Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Peter Wapnewski

Mediävist
Geboren 7.9.1922
Gestorben 21.12.2012
Mitglied seit 1986

... dem Meister des Stils, der ebenso das Entfernte nahebringt, wie er das scheinbar Naheliegende in erhellende Distanz rückt...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Elisabeth Borchers, Norbert Miller, Ivan Nagel, Beisitzer Iso Camartin, Eckhard Heftrich, Hans Wollschläger

Laudatio von Adolf Muschg
Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, geboren 1934

Weiter im Text

Wir riskieren hier, verehrter Peter Wapnewski, ein Quidproquo, ein Spiel der vertauschten Köpfe. Ein Schriftsteller gerät in die so ehrenvolle wie heikle Lage, einen Germanisten zu loben, den er – keineswegs nebenbei – als bedeutenden Kritiker kennt; er soll und will ihn aber dafür loben, daß er, der Geehrte, ein Schriftsteller ist, und zwar kein verhinderter Schriftsteller; denn ohne seine Fachkenntnis wüßten wir weniger von seiner Kunst. Um diesen Fall – er ist auf Deutsch ja selten genug – recht zu würdigen, mag es dann nichts schaden, wenn der Laudator ein wenig Germanist geblieben ist und sich an Schiller erinnern kann: dem Vortrefflichen gegenüber gebe es »keine Freiheit als die Liebe«. Nur fällt ihm dann auch noch ein, daß Goethe, dem dieser Satz zugedacht war, in den Wahlverwandtschaften das große Wort »Freiheit« kleiner geschrieben hat: »kein Rettungsmittel«.
Das nächstliegende Rettungsmittel des Laudators – daß man einen Gegenstand der Zuneigung durch und für sich selbst sprechen läßt – hat mir Peter Wapnewski selbst verbaut. Wagner »durch sich selbst darzustellen und zu erklären«, nennt er einmal einen »gangbaren, wenn auch nicht eben glanzvollen Ausweg«. Gangbar immerhin – und da mir in seinem Fall um den »Glanz« nicht bange ist, geniere ich mich nicht, mir von ihm etwas »vom humanen Gut der Kraft des Bewunderns« zu borgen – auch ein Wapnewski-Zitat (nicht weniger als das wunderbar boshafte: »Das Neue kam bisher ohne Innovation.«) Ich suche einen eigenen Zug des Geehrten in seinem gewagten Wort von der »eitlen Scheu«, die er Herder nachsagt; dem Wunsch, »anerkannt zu werden, doch unerkannt zu bleiben.« Daneben will aber auch ein Satz über Lessing nicht verschwiegen sein: »Das Gesicht tritt zurück hinter dem, was es sieht.« Da überwindet denn der Laudator seine Scheu (sie wäre ja doch eitel), Peter Wapnewski umgekehrt durch Richard Wagner darzustellen: »Verwundet hat mich, der mich erweckt.« Der Satz des jungen Siegfried gilt auch in der Umkehrung und läßt sich dann zwanglos in Zürcher Französisch übersetzen: »J’adore ce qui me brûle«.
Ehrt die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen bedeutenden Mediävisten, den Verfasser von Standardwerken über Minnesang, Hartmann, Walther oder Wolfram? Den passionierten Betrachter Richard Wagners, den Interpreten zeitgenössischer Literatur und lebendiger Musik, den Mentor des Goethe-Instituts und Gründungsrektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin? Ginge es hier um Verdienste, wir kämen damit nicht so bald an ein Ende; es geht aber um Gnaden. Zum Glück ehrt die Akademie, im Namen Sigmund Freuds, sich selbst, indem sie einen Meister der Sprache auszeichnet; den Stilisten, nein: den Zeugen eines Stils, von dem es auf Französisch hieß, es sei »der Mensch selbst«; für seine Arbeit gibt es auf Deutsch – wieder von Herder – die Prägung »Schöne Wissenschaft«. Sie hat keine Schule gemacht, und doch: in ihr hat sich Peter Wapnewski gebildet, wie er sie. Auch als Lehrer evoziert er, als Sprecher für die Ausnahme, die Regel einer andern Kultur, über die Hochschule hinaus: »Ein Staat, der die Kunst ›fördert‹, hat nicht begriffen, daß Kunst als vornehmster und extremer Ausdruck menschlicher Möglichkeiten und Wirklichkeiten zentraler Bestandteil seiner selbst, des Staates, ist.«
Den ganzen Wapnewski kann ich in dem Stück, dem Stücklein, nicht feiern, daß ich Ihnen hier zum besten geben will. Doch ich finde ihn ganz darin, und bin zuversichtlich, daß es die Scheu, ihn zu feiern, eitel macht. Es beginnt mit einem Zitat: »Wer nicht frei sprechen kann, befreit sich, indem er sich die Fesseln einer Rolle anlegt.«
Die Rede ist von einer Studentenaufführung der sophokleischen Elektra an der Universität Freiburg im Breisgau. Das Jahr: 1944; so nah am Ende einer Diktatur drücken ihre Fesseln doppelt. Daß der Student – eigentlich Soldat – Peter Wapnewski überhaupt mitwirken kann, verdankt (!) er einer Kriegsverletzung. Auch ihn läßt die würdige Fessel einer Bühnenrolle die unwürdige Fessel des Dritten Reichs etwas vergessen. Bis zu folgendem Augenblick:

»Eines der Mädchen unterbrach ihren Text, ging, nein: schritt durch den ganzen Saal, setzte hallend Fuß vor Fuß, stellte am Ende einen Stuhl zurecht, stieg darauf, packte den Hitler-Kopf mit der Hand, drehte ihn zur Wand und sagte dazu, tonlos und laut: ›Ich kann dieses Gesicht nicht mehr sehen‹.«

»Tonlos und laut«. Hat der Ekel oder die Zivilcourage diesen Gang so zwingend gemacht? Vor allem war es die Kunst – die plötzlich nicht mehr tragbare Differenz zwischen der Sprache auf der Zunge und der Visage an der Wand. Dieser Gang hätte leicht derjenige zum Schafott werden können, wenn die Theatergesellschaft nicht dicht gehalten hätte. Doch sie spürte, daß im Text des Sophokles dieser Gang vorgeschrieben war: der Gang von einer wirklichen, aber unmöglichen Gesellschaft in eine leider nicht wirkliche, aber mögliche und nötige. Die junge Frau, die ihn ging, wiederholte damit den Gang der Bürger aus dem Theater, wo sie der Ungeheuerlichkeit der Menschen und Götter ausgesetzt waren, hinüber auf die Agora, wo sie daraus nicht nur das Beste machten, sondern das Bessere.
Diese Geschichte steht nicht etwa in einem der – raren – autobiographischen Texte Wapnewskis. Sie steht in einer mediävistischen Untersuchung über eine dunkle Stelle bei Walther von der Vogelweide. Der Dichter beklagt den Verlust seines herzoglichen Gönners und, in zwei ornithologischen Bildern, das Herunterkommen seiner eigenen Lage und Gestalt. Daß er seinen »Kranichgang« verloren hat, daß er ein Pfau ist, der kein Rad mehr schlägt, versteht man gleich. Warum aber blickt der Pfau auf seine Füße? Da muß man ihren alten Symbolismus kennen: Pfauenfuße waren einmal sprichwörtlich für Schwäche und Häßlichkeit. Wenn man das weiß, liest man das Gedicht besser: Wapnewski, der philologische Detektiv, referiert diesmal die Arbeit eines andern und stützt sie mit eigener Lektüre ab: »lebt man denn, wenn andere leben« ist kein Leitsatz seiner Gelehrtenrepublik. Aber der Zusammenhang gehört Wapnewski und ist sein Werk: der Vergleich des schwachen Standes, den Walters häßliche Pfauenfüße haben, mit dem aufrechten Gang der jungen Studentin. In dieser Reflexion erst zeigt sich die ganze Philologie. Wapnewskis Text expliziert diesen Zusammenhang nicht; er handelt von ihm. Und davon, daß auch der Leser sich nicht fürchten darf, zu handeln, wenn die Gelehrtenrepublik zur Insel schrumpft; wenn dort, wo das gelehrte Deutschland beginnt, das politische aufzuhören droht. Dann heißt es: weiter im Text der Literatur; über die Grenzen der Literatur hinaus. Steht wieder der »Rückfall in selbstverschuldete Unmündigkeit« bevor, so ist ein Gang fällig wie in jenem Text zu Walther von der Vogelweide, der übrigens Walter Jens zum Geburtstag gewidmet war.
Aber: wie soll der Kunst zu trauen sein? Daß sie lüge, haben ihr die Künstler ja selbst nachgesagt – und mit stärkerer Autorität als die Pfaffen. Die Kunst lügt nicht, behauptet Wapnewski dagegen und führt es an Cosi fan tutte vor. Was macht sie denn da, Mozarts Musik? Sie begleitet eine Komödie, die ihres heiteren Namens spottet, denn sie ist ein Geflecht von Täuschung und Selbsttäuschung, unhaltbarer Wetten und unmöglicher Liebesproben. Es bleibt, bei Licht betrachtet, alles auf der Strecke, was der Mensch an Vertrauen und Selbstvertrauen aufbauen kann, was die Geschlechter an Achtung füreinander erworben haben. Die Musik aber drückt jedem dieser schauderhaft vorübergehenden Augenblicke, jedem falschen Liebesschwur, jeder lächerlichen Klage das Siegel der Wahrheit auf. Sie tut es weder blauäugig noch zynisch, sondern weil sie nicht lügen kann. So sind wir, Männer und Frauen, und brauchen keinerlei bösen Willen dazu. Wir sind keine bleibende Stätte auch für unsere heiligsten Gefühle. Das nimmt ihrer Heiligkeit nichts weg; es spricht auch nicht gegen die Menschen. Die Kunst, die nicht lügen kann, fragt nicht, ob sie diese Geschöpfe wegen ihrer Pfauenräder lieben soll, oder trotz ihrer häßlichen Füße. Sie zeigt: wer sie nicht lieben kann, wie sie sind, der liebt sie nicht. Wer mit der starken Wahrheitsliebe der Kunst nicht leben will, begreift weder das Leben noch die Kunst.
»Bedingt exemplarisch« nennt Peter Wapnewski einmal seinen eigenen Lebenslauf. Er wollte sich damit keineswegs rühmen; ich darf es wohl. Denn: was hieße »unbedingt exemplarisch«? Es führte zum Unmenschlichen hin, beim besten Willen; und mit dem besten Willen am sichersten. »Bedingt exemplarisch« ist, unter Brüdern, fast eine Tautologie – nur wer mit dieser Einschränkung, und das heißt ja: unter Verzicht auf Ausschließlichkeit und Ausschließung, Mensch wird, kann zivilerweise Vorbild für andere werden. Die Kunst – darin besteht ihre Steigerungsform gegenüber der Zivilisation, daraus entspringt aber auch ihre immerwährende Differenz zu ihr – die Kunst verschreibt sich diesem »bedingt Exemplarischen« unbedingt. Sie läßt kein letztes Wort der Rachegöttinnen stehen, ohne ein letztes Wort Apollos dagegenzuhalten – aber auch umgekehrt. Kunst bleibt die radikalste Form, Gesetze aufzuheben in Spielregeln. Aufzuheben, nicht zu kassieren. Die Göttin Athene kassiert in der Orestie kein Urteil, sie erreicht mit ihrer eigenen Stimme nur gerade ein Unentschieden zwischen den Urteilen. Gewonnen ist am Ende nicht mehr als ein Gleichgewicht des Zweifels. Dieser aber spricht für den Menschen, ohne ihn freizusprechen. Damit muß er leben: nicht frei zu sein, und zur Freiheit bestimmt. Der Kopf denkt es nicht aus, die Moral nimmt Anstoß, das Gewissen leidet daran, das Herz mag darüber verzweifeln. Aber die Kunst kann es zeigen; wenn alles gesagt und getan ist: nur die Kunst. Und dann sorgt wieder sie dafür, daß wir erkennen: niemals ist alles gesagt, nie alles getan.
Eines ist die Kunst; kein ganz anderes die Philologie. Sie stellt am Text her, was jene im Text herstellt: Gerechtigkeit, die nichts mit Gericht, um so mehr mit Gerechtwerden zu schaffen hat: die aber auch nicht bloß Gnade walten läßt, sondern Diskretion im alten Wortsinn von Unterscheidung. Zum Glänzendsten an Peter Wapnewski gehört für mich sein Gerechtigkeitssinn, mit dem er – gegen seine Passion Richard Wagner – die historische Würde des »Beckmessers« Hanslick wiederherstellt, oder das Gesicht Hagens im Nibelungenlied aus dem Schatten holt, den eine fatale Verehrung darauf geworfen hat. In einer literarischen Figur die Finesse sehen, heißt die Chance fördern, sie überall zu sehen; es heißt vielleicht überhaupt erst sehen; sehen mit gerechter Unterscheidung, mit notwendiger Diskretion. So hat, denke ich, Pallas Athene ihre weiße Kugel in die Urne gelegt; nicht um einen Schuldigen weiß zu waschen, sondern um die Polis zu retten für eine Kultur des Zweifels an ihrer eigenen Rechtmäßigkeit, an Schwarz und Weiß, Schuld und Unschuld, kurzum: um sie für die Kultur zu retten. Die Kunst erinnert unbedingt, in der ihr eigenen Heiterkeit, daran, wie bedingt wir sind. Sie lehrt uns besser unterscheiden, welche dieser Bedingungen möglicherweise änderbar sind, und welche nicht.
Der diskrete, der politische Peter Wapnewski sagt es so: »Kunst ist eine soziale Energie, sie ist die vornehmste Energie.« Ich nehme die Wiederholung auf mich: »die vornehmste.«
Wir danken Peter Wapnewski.