auch nicht an Ersatzformen von Biographien.
Was ich meine, läßt sich vielleicht verdeutlichen durch einen Blick auf einen so großen Biographen wie Carl Justi, der das überaus merkwürdige Leben Winckelmanns dargestellt hat. Hofmannsthal notiert in seinem »Buch der Freunde«, dieses Werk sei um so merkwürdiger als es vortrefflich sei. Er hat also eher das Gegenteil erwartet und ist erstaunt, das Werk eines strengen Gelehrten so interessant zu finden, er hat sich offenbar festgelesen. Die Bewegung dieses Lebens ist überraschend: es geht steilen Fluges aufwärts. Dreißig Jahren eines unvorstellbaren Elends entwindet sich der Geist eines Menschen, der sich zwischen Stendal und Seehausen durchhungert und durchliest, und er kommt nicht nur nach Dresden, in den Bereich des Hofes, was schon viel wäre, sondern es gelingt ihm auch, von dort das einzige Ziel seines Lebens zu erreichen, er will nach Rom, und er kommt nach Rom. Nicht ohne einen dunklen Religionswechsel, den Carl Justi spannend beschrieben hat. Er kam also nach Rom und sah die Antiken und schrieb das Buch über die antike Kunst mit seinen unermeßlichen Folgen. Vier Jahre vor seinem gewaltsamen Tode in Triest im Jahre 1768 schrieb er in einem Brief: »Die Deutschen haben nicht Geduld, höchstens noch ein zehn Jahre zu warten, bis ich zu meinen Vätern gehen werde, um die Wahrheit zu erfahren, die ich ihnen geschrieben in aller Aufrichtigkeit nach mir lassen will. Mein Bild soll so wahr in derselben erscheinen, als ich habe zu handeln wünschen.« Das läßt aufhorchen. Dieser so beschaffene Lebenslauf eines außerordentlichen Menschen verlangte geradezu nach einer Autobiographie, und sie wäre vielleicht nicht Wahrheit in Gestalt der Dichtung gewesen. Und bald darauf schreibt er wirklich: »Von vielen Orten verlangt man von mir meine Lebensbeschreibung, die ich Niemandem geben werde.« Auch dies macht aufhorchen. Beide Äußerungen gehören gleichsam zusammen. Vielleicht ist es so, daß der Mann will, aber das nur ihm bekannte Gesetz seines Lebens will nicht. Vielleicht erscheint hier die Grenze der Selbstdarstellung überhaupt. In seinen Betrachtungen über Winckelmann hat Goethe 1804 mit größter Ahnungskraft über ihn geschrieben: »Er denkt nur an sich, nicht über sich, ihm liegt im Sinne, was er vorhat, er interessiert sich für sein ganzes Wesen, für den ganzen Umfang seines Wesens und hat das Zutrauen, daß seine Freunde sich auch dafür interessieren werden... Dabei bleibt er sich durchaus ein Rätsel und erstaunt manchmal über seine eigene Erscheinung, besonders in Betrachtung dessen, was er war und was er geworden ist.« Und dann folgt der wunderbare Satz: »Doch so kann man überhaupt jeden Menschen als eine vielsilbige Charade ansehen, wovon er selbst nur wenige Silben zusammenbuchstabiert, indessen andre leicht das ganze Wort entziffern.« Zu diesen anderen gehört dann ein Justi. Ich möchte Ihnen noch eine Stelle von Goethe vorlesen: »Und so ist alles, was er [nämlich Winckelmann] uns hinterlassen, als ein Lebendiges für die Lebendigen, nicht für die im Buchstaben Toten geschrieben. Seine Werke, verbunden mit seinen Briefen, sind eine Lebensdarstellung, sind ein Leben selbst. Sie sehen, wie das Leben der meisten Menschen, nur einer Vorbereitung, nicht einem Werke gleich. Sie veranlassen zu Hoffnungen, zu Wünschen, zu Ahndungen; wie man daran bessern will, so sieht man, daß man sich selbst zu bessern hätte; wie man sie tadeln will, so sieht man, daß man demselbigen Tadel, vielleicht auf einer höhern Stufe der Erkenntnis, selbst ausgesetzt sein möchte: denn Beschränkung ist überall unser Los.« Hebt sich hier nicht, vor Goethes großen Augen, die Autobiographie selbst auf und wird zu etwas Unausdrückbar-Höherem? Man könnte fragen, ob »Dichtung und Wahrheit«, gerade weil das Buch so groß als Kunstwerk ist, vor diesem eigenen Maßstab bestanden habe.
Georg Misch hat seine Geschichte der Autobiographie nur fast vollendet, obwohl er ein Alter von 87 Jahren erreicht hat. Das ist wirklich ein gewaltiges Reservoir der Bildung. Ich habe das Werk nicht ganz gelesen, wohl aber das Kapitel über Rousseaus Confessions, in dem der Wahrheitswert einer Autobiographie beinahe grundsätzlich in Frage gestellt wird. Es besteht die Gefahr, daß die Fakten in der Erinnerung auf später entstandene Ideen bezogen und verfälscht werden. Dilthey dagegen schreibt: »Der Biograph soll den Menschen sub specie aeterni erblicken, wie er sich selbst in Momenten fühlt, in welchen zwischen ihm und der Gottheit Alles Hülle, Gewand und Mittel ist und er sich dem Sternenhimmel so nahe fühlt, als irgend einem Teil der Erde. Die Biographie stellt so die fundamentale geschichtliche Tatsache rein, ganz in ihrer Wirklichkeit dar.« Es mag wenige Biographien geben, die diesem Ideal gerecht werden. Wo es gelingt, ist der Maßstab der Geschichte für den Dargestellten und die Darstellung unerschüttert. Darum wächst vielleicht im Zeitalter des zersetzten Geschichtsbewußtseins die Zahl der Biographien, wie die Zahl der Bücher überhaupt wächst und nicht einmal vorweg nur der schlechten, aber das Exemplarische fehlt, der Strom des Vergessens wird reißend und schlingt alles, Darstellung und Dargestellten, nach kurzer Zeit wieder ein, die Lebensumstände werden weniger wichtig, die Werke sprechen an, aber die Ohren sind schon anderswohin gerichtet, der Nächste wartet.
Es gibt unendlich viele Bücher über Goethe, enthusiastische Bücher, kritische Bücher, deutende Bücher. Nimmt man dazu, um nur seine Zeitgenossen zu nennen, Rahel Varnhagens Goethekult, Börnes Haß im Namen der deutschen Freiheit und Jean Pauls, Friedrich Schlegels Lobpreisung des Wilhelm Meister als eine der größten Tendenzen des Zeitalters, Novalis’ Entwicklung von der Bewunderung zu der entschiedenen Ablehnung dieses Romans als eines Candide gegen die Poesie, so wird aus diesen Fakten, die sich beliebig häufen lassen, Eines deutlich: es gibt über Goethe keine Einheit des Urteils, es muß unendlich schwer sein, eine völlig befriedigende Biographie Goethes zu schreiben. Wir wissen einfach zuviel von seinem Leben und immer noch zu wenig von seinen Werken, und vielleicht wissen wir sogar zu wenig von dem Wesentlichen seines Lebens. Gewiß, es gibt große Durchblicke, wir glauben ganz nah zu sein, dann schließt sich der Vorhang, wir wissen nichts, wir sind als Augen- und Ohrenzeugen für immer ausgeschlossen. Die Wirklichkeit ist durch Briefe und Gespräche nur bedingt rekonstruierbar. Das wirkliche Leben geht in die Werke ein, wird zu Tasso, Klärchen oder Gretchen, löst sich aber nicht in ihnen auf, sondern führt ein Eigenleben, das von der dichterischen Figur abzulösen überaus schwierig ist. Ich möchte so weit gehen, zu sagen, daß wir aus Walter Benjamins Aufsatz über die Wahlverwandtschaften Rechtmäßiges über Goethes Leben erfahren, gerade weil ihm das Werk über der Biographie steht.
Im Altertum scheint es so gewesen zu sein. In einem kurzen Fragment über Horaz von dem jugendlichen Rudolf Borchardt stieß ich auf Folgendes: »Die Antike schiert sich um das Individuum nicht mehr, als die Natur es tut. Die herrlichsten Bruchstücke werden durch die ganze griechische Literatur ohne Namen citiert mit der bloßen Einführung ›wie ein Dichter sagt‹, weil es dem antiken Urteil genügt, daß einmal ein Ewiges in seligen Versen beschlossen und verklärt worden ist, statt wie die Neueren wissen zu wollen, wie der Mann hieß, der die Verse geschrieben, wie alt er war, als er es tat.« Borchardt will sagen, daß zwar eine Biographie vorausgesetzt wird, daß aber nicht sie interessiert, sondern die Leistung. Er leugnet sogar für die Antike die »innere Geschichte eines Menschen aus der Folge seiner Leistungen«, und er behauptet: »Die einzige Entwicklung innerhalb eines Gesamtwerkes, das die Antike kennt und anerkennt, ist der Fortschritt von mangelhafter zu vollkommener... Beherrschung der Kunst (Techne)«. Dies alles ist souverän gesehen, in der Hauptsache dürfte es stimmen. Dazu kommt, daß es auf einen Zusammenhang führt, der ein seltsames Licht wirft auf Biographie und Autobiographie, denn der größte Dichter, der uns Heutigen vielleicht noch näher steht als die Griechen, Shakespeare, er hat überhaupt keine Biographie. Außer ein paar Daten ist völlige Leere um ihn, bis zu der Groteske, daß das alles ein anderer gemacht habe, Bacon oder Marlowe. Von diesem Anderen soll dann Mark Twain gesagt haben, daß dieser große Unbekannte zufällig auch Shakespeare hieß. Emerson, der ihn so schön gepriesen hat, sagt folgerichtig, daß er selbst in seinen Werken sein einziger Biograph sei, er bezieht sich sogar auf die Sonette als auf eine selbstbiographische Quelle, und doch sei des Dichters Maske undurchdringlich. Er gibt zu, daß »jetzt alle Literatur, Philosophie und das ganze Gedankenleben shakespearisiert« sei und daß »sein Geist für uns ein Horizont sei, über den wir gegenwärtig noch nicht hinauszublicken vermögen«. Das hat eine Beziehung zu dem ganz überraschenden Schluß des Aufsatzes. Emerson wartet wahrhaftig auf einen Größeren. Er stellt fest, daß Shakespeare ein Meister war, wo es galt, »Lustbarkeiten für die Welt zu arrangieren«, daß, solange nur Talent und Geisteskraft in Frage komme, »Shakespeare der größte aller Menschen« sei, aber, fragt er, was ist seine Bedeutung für das Leben? Und gibt die etwas klägliche Antwort: »Es ist nur ein Dreikönigsabend oder ein Sommernachtstraum oder ein Wintermärchen.« Und nun gesteht er, daß er den Umstand, daß Shakespeare nur »ein lustiger Schauspieler und Anteilnehmer« war, nicht mit seiner Dichtung vereinigen könne. Er zweifelt noch nicht an der Größe des Dichters wie bald darauf Tolstoi. Er greift es mit Händen, aber er kann sich die eigentliche Leere, aus der der Genius schafft, eben doch nicht vorstellen. Er zieht hörbar Goethe vor, von dem er wahrscheinlich als ein Ausländer die Fülle des Gedankens tiefer versteht als das Sprachlich-Einmalige, das auch bei Goethe nur jenseits der Biographie eines so erfüllten Lebens besteht. Von ihm schreibt er: »Goethe ist es, der uns spornt, guten Mutes zu sein, und uns die kompensierende Kraft der verschiedenen Epochen lehrt, der uns zeigt, daß die Mankos, die irgendeine Epoche aufweist, in Wirklichkeit nur für den Schwachherzigen existieren. Der Genius schreitet, umgeben von Sonnenschein und Wohlklang, durch die düstersten und finstersten Zeitalter.« Das sind wahrhaft herzerhebende Worte, aber ich fürchte, daß ihnen heute zu folgen schwieriger ist als Emerson in seiner Zeit erkennen konnte. Die Finsternis wird immer drohender, und wo ist der Genius, der sie durchdringen könnte?
Wohl aber läßt sich sagen, daß in der Weltzeit, in der wir leben, wir ein vertieftes Verständnis haben für die biographische Leere, aus der Shakespeares Werke entstanden sind. Es kommt auf das Neue an, nicht auf einen neuen Shakespeare, es kommt auf den auswegslosen Ernst an in einer ausweglosen Lage. Die letzten siebzig Jahre zeigen eine überaus reiche Entwicklung der Literatur in der Welt und auch in Deutschland trotz der entsetzlichen Zäsur von 1933 bis 1945, mit allen ihren Folgen. Aber überall wird, und oft in großen Figuren, das Bestreben deutlich, das Fundament zu erschüttern, auf dem man steht. Man zweifelt an allem und vor allem an der Sprache, ausgenommen etwa Karl Kraus, den nie ein Zweifel an der Sprache gestreift hat. Man zweifelt selbst an der Muttersprache und kann sich dabei sogar auf Nietzsche berufen, der einmal geschrieben hat, der Einwand gegen das klassische Kunstwerk sei der, daß es zu tief in der Muttersprache verwurzelt sei. Seit Hofmannsthals Chandos-Brief hat sich dieses Mißtrauen gegen die Sprache immer mehr gesteigert. Man zweifelt auch an dem Individuum. Dieser Zweifel wirkt auch auf die heutige Autobiographie ein. Ich kann das nur an einem Punkte andeuten, der genau zum Thema gehört. Borges, der argentinische Schriftsteller, hat ein autobiographisches Prosastück geschrieben, das den bezeichnenden Titel »Borges und ich« führt. In ihm scheint mir der Gipfel der bewußten Selbstzersetzung erreicht zu sein. Ich möchte es Ihnen gekürzt vorlesen:

Dem anderen, Borges, passiert immer alles. Ich schlendere durch Buenos Aires...; von Borges erhalte ich Nachrichten durch die Post und erblicke seinen Namen in einem Professorenkolleg oder in einem biographischen Lexikon... Es wäre übertrieben zu behaupten, daß wir auf schlechtem Fuß miteinander ständen; ich lebe, ich lebe so vor mich hin, damit Borges seine Literatur ausspinnen kann, und die Literatur ist meine Rechtfertigung. Ich gebe ohne weiteres zu, daß ihm hie und da haltbare Seiten gelungen sind, aber diese Seiten können mich nicht retten ... Allmählich trete ich ihm alles ab, obwohl mir seine widerwärtige Art, zu verfälschen und zu vergrößern, bekannt ist... Ich muß in Borges verbleiben, nicht in mir (sofern ich überhaupt jemand bin), aber ich erkenne mich in seinen Büchern nicht so sehr wieder wie in vielen anderen oder im beflissenen Gezupf einer Gitarre. Vor Jahren wollte ich unser Verhältnis lösen; von den Mythologien der Außenviertel ging ich zu den Spielen mit der Zeit und dem Unendlichen über, doch treibt heute Borges diese Spiele, und ich werde mich nach etwas anderem umsehen müssen. So ist mein Leben eine Flucht, und alles geht mir verloren und fällt dem Vergessen anheim oder dem anderen. Ich weiß nicht einmal, wer von beiden diese Seite schreibt.

Kann man noch weiter gehen? Der Mensch und der Schriftsteller werden als getrennte Wesen erlebt, und zwar so, daß der Mensch sich von dem Schriftsteller ausbeuten läßt, ohne daß er die Kraft hätte, sich zur Wehr zu setzen.
Und nun zum Schluß ein zweites gekürztes Prosastück »Everything and Nothing«, ebenfalls von Borges. Es ist nicht autobiographisch, sondern biographisch und handelt von einem Größeren, nämlich von Shakespeare:

In ihm war niemand; hinter seinem Gesicht ... und hinter seinen Worten ... stand nicht mehr als ein kaltes Wehen, ein Traum, der von niemandem geträumt ward... Als er einige zwanzig Jahre alt war, ging er nach London. Instinktiv hatte er sich schon zu dieser Zeit angewöhnt, so zu tun, als sei er ein anderer, damit seine Niemandsverfassung nicht herauskäme; in London fand er den Beruf, für den er prädestiniert war, nämlich den des Schauspielers, der auf einer Bühne spielend so tut, als sei er ein anderer, vor einer Ansammlung von Leuten, die spielend so tun, als hielten sie ihn für jenen anderen... Jedoch, wenn der letzte Vers beklatscht und der letzte Tote von der Szene weggetragen war, suchte ihn der verhaßte Geschmack von Unwirklichkeit aufs neue heim ... Indessen der Körper seinem körperlichen Geschick oblag, in Freudenhäusern und Schenken Londons, war die Seele, die ihn bewohnte, Cäsar, der auf die Weissagung der Auguren nicht hört, und Julia, die der Lerche gram ist, und Macbeth, der sich auf der Heide mit den Hexen bespricht, die gleichzeitig die Parzen sind. Niemand war so viele Menschen wie dieser Mensch... Zwanzig Jahre lang verharrte er in dieser planmäßigen Halluzination. Doch eines Morgens überkamen ihn Überdruß und Grauen ob so vieler Könige in seiner Person, die durch das Schwert umkamen, und so vieler unglücklicher Liebenden, die zueinander finden und auseinander streben und melodisch dahinsterben. Noch am gleichen Tag beschloß er, sein Theater zu verkaufen. Vor Ablauf einer Woche hatte er in dem Ort, in dem er zur Welt gekommen war, aufs neue Fuß gefaßt... Irgendwer mußte er nun einmal sein; so war er ein Impresario im Ruhestand... Freunde aus London besuchten ihn gelegentlich in seiner Zurückgezogenheit, und ihnen zuliebe griff er auf die Rolle des Poeten zurück.

Borges schließt diese phantastische Biographie mit der großen Vision, daß Shakespeare sich vor oder nach dem Sterben im Angesicht Gottes wußte und zu ihm sprach: »Ich, der ich so viele Menschen gewesen bin, will nur einer und Ich sein.« Die Stimme Gottes sprach zu ihm aus einem Wirbelsturm: »Auch Ich bin nicht; ich habe die Welt geträumt, wie du, mein Shakespeare, die Welt geträumt hast, und unter den Gebilden meiner Träume bist du, der du wie ich viele und niemand bist.«

Dies braucht nicht genau so gewesen zu sein, aber es ist die rechtmäßige Erklärung eines rätselhaften Vorgangs. Es ist eine phantastische Biographie des Genius, der aus seiner Leere heraus die ganze Fülle der Welt darstellt, die tragische und die heitere. Dieses Prosastück scheint uns in eine Richtung zu weisen, die uns weiterbringt. Ich will sagen, vielleicht könnte aus der Verbindung von schöpferischer Phantasie und schöpferischer Forschung eine neue Form der Biographie entstehen. Vielleicht, ich gehe noch weiter, könnten Werke entstehen, die sich einer sinnvoll geordneten Welt zur Verfügung stellen.
Ich wiederhole meinen Dank und schließe mit dem Wort –: Hoffnung.