Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Horst Bredekamp

Kunsthistoriker
Geboren 29.4.1947

... der sich der universellen Macht der Bilder in hohem Maße bewußt ist, sich auf sie einläßt, sie beschreibt und beschwört, um ihr mit der Kraft des Wortes zu widerstehen.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Christian Meier
Vizepräsidenten Peter Hamm, Ilma Rakusa, Klaus Reichert, Beisitzer Harald Hartung, Peter von Matt, Uwe Pörksen, Lea Ritter-Santini

Der Sketchact

1. Die Zeichnung als Endform

»Alles was er anschaut, wandelt sich in seinen widerlichen Augen ins allerschlimmste Übel«, mit diesen Worten bedachte Benvenuto Cellini die 1534 auf der Piazza della Signoria in Florenz aufgestellte Herkules- und Kakusgruppe von Baccio Bandinelli, um fortzufahren: »Würde man dem Herkules die Haare scheren, bliebe ihm nicht genug Schädel übrig, um das Gehirn in sich zu bergen; man sagt außerdem, einer der Füße des Herkules sei in der Erde versunken und der andere sehe aus, als brenne es unter ihm.« Aus dem zur Gegenwehr kaum mehr fähigen Bandinelli sei lediglich herausgebrochen: »Wehe Dir du böse Zunge, und wo bleibt mein Entwurf (disegno)?« Bandinelli spielte auf sein Selbstportrait an, auf dem eine großformatige Zeichnung einer anderen Version des Herkules und Kakus gemalt war. Mit dem Zeigegestus stilisierte er sich als jener Meister des Disegno, als welcher er von Cellini gesehen werden wollte. Die Zeichnung sollte die Marmorform ausstechen.


2. Die Zeichnung als Raptus

Mit dieser Bestimmung kam die Aufwertung der autonomen Zeichnung zu einem Abschluß. Leonardo da Vinci hatte diesen Prozeß dadurch beschleunigt, daß er die künstlerische Schöpfung mit der freien Skizze verband. Der Künstler sei »Herr und Gott« seiner Gebilde, weil er in der Zeichnung das Unvorhersehbare und die Dynamik der Natur aufzunehmen vermöge, und mit dieser Fähigkeit wirke er über das Medium des Bildes hinaus. Nicht so sehr eine perfekte Wiedergabe der Natur, sondern die Gefangennahme sei das höchste Ziel der Zeichnung: ein »affektiver raptus« (Frank Fehrenbach), der Fakten schafft, indem er den Betrachter bewegt. Leonardos sogenannte Sintflutserie, in der nur mehr winzige Spuren menschlicher Behausung inmitten eines geradezu kosmischen Unwetters sichtbar sind, repräsentiert derart machtvolle Bilder, und auch Dürers Traumgesicht niederstürzender Wassersäulen, das er nach dem Aufwachen mit noch zitternden Gliedern gemalt hatte, gehört zu jenen Bildern, wie sie in Platos Staatsentwurf verboten waren, weil sie mit der tobenden Natur auch die Tollheit der Menschen hervorrufen.
Als Metapher für die visuelle Gefangennahme der Menschen imaginiert Leonardo ein verhülltes Bild wie etwa Veit Stoß’ »Englischem Gruß«, das sich mit den Worten an einen potentiellen Betrachter wendet: »Enthülle mich nicht, wenn Dir die Freiheit lieb ist.«
Im Sinne von Albertis Selbstbildnis von 1435, das anstelle des Adamsapfels als der Membran des Sprechens ein fliegendes, omnipotentes Auge aus der geraden Linie des Halses hervortreten läßt, stehen Zeichnungen für Leonardo zwar über der Schrift; in ihrem Vermögen, blitzartig die Vorstellung in eine neue Richtung des Handelns zu verwandeln, nähern sie sich aber dem Vermögen der Sprache, im »Sprechakt« Fakten nicht nur zu vermitteln, sondern unmittelbar zu bewirken. »Sprechakte« sind Sentenzen, die durch bloßes Aussprechen, wie etwa bei einer Schiffstaufe: »Ich taufe dich auf den Namen Queen Elizabeth!«, Fakten schaffen. Die Übertragung linguistischer Termini auf die bildende Kunst hat durchaus ihre problematischen Seiten, aber mit Blick auf Leonardos Theorie des »affektiven raptus« wäre in Anlehnung an den Speechact, den John Austin in seinem epochalen »How to do Things with Words« von 1962 prägte, von der faktischen Kraft der Zeichnung zu sprechen: dem Sketchact.
Das Zurückdrängen des Deutschen auch als internationale Wissenschaftssprache nimmt gegenwärtig geradezu tragische Züge an, und gerade wenn dieser Vorgang abzumildern versucht wird, dann kann dies nicht heißen, daß nicht Lösungen anderer Sprachen um so gelassener übernommen werden. Aus diesem Grund wage ich es, der Hüterin der deutschen Sprachkultur den Begriff des Sketchact vorzuschlagen, weil die Doppelbedeutung des englischen Sketches als Zeichnung und zugleich als versuchte Handlung im Deutschen kein Äquivalent besitzt. Genau dieses Doppelspiel aber vollzieht die Zeichnung.


3. Architekturzeichnung als tabula rasa

Wie das Paradigma des modernen Bauens, die im Jahre 1505 begonnene Ersetzung der konstantinischen Petersbasilika durch den Neubau von St. Peter lehrt, hat die Zeichnung im Bauwesen eine geradezu systematische Funktion als Sketchact. Giorgio Vasari hat diese Rolle dadurch unterstrichen, daß er die wahre Architektur nicht mit Steinen und Mörtel, sondern mit der puren Linie identifizierte: »Die Entwürfe [disegni] (...) sind aus nichts außer Linien gebildet, was für den Architekten nichts anderes als der Beginn und das Ende dieser Kunst ist«. Dieses Konzept wurde immer wieder als neoplatonische Absage an die Welt des Materiellen gedeutet, aber es handelt sich um sein exaktes Gegenteil. In den Linien der Zeichnung wurde die Materie nicht sublimiert sondern komprimiert verwirklicht.
Bereits Bauzeichnungen wurden als reale Architektur begriffen, so daß ein kostbares Gebilde wie Bramantes pergamentener Entwurf der Westpartie von Neu-Sankt-Peter dem konstantinischen Vorgängerbau im Sinne des Sketchact den Garaus machen konnte. Durch Zeichnungen, so Onofrio Panvinio, habe Bramante Papst Julius II. zu der nach wie vor unbegreiflichen Tat bewegt, die ehrwürdige konstantinische Basilika abzureißen: »Er zeigte dem Papst mal Grundrisse, mal andere Zeichnungen des Baues.«
Bramantes faktenschaffender Gestus äußerte sich besonders markant in der Eintragung der Vierungspfeiler von Neu-Sankt-Peter in die Grundformen des Vorgängerbaues. Seine berühmte Skizze 20A zeigt in ihrer nervösen Spontaneität die Fähigkeit der Zeichnung, Undenkbares in der extremen Form einer materialisierten Mutprobe umzusetzen. Entgegen dem Uhrzeigersinn entwickelte Bramante seine Vierungspfeiler, die er wie Pfähle in das Fleisch der alten Basilika trieb.
Besonders suggestiv wirkt der südöstliche Vierungspfeiler, der die inneren Säulenstellungen der konstantinischen Basilika gedanklich wegfräst. Einmal in die Welt gesetzt, löste dieses Bild offenbar eine Spannung aus, die sich entladen mußte. Das Schicksal von Alt-Sankt-Peter war besiegelt.
Bramante hat sein Prinzip allerdings auch auf sich selbst angewendet. So hat er den Westchor mit der Leichtigkeit einer Skizze gebaut, weil er gewiß war, daß er wieder abgerissen würde, und sein Schutzhaus über dem Altar von Sankt Peter, eines seiner kostbarsten Bauwerke, dem römischen Tempietto vergleichbar, war ebenfalls zum Abriß bestimmt.
Dies betraf auch Raffaels Umgang des südlichen Querarmes, den Michelangelo niederlegen ließ, sowie er 1546 die Leitung des riesigen Unternehmens übernommen hatte. Die verständlichen Klagen allein schon über die Verschwendung von Baukosten wurden beiseite gewischt, weil die neu errichteten Bauteile nicht den Status von sperrigen Architekturen, sondern von skizzierten Konzepten besaßen. Als Sketchact zeigt die Zeichnung hier ihren Januskopf von Zerstörung und Schöpfung: da sie eine höhere Physis als Stein besitzt, gleicht sich dieser ihr an.


4. Sketchact als Tyrannenmord

An einer weiteren Schlüsselszene war wiederum Cellini beteiligt. Er hatte den Auftrag erhalten, für Herzog Alessandro de’Medici eine ähnlich prachtvolle Verewigung zu schaffen, wie er sie zuvor für Papst Klemens VII. gefertigt hatte.
Mit dem Entwurf der Rückseite der Portraitmedaille war Lorenzino de’Medici betraut, der die dunkle Prophezeiung aussprach, daß die ganze Welt seinen Formentwurf beachten würde. Es war keine leere Versprechung. Er vertauschte den Stift mit dem Dolch, um den verhaßten Medici-Herzog im Januar des Jahres 1537 zu erstechen.
Mit dieser Tat wurde er unter den Medici-Gegnern zum gefeierten Tyrannenmörder. Auf die Nachricht vom Attentat kam der vor Freude rasende Republikaner Francesco Soderini in Cellinis Atelier gestürzt: »Dies ist die Kehrseite der Medaille für jenen verbrecherischen Tyrannen, die dir dein Lorenzino versprochen hatte!« Soderini hatte erkannt, daß Handlung und Gestaltung zusammenfielen, weil die Tat die Zeichnung substituierte. Das Attentat auf Alessandro de’Medici vollzog den Disegno als Mordtat. Noch vor ihrer Schöpfung wurde die Zeichnung umweglos als Handlung realisiert.
Um sich als Tyrannenmörder zu stilisieren, ließ Lorenzino seine eigene Medaille mit den Waffen des Brutus versehen. Die Tat, die eine Zeichnung ersetzt hatte, wurde ihrerseits zum Bildgeber.


Schluß

Ausgehend von Bandinellis Selbstportrait, haben wir die tatkräftige Wirkung der Zeichnung über Leonardos »affektiven raptus« und den Bau von Neu-Sankt-Peter bis zur Rückseite von Cellinis Medaille verfolgt. In ihrer Heterogenität verdeutlichen die Vorgänge ein Prinzip, und sie lassen ein Verhältnis des Betrachters zum Bild schlechthin begreifen. Die schöpferisch wie zerstörerisch aktivierende Rolle der Zeichnung bietet den vielleicht sprechendsten Beleg für die schwer begreifliche Eigenschaft des menschlichen Vermögens, immer wieder gänzlich unausgewogen zu agieren und einen kurzen Impuls als wichtiger zu bewerten als einen massiven Dauereinfluß.