Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Angelika Neuwirth

Kulturwissenschaftlerin und Arabistin
Geboren 4.11.1943

... die dadurch das Gründungsdokument des Islam als einen auch europäischen Text verständlich werden lässt und für die heute immer wichtiger werdende Fähigkeit wechselseitiger Wahrnehmung zwischen Orient und Okzident ein erneuertes Fundament legt.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Heinrich Detering
Vizepräsidenten Aris Fioretos, Gustav Seibt, Nike Wagner, Beisitzer Peter Hamm, Joachim Kalka, Navid Kermani, Per Øhrgaard, Michael Stolleis, Jan Wagner

Ich habe mit dem Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung eine Auszeichnung erhalten, die mich als Nicht-Literatin, als bloße Philologin, für einen Moment auf eine gemeinsame Bühne mit großen Dichtern, mit den eigentlichen Akteuren der Weltliteratur, stellt. Was mir die Verlegenheit über diese überwältigende Ehrung etwas mildert, ist die Überlegung, dass Bühnen ja nicht nur mit großen Schauspielern besetzt sind, sondern auch Techniker brauchen, d. h. für die Literatur: Philologen. Lassen Sie mich in dieser Funktion ein paar Worte an Sie richten. Mein heutiger Dank ist nicht nur die Ableistung einer Schuld – er ist im Grunde ein Stück alltäglicher philologischer Praxis. Denn Dank – in Gestalt des Denkens – ist ein tief in der von mir gelesenen Literatur verwurzelter Gestus. Danken ist ja nicht nur etymologisch verwandt mit Denken. Beide sind auch durch die Autorität der hebräischen Bibel untrennbar miteinander verbunden, wo der Auftrag, Dank darzubringen, zuallererst ein Aufruf zum Gedenken ist. Noch konkreter ist der Koran, der – nicht mehr aus dem Alten Orient, sondern aus der Spätantike stammend – Sprache und Denken über alle anderen menschlichen Fähigkeiten erhebt, sodass es nunmehr das Denken selbst ist, mit dem Dank abgestattet wird. »Wollt ihr denn nicht denken!«, heißt es im Koran ungezählte Male. Gott teilt sich nicht mehr direkt von Angesicht zu Angesicht, sondern durch ein System von Zeichen in der Schöpfung mit, die der Mensch dank seiner Gabe des klaren Verstandes entschlüsseln kann. Wer dieses Denken verweigert, ist nicht etwa nur träge, sondern undankbar – kāfir –, das ist gleichbedeutend mit ungläubig. Hier wird die Reflexion über die – einem sprachlichen Schöpfungsimperativ verdankte – Welt zur eigentlichen Bestimmung des Menschen.
Aber auch ohne solche Schriftautorität ist mir die Gelegenheit, Ihnen heute etwas Dank abzustatten, eine große Freude.
Unter den vielen in diesem Hause geehrten Dichtern hat mir einer besonders nahegestanden: der Palästinenser Mahmud Darwish, der in einzigartiger Weise beiden Kulturen, der arabischen und der hebräischen, angehört hat. Mahmud Darwish, der als Sohn einer einfachen muslimischen Familie von aus ihrer Heimat entwurzelten Flüchtlingen in Galiläa aufwuchs, hätte eigentlich keinen Anlass gehabt, sich intensiv mit der Bibel zu befassen. Und doch war er ein sensibler Bibelleser, dem man ohne Übertreibung nachsagen kann, viele seiner Gedichte »an die Bibel angelehnt« zu haben. Für seine arabischen Landsleute war er der Dichter Palästinas – dass seine Dichtung aber ein Vexierbild ist, das auch von einer israelischen Seite gelesen werden kann, blieb – weil die biblischen Referenzen ihnen nicht ins Auge fielen – weitgehend unerkannt. Darwish war während seiner Schulzeit in Galiläa von einer israelischen Lehrerin in die hebräische Bibel eingeführt worden, nicht in die Bibel als religiösen Kanon, sondern in eine Bibel, die durch ihre im Land vollzogene Wiederverbindung mit dem »Volk der Bibel«, mit den Juden, explosive Kraft angenommen hatte, eine Bibel, die – wörtlich gelesen – zur Identitätsurkunde einer Nation geworden war. Diese einzigartige Ausstrahlung eines Textes auf die Wirklichkeit ließ Darwish nicht unberührt. Bereits in dem Moment, in dem er sein erstes großes Gedicht schrieb, war er sich im klaren, dass »die anderen« einen Text besaßen, der ihre mythischen Wurzeln im Land in einer von niemandem auf der Welt anzuzweifelnden Weise zur Sprache gebracht hatte. Was konnten die Palästinenser anderes tun – so fragt er –, als für ihre Beziehung zu demselben Land, das auch das ihre ist, gleichfalls eine mythische Sprache zu suchen? In seinem ersten großen Gedicht aus dem Jahr 1966 zieht er alle poetischen Register seiner arabischen Tradition, um die Überzeugungskraft zu sammeln, die er braucht, um sein Land, Palästina, das von der politischen Landkarte gestrichen war, ins Leben, in die Realität, zurückzurufen. Das Gedicht heißt ʿĀshiq min Filasṭīn, Ein Liebender aus Palästina, und erhebt einen hohen Anspruch: Nur der Dichter – in der arabischen Tradition ist er der absolut Liebende, ʾāshiq –, kein sonstiger Machthaber, kann der verlorenen, der stumm gewordenen Heimat eine Stimme geben. Die Formel, mit der Darwish Palästina – allegorisch als schöne junge Frau dargestellt – in die Realität zurückholt, ist der Schöpfungsimperativ. Natürlich kann Darwish nicht direkt auf die Bibel zurückgreifen, sondern muss sich an ihre arabische Fortschreibung, an den Koran, halten. Es ist daher der koranische Imperativ kun fa-yakūn, Sei und es ist, der im Mittelpunkt des Gedichts steht: »Filasṭīniyatān kānat wa-lam tazali«, palästinensisch ist sie und wird sie bleiben. Die immense Wirkung dieser gewagten Übertragung koranischer Autorität auf ein politisches Gedicht ist in der deutschen Übersetzung nicht mehr spürbar – sie ist aber keinem seiner arabischen Hörer und Leser entgangen. Darwish hat auch danach viele seiner Gedichte an der Bibel entlang geschrieben, vor allem am Buch Exodus, aber auch den Psalmen, Gedichte, die der biblischen Verheißung den Zerrspiegel einer katastrophalen Realität vorhalten, die aber dennoch etwas von der Autorität der biblischen Texte auf sein – als »nicht-biblisch« aus seinem Land exiliertes – Volk »herüberzuleiten« versuchen. Aus der Rückschau gesehen ist ihm das gelungen: Sein Werk hat zum nation building der Palästinenser sicher nachhaltiger beigetragen als das der professionellen Politiker. Begonnen hat dieses Werk aber mit dem wiederentdeckten Schöpfungsimperativ, einer Anleihe bei dem autoritativsten Text schlechthin.
Es ist fast unmöglich, hier nicht an den großen Präzedenzfall zu denken, an jenen anderen bedeutenden arabischen »Dichter«, der sich 1300 Jahre früher ebenfalls mit der Bibel als dem autoritativsten Text schlechthin konfrontiert sah und dessen eigener biblisch fundierter – Text die politische Realität noch weit grundlegender verändern sollte, als Darwish das vermochte: der Prophet Muhammad. Wie der gesamte Koran bezeugt, waren Muhammad und seine Gemeinde bibelkundig, nicht im Sinne von Bibellesern, denn sie waren auf mündliche Tradition angewiesen. Wohl aber im Sinne von Kennern wichtigster Texte, vor allem solcher, die im liturgischen Gebrauch bei Juden und Christen lebendig waren. Denn der Koran spiegelt eine Hörergemeinde, die biblische Traditionen debattiert, sie verhandelt, verändert und manchmal sogar verwirft. Aber niemals ist bisher die Frage gestellt worden, wessen Bibel, die christliche oder die jüdische, es denn war, aus der die Gemeinde schöpfte. Diese Frage mag banal klingen, sie entscheidet aber nicht zuletzt über das Bild, das wir uns von der Koran- und Islamentstehung zu machen haben.
Wir haben erst in jüngerer Vergangenheit durch einen großen philologischen Denker, Maurice Olender, zu ermessen gelernt, wie wirkmächtig die Exegese der Bibel für die Konstruktion von Weltbildern gewesen ist. Dass christliche Exegese die Bibel schon früh vom Volk der Bibel trennte, war zunächst eine theologische Entscheidung gewesen – wir alle kennen die Allegorien der Synagoga und der Ecclesia an den Portalen gotischer Kathedralen. Später, im 18. und 19. Jahrhundert, wurde diese Entscheidung dann aber zur Grundlage einer wissenschaftlich eingekleideten ideologischen Konstruktion: Die Sprachnation der »Hebräer«, als Antipode zu den »Indogermanen«, den »Ariern«, konstruiert – hatte dieser Theorie zufolge nur eine einzige kulturelle Leistung erbracht: die Übermittlung der Bibel. Gleichsam verbohrt in einen erstarrten Monotheismus, hätten sie aber aller jener imaginativen Kräfte entbehrt, die die Fortschrittsfähigkeit der »Arier« verbürgten, welche sich bereits durch ihre dramatisch bewegte Mythologie für eine aktive Rolle in der Geschichte qualifiziert hätten. Den »Hebräern« dagegen sei nicht einmal die von ihnen einzig in die Kultur eingebrachte Bibel in ihrem tieferen Sinn zugänglich gewesen, denn dieser sei erst durch die christliche Deutung erkennbar geworden. Die als archaisch abgestempelten »Hebräer«, d. h. empirisch: die Juden, stehen damit außerhalb der Geschichte. Diesem grotesken Konstrukt trat eine Anzahl jüdischer Gelehrter mit einer exegetischen ultima ratio entgegen: dem mutigen Versuch, die angemahnten Mythen der Juden in der hebräischen Bibel selbst nachzuweisen. Alle intellektuellen Bemühungen um Repatriierung der Juden in die Geschichte waren aber umsonst – erst mit der Umsetzung des biblischen Mythos in Realität, mit der Verwirklichung des zionistischen Projekts, kehrten die ihrer Schrift Enteigneten in die Geschichte zurück. Die Bibel war wieder Besitz ihrer Erben, sie wurde im Literalsinn als Geschichtstext gelesen zur Grundurkunde einer nationalen Existenz. Als solche hatte Mahmud Darwish sie kennengelernt.
Welche Bibel kannte aber Muhammad – war es die christliche, von der Geschichte der Juden abgetrennte, theologisch bereits vereinnahmte Schrift, stand er also bereits in christlicher Tradition? Viele Forscher nehmen ebendies an: Der Koran sei weitenteils einfach eine Wiedergabe christlicher Traditionen – und folglich auch in seinem tieferen Sinne am ehesten von Christen verstehbar. Blickt man aber auf die Korantexte selbst, so zeigen sich verschiedene Gesichter: In den frühen Texten – die laut traditioneller Prophetenvita zwischen 610 und 622 in Mekka entstanden sind – begegnet man zwei Bildern: einerseits einer transzendenten Bibel, bewahrt im Himmel, nicht auf Erden; die Bibel-Kodizes und -Rollen der Christen und Juden sind nicht mit ihr identisch, sondern nur Teil-Niederschriften aus dieser himmlischen Urschrift – wie die koranische Offenbarung selbst eine Mitteilung aus ihr ist. Andrerseits hat die mündliche Tradition in der Spätantike auch auf der Halbinsel für eine irdische Manifestation der Bibel gesorgt und biblische Erzählungen, Parabeln und Hymnen längst zu einem selbstverständlichen Teil der Bildung gemacht; diese sind deutlich christlich geprägt, werden aber im Kreise der koranischen Gemeinde einer rigorosen Relektüre unterzogen, die neue, zeitgemäße Akzente setzt und vor allem an den christologischen Aussagen theologische »Korrekturen« vornimmt. Die himmlische Urschrift bleibt von alldem unberührt, sie ist universal, ein gemeinsamer Referenztext für alle monotheistischen Gläubigen.
Es gibt aber noch ein weiteres Gesicht der Bibel. Weder die sublime, transzendent verortete Bibel noch die von der koranischen Gemeinde in Mekka revidierte christliche Bibel wäre geeignet gewesen, jenen Denkprozess in Gang zu setzen, der aus dem frommen mekkanischen »Konventikel« innerhalb weniger Jahre Akteure der Weltgeschichte machen sollte. Diese Verwandlung verdankt sich einem neuen geistigen Milieu. Muhammad und seine Gemeinde sollten in Medina – von 622 bis 632 – eine ganz neue Manifestation der Bibel kennenlernen: die Bibel in den Händen ihrer eigentlichen Erben, der Juden. Eine nicht ungelehrte jüdische Gemeinde war in Medina ansässig, auch an sie richtete sich anfänglich Muhammads Botschaft, zwar mit geringem Missionserfolg, dafür aber mit erheblichem hermeneutischen Zugewinn. Man entdeckt nun die vorher strikt ausgeschlossene Mehrdeutigkeit von Schriftversen – dem rabbinischen Prinzip der »Vielgesichtigkeit der Tora« folgend, lernt man, Widersprüche, ja sogar Paradoxien in der Schrift anzuerkennen und zu dulden. In Medina werden die biblischen Erzählungen politisch. Vorher erbaulich erzählte Geschichten erhalten nachträglich eine religionspolitische Spitze – in Auseinandersetzung mit rabbinischen Traditionen, die die volle theologische Dimension der Texte erst erkennbar machen. Die Bibel wird nun entdeckt als ein politisch aufgeladener Denkraum, in dem man sich keineswegs allein, sondern zusammen mit den älteren Erben bewegt. Am Ende der Verkündigung steht die Sezession der neuen Gemeinde aus dem Ensemble der monotheistischen Frommen: Man sagt sich – wenn auch nicht leichten Herzens – los von dem Vorbild der Israeliten, von der Modellrolle Moses, und erkennt sich wieder als Abrahamiten, als diejenigen, die nicht durch Mose das Gesetz erhalten haben, sondern es in der von Abraham praktizierten Form besitzen. Der sich in Medina abzeichnende Ausschluss der Neuankömmlinge aus dem erwählten Volk, ihre Zuweisung zu den »Völkern der Welt«, den Heiden, musste nicht als Verlust gedeutet werden; er ließ sich auch – wie schon Paulus gezeigt hatte – als Erhebung in einen neuen Adelsstand deuten: Auch Abraham war ja nicht Jude gewesen, sondern durch den Glauben gerecht. Diese abrahamitische Identität bildet sich heraus in andauernder Reibung an der vorher noch für sich selbst reklamierten, nun aber doch den anderen als ihr Erbe überlassenen mosaischen Identität. Es ist die jüdische, durch rabbinische Debatten diskursiv gewordene Bibel, die diesen Prozess in Gang setzt. Erst die im Austausch mit den jüdischen Rivalen erkämpfte Einzigartigkeit als Abrahamiten dürfte die Gemeinde zu ihrer großen innerweltlichen Rolle, zu ihrem islamischen nation building, instand gesetzt haben.
Diese eminent folgenreiche Bibelrezeption der koranischen Gemeinde müsste hinreichen, um das Verdikt des außer-biblischen Islam zu entkräften. Aber reicht sie auch aus, um dem Koran endlich einen Platz in unserem theologischen Wissenskanon einzuräumen? Noch sind wir weit davon entfernt. Für den einflussreichen amerikanischen Bibelforscher James Kugel – um nur einen einzigen prominenten Zeugen aufzurufen – hat die spätantike Neulektüre der Bibel zweifach eine epochemachende Tradition begründet: im Judentum und im Christentum. – Nicht auch im Islam? Wo steht der Koran in unserem Bild der Geschichte?
Philologie hat viele Schulden zu tilgen, vor allem aber solche, die durch Ausgrenzungs- und Enteignungsprozesse entstanden sind, wie sie ja nicht nur die von Maurice Olender beleuchteten »Hebräer«, sondern ebenso die von Edward Said in unseren Horizont geholten »Orientalen«, die Muslime, betreffen. Koranphilologie hat gegenwärtig die ganz konkrete Aufgabe, einer Wiederholung von Geschichte, auch von Philologiegeschichte, entgegenzuwirken.