Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Reinhart Koselleck

Historiker
Geboren 23.4.1923
Gestorben 3.2.2006
Mitglied seit 1980

... dem engagierten Streiter in der Öffentlichkeit; dem spiritus rector der »Geschichtlichen Grundbegriffe«, dem denkenden Historiker.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Christian Meier,
Vizepräsidenten Elisabeth Borchers, Peter Hamm, Norbert Miller, Beisitzer Giuseppe Bevilacqua, Kurt Flasch, Adolf Muschg, Erica Pedretti, Klaus Reichert

Laudatio von Friedrich Wilhelm Graf
Theologe, geboren 1948

Ein Theoretiker unaufhebbarer Differenzerfahrungen

Reinhart Koselleck hat in seinen geschichtstheoretischen Arbeiten Sigmund Freuds kritische Aufklärungsimpulse aufgenommen. 1981 gibt er eine Dokumentation von 300 Träumen heraus, die die Journalistin Charlotte Beradt zwischen 1933 und der erzwungenen Emigration 1939 unter den Opfern nationalsozialistischer Verfolgung gesammelt hatte. Die Analyse von Träumen eröffne dem Historiker den Zugang zu Erfahrungsschichten verletzter Menschen, an die autobiographische Zeugnisse wie Tagebücher oder Briefe nicht heranreichen. Denn Träume, so Koselleck, erschließen über ihren fiktionalen Quellenstatus hinaus eine »anthropologische Dimension«, ohne die sich der Terror in unserem Jahrhundert nicht deuten lasse. Träume bezeugen Verletzungen, die die Menschen bis in den Schlaf hinein traumatisieren. Koselleck ist ein Historiker mit hoher Sensibilität für die vielfältigen Wunden, die Menschen in unserem Jahrhundert der ideologisch motivierten Vernichtungsexzesse zugefügt wurden. Seine subtilen geschichtsmethodologischen Distinktionen spiegeln den Versuch, eigene Leiderfahrungen und Schrecken durch Reflexion zu bewältigen. Seine Arbeiten zur Geschichte des politischen Totenkults und der Kriegerdenkmäler wie auch seine begriffsgeschichtlichen Studien lassen sich als die Texte eines deutschen protestantischen Bildungsbürgers lesen, der sich in seiner Jugend in die Geschichten des nationalsozialistischen Terrors verstrickt fand.
Reinhart Koselleck wurde 1923 in Görlitz geboren. Seine Mutter stammte aus einer alten Hugenottenfamilie. Sein Vater Arno Koselleck, Geschichtslehrer und später Pädagogikprofessor, publizierte über die Bildung und Verbildung unseres Geschichtsbewußtseins. Reinhart Koselleck war zehn Jahre alt, als die Nationalsozialisten den Terror ihrer »deutschen Revolution« inszenierten. Das komplexe Ineinander von individueller Lebensgeschichte und allgemeiner politisch-sozialer Geschichte erfuhr der Schüler in den Jahren zwischen der Weltwirtschaftskrise und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges unter anderem daran, daß er in fünf Städten lebte, achtmal die Schule wechselte, davon »sechsmal«, wie er berichtet, »infolge der wirtschaftlichen und politischen
Ereignisse«. Nach dem Abitur meldete er sich achtzehnjährig 1941 freiwillig zur Artillerie, um einer Einberufung zu anderen Truppenteilen zu entgehen. Er kämpfte an der Ostfront, diente aber auch im besetzten Frankreich und kam 1945 in russische Gefangenschaft. In seinen Texten zu den pluralen Repräsentationen von Geschichte, zu den höchst unterschiedlichen Bildern, die die Akteure sich von ihrem Handeln und dem Gang der Ereignisse machen, läßt sich ein autobiographischer Subtext erkennen. In Arbeiten über das Erinnern und das historische Gedächtnis erwähnt Koselleck, im Herbst 1941 an der Front hinter Kiew »von hinten« gehört zu haben, daß in den Steinbrüchen bei Babijar 10 000 Juden ermordet worden seien. Dieses Wissen wieder zu verdrängen, sei in der Kriegsgefangenschaft überlebensnotwendig gewesen. »Das Nichtwissen und das Wissen sind durchwachsen«, lautet die spätere Einsicht, die auch eine anthropologisch bedingte Grenze der Erinnerungsfähigkeit markiert. Eine »tatsächliche Gewißheit« über die von den Nationalsozialisten und ihren vielen Helfern begangenen Verbrechen gewann Koselleck erst, als er kurz nach seinem 22. Geburtstag, in den Tagen nach dem 10. Mai 1945, zu Abrißarbeiten in die Vernichtungslager von Auschwitz gebracht wurde. Es sind elementare Leidens- und Krisenerfahrungen dieser Art, die Kosellecks radikalen Historismus prägen. Wer sich als junger deutscher Bildungsbürger in die Geschichten des Terrors verstrickt sieht, wird als professioneller Historiker über geschichtliche Strukturen und je besondere Erfahrungs- und Handlungsräume ganz anders denken als etwa ein Geisteswissenschaftler, der wie ich zur ersten Generation geborener Bundesdeutscher zählt.
Reinhart Koselleck hat zahlreiche Begriffe und Metaphern geprägt, die inzwischen zum akademischen Sprachschatz zählen. Er hat die Moderne in den Sattel der Zeit gehoben und die »Sattelzeit« erfunden, hat die »vergangene Zukunft« entdeckt, den »Kollektivsingular Geschichte« historisiert und die eine, vermeintlich immer gleiche konstante Vergangenheit als eine Pluralität heterogener Zeiträume erkundet, in denen Individuen oder Gruppen von Menschen je nach ihrem subjektiven »Erfahrungsraum« mit ganz unterschiedlichen Zeitwahrnehmungen und »Erwartungshorizonten« lebten. Solche faszinierende sprachliche Kreativität ist unter Fachhistorikern eher selten. Doch »wer Neues zu sagen hat, muß auch Neues schreiben«, betont Koselleck in seinem Essay Schreiben über das Schreiben. Er geht zu den vielen Abschreibern in der Wissenschaft auf Distanz und legt großen Wert auf die harte Arbeit am prägnanten, klaren Ausdruck. »Erst durch ihre schriftliche Fixierung werden die Gedanken klar. Und die Stillage erweist sich als strenge Kontrollinstanz: ein schlechter Stil entlarvt den falschen Gedanken und nötigt zur Korrektur.« Dieses Klarheitsgebot für alle wissenschaftliche Prosa und der Reichtum von Kosellecks Bildern dafür, daß sich »die Geschichte« niemals in einem abschließenden Begriffe fixieren läßt, spiegeln auch die reflexive Anstrengung, erlittene Traumata denkend zu bearbeiten. Koselleck ist ein Theoretiker unaufhebbarer Differenzerfahrungen. Sein Werk zehrt von der ursprünglichen Einsicht, daß die Geschichten, in die ein Mensch sich als verstrickt erfährt, niemals in den großen Erzählungen aufgehen, mit denen die professionellen akademischen Geschichtsdeuter die Identität von Gruppen, Kollektiven, Nationen oder Gesellschaften zu präsentieren oder stiften suchen.
Der Zusammenhang von Reflexion und Leben zeigt sich in zwei Frontstellungen, die Kosellecks Werk seit den Heidelberger Anfängen prägen. Wie alle Theoretiker moderner Subjektivität arbeitet er sich an der »Kritik der reinen Vernunft« ab. So grenzt sich Koselleck von trivialpositivistisch naiven Geschichtskonzepten ab, in denen der Rekurs auf »objektive Fakten« als Garant »wahrer Erkenntnis« gilt. Koselleck insistiert auf der Unhintergehbarkeit von Subjektivität, auf der Differenz zwischen »der Geschichte« als einem unerkennbaren »Ding an sich« und den unendlich vielen Bildern historischer Ereignisse und Prozesse, die aktuell Handelnde oder sekundär Deutende in ihren individuellen Erfahrungsräumen entwerfen. Diesem kantianisierenden Element ist eng verbunden das Modell einer dialektischen Beziehung zwischen der »Geschichte an sich« und ihren sprachlichen Repräsentationen: In allen geschichtlichen Prozessen sei immer mehr oder weniger enthalten, als im Medium der Sprache jeweils ausgesagt werden könne. Umgekehrt sei in allen sprachlichen Vermittlungen »der Geschichte« immer mehr oder weniger enthalten, als tatsächlich der Fall gewesen sei. Dem Ganzen liegt ein antimetaphysischer Affekt zugrunde, der sich ebenso gegen die platten, moralisierenden Sinnhuber wie gegen die Konstrukteure irgendeiner historisch sich realisierenden »List der Vernunft« wendet. Im zentralen Artikel der entscheidend von ihm gestalteten »Geschichtlichen Grundbegriffe«, im Artikel über Geschichte und Historie, hat Reinhart Koselleck den Nachweis geführt, daß der Kollektivsingular »die Geschichte« erst 1780 formuliert wurde und dieser ideologiehaltige Begriff schnell alle Prädikate des alten metaphysischen Gottesbegriffs aufsaugte. Wie »der Fortschritt« oder »die Nation« oder »die Klasse« droht sich »die Geschichte« im Zeitalter der Revolutionen gegenüber den handelnden Individuen ontisch zu verselbständigen. Sie wird zu einem überindividuellen eigenmächtigen Handlungssubjekt substantialisiert, dem der einzelne selbst das Opfer seines Lebens darbringen soll. Durch Temporalisierung oder Aufladung mit diversen Zukunftserwartungen und utopischen Erlösungshoffnungen wird die Geschichte zu einem allmächtigen, sich nach vorn bewegenden gottgleichen Beweger, dessen Bewegung voranzutreiben oder Willen zu exekutieren alle großen Ideologen der Moderne verkündet haben. Gegen solche Geschichtsmetaphysik mobilisiert Koselleck klassische religionskritische Argumente, vor allem Friedrich Nietzsches. Wer auch immer irrationale Kontingenz zu irgendeiner höheren Notwendigkeit zu verklären oder sog. »Sinn« in die Geschichte zu bringen versucht, muß mit Kosellecks zornigem Protest rechnen. Dieser richtet sich zunächst gegen die Theologen, denen er polemisch vorhält, kontingentes Leid durch Theodizeen zu neutralisieren. Über die Theologie – mein Fach – redet Koselleck denkbar schlecht: »theologisch läßt sich alles immer sinnvoll deuten«. Damit will er auch seine vielen Zunftgenossen treffen, die sich für kritisch halten, aber von Begriffen wie »die Gesellschaft«, »die Sozialgeschichte« und »die Gesellschaftsgeschichte« einen vorkritischen, gegenständlichen Gebrauch machen oder vom historischen Wandel wie neoscholastische Dogmatiker von der heiligen Transsubstantiation reden. Reinhart Koselleck hat großes kritisches Gespür für die implizite Restmetaphysik in vielen aktuellen Geschichtsentwürfen.
Zu den Kontroversthemen des Historikerstreits, also zur Frage nach der Einzigartigkeit oder aber Vergleichbarkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, und zu dem gerade in seiner Bielefelder Heimatfakultät geschätzten Deutungsmuster vom »deutschen Sonderweg« hat sich Koselleck deshalb ungleich radikaler als beispielsweise Ernst Nolte geäußert. Auf der Ebene der Ereignissequenzen gelte das Einmaligkeitsaxiom für alles historisch Gewußte. Zu ihrer Deutung aber bedürfe es vergleichender Methoden. Das seit 1968 kritiklos wuchernde »Ideologem« vom deutschen Sonderweg sei geschichtstheoretisch gleich mehrfach insuffizient. Es impliziere eine zwangsläufige Kausalkette ex ante, die den historischen Akteuren keine Handlungsfreiheit belasse. Kosellecks Kritik aller Geschichtsmetaphysik läßt sich in einer Formel zusammenfassen: Im Interesse der Freiheit des Individuums bekämpft er jede Form einer geschichtsphilosophischen Überdetermination des Kontingenten.
Bei der Aufnahme in diese »Akademie für Sprache und Dichtung« hat Koselleck auf eine autobiographische Komponente im Titel seiner Heidelberger Dissertation aus dem Jahre 1954 hingewiesen. Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der modernen Welt dürfte die literarisch erfolgreichste Dissertation eines deutschen Geisteswissenschaftlers im zwanzigsten Jahrhundert sein. Von den Gutachtern nur mit magna cum laude bewertet, galt sie bald als eine höchst originelle, geistreiche Analyse der Politisierung der Aufklärung und des Umschlagens subjektiv guter Intentionen in böse Terreur. Mit Blick auf Thomas Hobbes’ politische Philosophie wird die Herrschaftsstruktur des Absolutismus als Antwort auf die Situation des religiösen Bürgerkriegs erklärt.
Der kritische Gestus der Aufklärer wird sodann als Reaktion auf die vom absolutistischen Staat erzwungene Entpolitisierung der Gesellschaft gedeutet. Im großen Kapitel über »die Einheit von Krise und Geschichtsphilosophie in der Auffassung der Geschichte als Prozeß« entwickelt der damals 31jährige schließlich die These, daß die Aufklärer auf die absolutistisch geforderte Entpolitisierung reagierten, indem sie den Staat mit den pathetischen Sollensforderungen einer unpolitischen Moral konfrontierten und die erlittene Differenz von Sein und Sollen durch utopische »Geschichtsplanung« aufzuheben versuchten. Der psychoanalytische Begriff der »Pathogenese« läßt erkennen, daß es Koselleck keineswegs nur um die historische Terreur nach 1789 ging. Auch im großen Preußen-Buch, seiner Habilitationsschrift, und in einer brillanten Darstellung des »Zeitalters der europäischen Revolution 1780-1848« spricht er von den Ideen von 1789 und meint doch auch die von 1933. Es geht ihm schon in seiner Dissertation um den, wie Carl Schmitt in einer Rezension schrieb, »heutigen globalen Weltbürgerkrieg«. Auch andere Leitbegriffe von Kosellecks kritischer Theorie bürgerlicher Aufklärung und seine Studien zu Feindbegriffen und asymmetrischen Gegenbegriffen sind durch die »Politische Theologie« Carl Schmitts, die Teilnahme an Ernst Forsthoffs Ebracher Seminaren – bei denen auch Schmitt zugegen war – und die zum Teil engen Freundschaften mit jungen Schmittianern wie vor allem Hanno Kesting geprägt. Carl Schmitt selbst hat »die bedeutende Leistung« von Kritik und Krise mit dem Satz gewürdigt: »Die großen Gestalten der Aufklärung [...] erscheinen in einem Licht, das schärfer ist als das der ›lumières‹, und eine Aufklärung potenzierten Grades leuchtet in die Arcana und die Geheimnisse, die Distinktionen und die Schlupfwinkel der indirektesten Gewalten.« Diese Formel von einer neuen, radikaleren Aufklärung faßt prägnant eine zentrale Intention von Reinhart Kosellecks Historik zusammen.
Die historischen Entwürfe Otto Brunners und Werner Conzes, der Mitherausgeber der Geschichtlichen Grundbegriffe, stehen derzeit auf dem Prüfstand der Kritik jüngerer Historiker. Wenn selbst die Begriffe eine Geschichte haben, mit der die Historiker früher Geschichte um höherer Sinnstiftung oder politischer Identitätspräsentation willen schrieben, dann muß sich auch jene Historik historisieren lassen, die die unhintergehbare Historizität all unserer Begriffe erschlossen hat. Kosellecks Konzept der »politisch-sozialen Grundbegriffe« provoziert methodische Fragen, die seinen spezifischen Erkenntnisanspruch, die Historisierung, betreffen. Droht ein Begriff nicht enthistorisiert oder gar resubstantialisiert zu werden, wenn seine Geschichte nur diachron rekonstruiert und von den synchronen, politisch gleichzeitigen Kämpfen um seine Bedeutung abstrahiert wird? Erschließen sich die Bedeutungsgehalte von Begriffen nicht erst mit Blick auf die jeweiligen diskursiven Kontexte, also durch eine Diskursanalyse? Wie immer man auf solche Fragen antwortet – es ist falsch, Reinhart Kosellecks begriffsgeschichtliche Konzeption genetisch allein von den erkennbaren begrifflichen Anleihen bei Carl Schmitt herzuleiten. Denn der geistige Kosmos, in dem sich der Autor von Kritik und Krise bewegt hat, wurde von höchst gegensätzlichen Fixsternen beleuchtet. Für Kosellecks Programm, die historisch-politische Sprache in ihrer Historizität zu erfassen, sind auch Karl Löwith und Helmuth Plessner, Karl Jaspers und Hans-Georg Gadamer, Viktor von Weizsäcker und Alfred Weber sowie vor allem Johannes Kühn, sein Patenonkel und wichtigster akademischer Lehrer, bestimmend gewesen. Der aus einem evangelischen Pfarrhaus stammende Kühn, ein Studienfreund von Arno Koselleck, hatte im Anschluß an Ernst Troeltsch Sozial-, Wirtschafts-, Geistes- und Religionsgeschichte zu einer »Strukturgeschichte« zu integrieren versucht, eine große begriffsgeschichtliche Studie über Toleranz und Offenbarung vorgelegt und in zu Unrecht vergessenen Studien zur Historik das tragische Dilemma der Geschichtswissenschaft analysiert, »sich immer, auch im Detail, als ›Weltgeschichte‹ begreifen zu müssen, ohne diese Aufgabe je erfüllen zu können« (so Koselleck in einem Nachruf auf seinen Patenonkel). Johannes Kühns mystischer Bildungsprotestantismus ist eine entscheidende Quelle für Kosellecks eigenes Bildungskonzept, hat allerdings auch dazu beigetragen, daß in den Geschichtlichen Grundbegriffen, der wohl monumentalsten historiographischen Leistung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft, die Sprachwelten des kulturhegemonialen protestantischen Deutschland ungleich größere Aufmerksamkeit gefunden haben als die Diskurse von Katholiken und Juden.
Reinhart Koselleck ist der große, erfolgreiche Außenseiter der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft. Er hat die Grenzen seines Faches zur Philosophie, Kunstgeschichte, Psychoanalyse und Literaturwissenschaft überschritten und sich, schon vor den französischen Mentalitätshistorikern, mit den Ausdrucksformen kollektiver Trauer und Zeichen politischer Erinnerung beschäftigt. Der brillante politische Essayist hat sich viel Gehör verschafft, sich aber niemals durchsetzen können, weder in den Debatten um die Ausgestaltung von Schinkels Neuer Wache noch im Streit um das monumentale hauptstädtische Denkmal für die ermordeten europäischen Juden. In beiden Fällen hat die politische Öffentlichkeit seine klugen, in meinen Augen berechtigten Einwände ignoriert.
Nichts ist, was sich nicht historisieren läßt, lautet die Grundbotschaft seines begriffsgeschichtlich radikalisierten Historismus. Koselleck sucht deshalb nach einer Antwort auf die Frage, ob die Einsicht in die Relativität alles Historischen auch zu der von Dilthey befürchteten »Anarchie der Werte« oder dem von Troeltsch perhorreszierten »müden Skeptizismus und Relativismus« führen. Der vom mörderischen Kampf zwischen den großen Ideologien geprägte methodische Skeptiker ist zu lebensklug, den Ausweg in irgendwelchen Surrogatgewißheiten zu suchen. Aber er will seinen Historismus vor relativistischen Konsequenzen schützen. Er sucht mit Goethe, dem »Zeitablehnungsgenie« (Heinrich Heine), nach anthropologischen Konstanten und beschwört, gut protestantisch, eine unmittelbare Evidenz der praktischen Vernunft. Die neuen deutschen Geschichtsphilosophen nach Auschwitz kritisiert er mit dem Argument, daß man mit Sonderwegs-Dogmatiken nur die tatsächlichen Akteure zugunsten höherer Kausalität aus ihrer Verantwortung entlasse. Zwar sei die Geschichte als solche kein Exekutor der Moral. Aber Koselleck nimmt moralische Kategorien in Anspruch und insistiert immer auf einer unaufhebbaren Differenz zwischen Täter und Opfer. Sein radikaler Historismus hat in einem entschiedenen Moralismus ein tragendes Fundament. Unbeschadet seiner Einsicht, daß der Glaube, aus der Geschichte lernen zu können, vormodern sei, verbindet er mit historischer Erinnerung eine politische Intention: Die anamnetische Reflexion auf vergangene Erfahrung und deren Bündelung in wissenschaftlicher Erkenntnis sollen zu »einer rationalen Kontrolle« der immer neuen utopischen »Überschußpotentiale« des menschlichen Wünschens verhelfen. Hinter dem Gestus höherer, reflektierter Aufklärung steht insoweit eine präreflexive, jedenfalls in Begriffen nicht zureichend begründbare Hoffnung: die Hoffnung auf eine Lebensmächtigkeit und politische Relevanz historischer Reflexion.
1997 hat Reinhart Koselleck einen Vortrag zu Goethes unzeitgemäßem Geschichtsverständnis publiziert. Hier findet sich eine Aussage, die reflexiv gelesen und auf seine eigenen Geschichtsdeutungen bezogen werden darf: »Jede geschichtliche Einsicht entspringt den Geburtsjahrgängen derer, die nur ihre je eigenen Erfahrungen machen und nur so begreifen können.« Für jeden Angehörigen seiner Generation ist es unendlich schwer, den erlittenen Verstrickungen, erfahrenen Verletzungen und miterlebten Grausamkeiten im Medium strenger historischer Theoriebildung gerecht zu werden. Reinhart Koselleck hat dies in immer neuen Anläufen versucht. Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ist ein kontingentes Faktum, das wie alle historischen Ereignisse nicht geschichtsphilosophisch überdeterminiert werden darf. Aber man darf die Preisverleihung als ein Zeichen des Dankes deuten, den ihm jüngere, durch ganz andere Erfahrungswelten geprägte Intellektuelle in unserem Lande schuldig sind. Ich danke Ihnen, verehrter, lieber Herr Koselleck, und gratuliere Ihnen sehr herzlich.