Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Barbara Stollberg-Rilinger

Historikerin
Geboren 17.7.1955

... macht die Lektüre ihrer historischen Studien zu einem einzigartigen intellektuellen Vergnügen.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Heinrich Detering
Vizepräsidenten Aris Fioretos, Wolfgang Klein, Gustav Seibt, Beisitzer László Földényi, Michael Hagner, Felicitas Hoppe, Per Øhrgaard, Ilma Rakusa, Nike Wagner

Laudatio von Jürgen Kaube
Herausgeber FAZ, geboren 1962

Die Akademie für Sprache und Dichtung verleiht einen Preis für wissenschaftliche Prosa. Gestatten Sie mir, sehr geehrte Damen und Herren, ganz kurz zu überlegen, was mit diesem Begriff gemeint sein könnte. Es kann schließlich nicht um Prosa im Unterschied zu Poesie gehen. Die letzten wissenschaftlichen Lehrgedichte wurden in dem Zeitalter verfasst, über das die heutige Preisträgerin vor allem forscht, dem vorrevolutionären 18. Jahrhundert. Und schon damals waren es nicht die bedeutendsten Wissenschaftler, die meinten, ihre Erkenntnisse auch noch schön oder wenigstens unterhaltsam präsentieren zu müssen. Priestley reimte nicht, Euler hielt sich rhetorisch zurück, Lavoisier versuchte nicht durch Spannung zu fesseln. Obwohl: Lavoisier, dem wir die Theorie der Oxidation und der Verbrennung verdanken, hat auch ein Theaterstück verfasst, in dem auf der Bühne das Phlogiston – jener Stoff, den es gar nicht gab, und in dessen Annahme sich die Irrtümer der damaligen Chemie konzentrierten – vom Sauerstoff schwerer Verbrechen bezichtigt und anschließend dem Feuertod überantwortet wurde. Doch seine Erkenntnisse selbst legte auch Lavoisier in eher trockenen Traktaten nieder.
Sprachlich Eindruck machen zu sollen ist der Wissenschaft im Grunde fremd. Ihr Publikum sind zumeist nicht Laien, sondern andere Wissenschaftler. Sie rechnet also mit Leuten, die sich nicht leicht verblüffen lassen, wenig Zeit haben und gleich zur Sache kommen wollen. Das setzt dem Einsatz rhetorischer Mittel enge Grenzen. Die Wissenschaftsgeschichte, schreibt Gaston Bachelard, ist kein Museum, in das man an Regentagen geht, um die Zeit totzuschlagen, indem man sich am Anblick bunter Bilder erfreut. Die wissenschaftliche Neugier will nicht besichtigen, sie will begreifen. Darum ist sie eine Geschichte der Abstraktion, der Empirie, der Messung und der Formeln, der Tatsachen und der Zahlen. Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist eine Linie, keine Arabeske. Die Wissenschaft folgt dem mürrischen Satz eines anderen Franzosen, Émile Durkheim, anstatt an seinem Stil zu arbeiten, könne man sich in derselben Zeit ja auch weiterbilden.
Entsprechend gibt es viele bedeutende Forscher, die ihre Einsichten auf eine sehr holzige, sprachlich armselige oder sogar quälende Weise vorgetragen haben: Niemand liest Max Weber, Ferdinand de Saussure, John Austin oder Hans-Ulrich Wehler mit Genuss. Hauptsache, es war richtig, was sie zu sagen hatten, wenn es denn richtig war. Warum sollte es auch noch glanzvoll sein?
Hat also Schönheit, hat irgendeines ihrer Derivate – guter Stil, Erzählkunst, Darstellungsphantasie – überhaupt einen Ort in der Wissenschaft? Die einzige ihrer Disziplinen, die im Erkenntnisgewinn ästhetische Gesichtspunkte berücksichtigt, ist die Mathematik. Doch wenn ich richtig gezählt habe, ist dieser Preis bislang an die Vertreter von gut zwanzig Disziplinen gegangen. Ausgerechnet die Mathematik ist nicht darunter.
Was kann »wissenschaftliche Prosa« dann aber meinen und weshalb sollte gelobt werden, wer es in einer Wissenschaft jenseits von verständlichem Ausdruck zu besonderen sprachlichen Leistungen bringt?
Diese Frage in einer Lobrede auf Barbara Stollberg-Rilinger zu beantworten ist eine dankbare Aufgabe. Denn das Werk dieser Historikerin beschäftigt sich fast durchgängig mit geschichtlichen Erscheinungen, die selbst der Sphäre des Sichdarstellens, der Demonstration von Glanz, Können und Macht entstammen. In der Welt, mit der sie sich befasst, ist alles voller Auftritte und Abgänge, Zurschaustellungen und Rituale, »Pride, Pomp and Circumstance«, Stolz, Prunk und Rüstung, wie es in Shakespeares Othello heißt. Es ist die Welt der frühneuzeitlichen Lebensführung in Oberschichten, die Welt ihrer höfischen Politik, ihrer Eheschließungen und Gottesdienste, ihres Werbens um die Gunst der Höhergestellten und ihrer sichtbaren Bekräftigung von sozialem Status. Glanz, splendeur et magnificence, waren die Medien, in denen sich Macht ausspielte. Alles drehte sich um die Darstellung persönlicher Qualitäten, um Ehre, Loyalität, Rang und Kontakte.
Diese Welt besaß darum einen erheblichen Teil ihrer Stabilität darin, das Verhalten von Personen mittels zeremonieller Regeln und symbolischer Zeichen festzuschreiben. Es war eine Welt, die Sicherheit an Abläufen gewann, die nicht oder nur um den Preis erheblicher Konflikte geändert werden durften. Barbara Stollberg-Rilinger hat wie keine andere Historikerin diese oft als heilig bezeichneten Rituale untersucht und beschrieben. Wer wissen möchte, was es mit der Glaubensspaltung zwischen Katholiken und Protestanten auf sich hat, der lese ihre Schilderung, wie sich beim Reichstag in Augsburg, 1530, Kaiser Karl V. auf der einen Seite, die Kurfürsten auf der anderen uneins darüber waren, ob der Abgesandte des Papstes unter einem goldenen Baldachin an der Seite des Kaisers in die Stadt einziehen dürfe. Wer muss wen grüßen? Wer steht, wer sitzt? Wer hält wem den Steigbügel? Soll ein Bekenntnis schriftlich übergeben werden, oder muss es vorgelesen werden? Ist das Schauen oder das Hören der richtige Zugang zum Heiligen?
In solchen Debatten zeigte sich, wo Glaubensfragen konkret, für uns fast überkonkret, wurden. Nur vor Gotte gebühre es sich zu knien, ließ der Kurfürst von Sachsen wissen, nachdem er demonstrativ den Segen des Kardinallegaten Campeggio verweigert hatte. Will man, mit Georg Büchners Wort, dahin gehen, wo unsere Phrasen Wirklichkeit werden, dann muss man es, was die frühneuzeitlichen Wirklichkeiten betrifft, mit den Büchern Barbara Stollberg-Rilingers tun. Sie geht dahin, wo Ideen körperlich wurden. Die Verfassungsgeschichte des Alten Reichs, die Logik seiner institutionellen Machtbalancen hat sie auf diese Weise ganz aus Deutungen seiner Symbolsprache und seiner performativen, darstellenden Aktionen entfaltet. Dass sie ihren Preis in einem Haus erhält, dessen Name »Staatstheater« lautet, ist also passend, denn sie erhält ihn unter anderem für Analysen einer politischen Ordnung, die aufgeführt und sichtbar gemacht werden musste, um zu gelten.
Was heißt das nun für unsere Frage nach der wissenschaftlichen Prosa? Die Werke der Historikerin handeln vor allem von Interaktionen, von Kommunikation unter Anwesenden oder umgekehrt davon, welche Verhaltensspielräume gerade dadurch entstehen, dass jemand nicht da ist. Physische Abwesenheit ist manchmal wichtiger als Geistesgegenwart. Dadurch gewinnt die historische Erzählung eine ungeheure Anschaulichkeit. Wenn ältere Geschichtsschreibung sich die Nähe zum vergangenen Handeln durch Einfühlung und Ausmalen erschwindelte, die beiden schrecklichsten Methoden überhaupt, so ist diese Nähe in den Arbeiten Barbara Stollberg-Rilingers das Ergebnis einer Forschung, die aufmerksam auf das ist, was gesehen, gehört, berührt und gespürt werden konnte.
Wenn beispielsweise Maria Theresia 1741 zum Königshügel des Preßburger Reichstags reitet, dann fragt diese Historikerin, ob die Königin zuvor überhaupt reiten konnte (nein), wie ihr Hofstaat das Reiten der Schwangeren wahrnahm (mit Sorge), in welchem Sattel sie es tat (in einem Männersattel), ob sie am Reiten auch danach noch Gefallen fand (ja) und weshalb. Nicht aus Vergnügungslust, wie ältere Historiker rügten, sondern weil das Reiten Maria Theresia etwas ihr sonst Verwehrtes ermöglichte: sich als weibliche Kriegerin nicht nur darzustellen, sondern zu fühlen. »Je suis toute militaire«, ich bin ganz militärisch, schrieb sie später ihrem Sohn. Dank Barbara Stollberg-Rilinger wissen wir das jetzt nicht nur, sondern der Sinn und der Bedeutungsspielraum dieses Satzes sind uns als vergangene Lebenstatsachen geradezu wahrnehmbar geworden.
Auf diese Weise löst die Preisträgerin wie nebenbei auch ein Motivationsproblem, das alle Geschichtsschreibung hat. Man kann es anhand des überwältigenden Buches, das sie über die Kaiserin Maria Theresia geschrieben hat, auf diese Weise formulieren: 855 Seiten, die Fußnoten nicht gezählt, über etwas, das sich nicht mehr ändern lässt. Wozu?
Denn das ist Geschichtsschreibung ja und darin ähnelt sie, besonders auffällig in einer Gesellschaft, die sich zutraut, fast alles ändern zu können, vielleicht nur noch der Astronomie: durch die Beschäftigung mit etwas prinzipiell nicht Erreichbarem. Selbst wie es eigentlich gewesen ist, kann die Historikerin nicht darstellen, denn eigentlich ist es immer auch noch ganz anders gewesen. Noch viel weniger aber kann die Geschichtsschreibung etwas ändern an der Vergangenheit außer ihrem gegenwärtigen Bild.
Wozu also überhaupt sich damit beschäftigen? Nur zu Unterhaltungszwecken? Nur aus »Altgier«, wie Odo Marquard die historische Einstellung einmal bezeichnet hat? Gewiss können Historiker die Beschreibung der Vergangenheit verändern. Sie korrigieren fortlaufend ältere Erzählungen. Das aber tun sie inzwischen vorzugsweise, indem sie den Abstand zwischen uns, der Gegenwart, und ihren vergangenen Gegenständen erhöhen. Das Zurückdrängen projektiver Darstellungen, die sich die Vergangenheit so zurechtlegen, dass sie Zwecken der Gegenwart dienlich ist, steht auf der Liste dessen, was gute Historie zu leisten hat, ganz oben. Gute Historie errichtet keine Monumente.
Also erneut die Frage: Wozu? Wozu Maria Theresia? Wer die Biographie der Kaiserin liest, die Barbara Stollberg-Rilinger geschrieben hat, stellt sich diese Frage nicht. Denn die Anschauung vergangenen Lebens ist selbst dort, wo es sich um ein Leben handelt, mit dem wir so gut wie nichts teilen – ein höfisches Leben, ein kaiserliches Leben, ein kriegerisches Leben –, geeignet, uns auf das hinzuführen, was kein Märchen war, keine Erzählung, keine Idee und keine bloße Möglichkeit, sondern eine Wirklichkeit. Das erklärt auch die 855 Seiten: Wirklichkeit ist etwas Umfassendes, sie tritt erst hervor, wenn nicht nur das geschildert und begriffen wurde, was gemeinhin als historische Taten gilt – Kriegsführung, Diplomatie, Bürokratie, Heiratspolitik –, sondern wenn auch die Geburten, die Krankheiten, die Tänze, das höfische Eindrucksmanagement, die gespielten Wutanfälle und die echte Niedergeschlagenheit, der Umgang mit Sexualität und die Behandlung von Erziehungsfragen, die Reitstunden und die Entfremdung des Alters geschildert und begriffen sind. Und ebendas geschieht hier: die homogene Einbeziehung des Staatswichtigsten wie des anscheinend Nebensächlichsten in die Darstellung einer Figur. Wir erfahren, welche Risiken damals in ehelicher Nähe zwischen Hochadligen lagen, wie Audienzen funktionierten, weshalb der Staat sich im Kampf gegen den Vampiraberglauben engagierte und wie die höfische Kleidermode zur Arbeit am Charisma der Herrschaft beitrug.
In nahezu sinnloser Bescheidenheit hat Barbara Stollberg- Rilinger von ihrem Buch über Maria Theresia gesagt, es biete nur eine unter vielen Perspektiven auf diese Person und könne keinen Anspruch auf objektive Gültigkeit erheben. Wer, wie die Preisträgerin auf ihrer Webseite, ein Forschungsprojekt zur Kultur des akademischen Selbstlobs ankündigt, mag so formulieren müssen. Doch, halten zu Gnaden, es stimmt nicht. Das beeindruckende, erstaunliche und, ja, auch beglückende Gefühl des Lesers, einer kompletten Wirklichkeit, der kompletten Wirklichkeit einer sehr kompletten Frau, Maria Theresia eben, teilhaftig geworden zu sein, ergibt sich nur, weil dieses Buch alle derzeit denkbaren Perspektiven auf sie bietet.
Das führt zu mehr als zu einem reichhaltigen Wissen. Was Honoré de Balzac mit einer Stadt, Paris, gelang und Marcel Proust mit einem sehnsüchtigen Innenleben, seinem eigenen, das literarische Abschreiten und Ausleuchten einer unfassbaren Komplexität, das ist Barbara Stollberg-Rilinger durch Forschung an einer historischen Figur gelungen. Diese Figur, Maria Theresia, steht vor uns, nicht monumental aber plastisch, fremd aber wirklich. Mit einem Wort: Sie steht ganz vor uns. Wirklichkeit ergibt sich hier aus der Konsistenz einer Totalität von Kontexten. Sie zeigt sich in dem, was alles gleichzeitig die Welt der Maria Theresia ausmachte. Der Leser bewegt sich durch diese Welt wie durch einen Raum, der sich allmählich verwandelt. Es ist eine große Leistung wissenschaftlicher Prosa, den bedeutendsten Möglichkeiten des Romans, den fast körperlich wirksamen Eindruck von Realität zu erzeugen, mit ihren eigenen Mitteln, eben den wissenschaftlichen, so nahe zu kommen. Nicht weil es zum Ritual der Laudatio gehört, sondern weil die Leserschaft dafür zu danken hat: Die Akademie verleiht diesen Preis für eine außerordentliche Leistung und an eine bedeutende Autorin.