STATUT
§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.
Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.
§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.
§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.
§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.
Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021
Kunsthistoriker und Publizist
Geboren 1.5.1946
...Mit großer stilistischer Sicherheit vermag er komplexe Werke der Kunst in einer anschaulichen, begriffsklaren, theoretisch durchdachten und ästhetisch sensiblen Prosa zu erschließen....
Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Ernst Osterkamp
Vizepräsidenten Aris Fioretos, Wolfgang Klein, Monika Rinck, Beisitzer László Földényi, Michael Hagner, Elisabeth Edl, Dea Loher, Ilma Rakusa, Marisa Siguan
Laudatio von Barbara Vinken
Stilübungen: Wolfgang Kemp
»Le style, c’est l’homme même.« Dieser berühmte Satz des Naturwissenschaftlers
Buffon aus seiner Antrittsrede in der Académie française
könnte auch über dem hier verliehenen Sigmund-Freud-Preis stehen.
Bemerkenswert, nein unglaublich, ja wunderbar, besonders wenn man
sich die heutige Qualität naturwissenschaftlicher und überhaupt wissenschaftlicher
Prosa ansieht, dass der Naturwissenschaftler Buffon in
die Académie française aufgenommen wurde und dort eine Rede nicht
über Fauna und Flora, sondern über den Stil hielt. Buffons Rede war,
vu le sujet, dann auch nach allgemeinem Dafürhalten eine der denkwürdigsten
Antrittsreden, die je in einer Académie gehalten wurde. Vollendet,
stilvoll.
»Le style, c’est l’homme même« ist in den europäischen Zitatenschatz
eingegangen und fast ebenso unmittelbar als Inbegriff der rhetorikfixierten
Oberflächlichkeit des ancien régime verunglimpft worden.
Nicht die Sache, sondern die Form stünde im Vordergrund. Die
lateinische abwertende Paraphrase stilo primus, doctrina ultimus ist
von Jean Paul dann polemisch auf den Gegensatz von »Wohllaut statt
Wahrheit« gebracht worden. Aber das war, gelinde gesagt, für den bürgerlich
wissenschaftlichen Stil oder, besser, Un-Stil nicht gerade ein
Segen.
»Le style, c’est l’homme« ist von Jacques Lacan, dem einflussreichsten
aller Freud-Leser und einem zweifelsfrei pointierten Stilisten, in seiner
erotischen Dimension ganz ausgefahren worden – wenn Sie diese
Pointe erlauben. Denn der Stil – das ist der Mensch selbst, aber natürlich
macht der Stil auch den Mann. Wie die Waffe steht die Feder als
deren Pendant – für den Mann des Schwertes wie den Mann der Feder
– für die phallische Bestückung des Mannes. Aber: als etwas kunstvoll
Künstliches, als simulacrum, verschleiert, ist es nichts Natürliches.
Sozusagen als Accessoire ist sie verschiebbar, abnehmbar, anschnallbar.
Nervös gespannte Männlichkeit, scharf herausragende Pointierung
zeigt, etwa bei Flaubert, idealerweise der Stil, den er mit viel Verve auch
den Frauen ans Herz legte. In Maupassants Roman Bel-Ami führen stilmächtige
Frauen die Feder ihrer stilistisch impotenten Männer; in der
pointierten Form scharfzüngiger Epigramme lassen sie die männlich
aufgeblasenen Stilblasen witzig zerplatzen.
Die Betonung des rein Faktischen, des factum brutum, die Vernachlässigung
des Wie zugunsten des Was, die Ablehnung alles simulakrenhaft,
phallisch-kunstvoll Künstlichen hat es interessanterweise mit sich gebracht,
dass die Erkenntnis des Faktischen vollends die Domäne der
ganzen Männer der Wissenschaft geworden ist. Die Ablehnung des
Künstlich-Kunstvollen in der bürgerlichen Rhetorik der A-Rhetorik
hat zu einer faken Naturalisierung geführt, in der Männer fürs Faktische
der harten Wissenschaft, eben für die nackte Wahrheit zuständig
sind, wogegen weibisch ist, was in allem jetzt eben nicht mehr Wesentlichen,
sondern künstlich oberflächlich eitel leeren Schmuck-Geklimper
– eben dem Stil – von den Frauen verkörpert wird.
Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel. Freud, dem man deswegen
immer wieder die Wissenschaftlichkeit abgesprochen und von Romanen,
Fiktionen gesprochen hat, weil man taub und blind war, war
eine Ausnahme. Ein Mann mit einem herausragenden Stil. Und so ist
auch Wolfgang Kemp eine Ausnahme. Eine solche Ausnahme sein zu
können, das heißt: stilvoll, nämlich nicht: dumpf verleugnend, mit dem
factum brutum der Kastration umzugehen. Kunstvoll, künstlich, durch
fein geschliffene Rhetorik, kurz: dadurch, dass die auf dem behauptet
Faktischen beruhende Aufgeblasenheit, die sich so ungeheuer ernst
nimmt, mit scharfen Nadelstichen zerplatzt. Mit Witz schaffen wir
Prothesen für unsere Verletzlichkeit und Unzulänglichkeit. Symptom
für ein gelasseneres Umgehen mit dieser Angst ist in der Wissenschaft
immer, auch das behaupte ich jetzt mal kavaliersmäßig, das Umgehen
mit Weiblichem. Wolfgang Kemp zum Beispiel, da sticht er unter seinen
Kollegen hervor, hat kein Problem damit, Weiblichkeit und Autorität
zusammenzudenken. Er zitiert auffällig viele Frauen. Und zwar
nicht paternalistisch: junge Frauen, die gefördert werden müssen, sondern
weibliche Autoritäten. Die meisten Kollegen haben noch nicht gemerkt,
dass es die gibt. Und so hat Kemp auch kein Problem mit sogenannten weiblichen Themen, obwohl er die dann hin und wieder
mit spitzen Fingern anfasst. Denn das sind oft ziemlich stillose Themen
– das weibliche Pendant zur einfallslosen sturen Behauptung der
harten Fakten ist oft genug der rosa-rote Kitsch einer heilen Welt: die
Rosamunde-Pilcher-Verfilmungen des deutschen Fernsehens zum Beispiel,
in die Kemp aus den Höhen des strukturellen Befundes der Wiederholung
der Liebesbegegnung in Tolstois Anna Karenina wie in den
deutschen Fernsehserien fasziniert angewidert, auch verzweifelt gelangweilt,
hinabsteigt. Oder, ganz anders, die Landlust in all ihren Facetten.
Nicht von oben herab, sondern von dem Ort aus, wo sie, diese
Landlust, nach Kemps scharfsinniger, bisweilen bösartiger Analyse entsteht
und die gleichnamige Illustrierte
millionenfach gekauft wird: aus
der Suburbia. Und eben von dieser Suburbia schreibt er selbst, mitten
unter den Landliebhaberinnen
sitzend, Seite an Seite mit ihnen, gewissermaßen,
schreibt er.
Berührungsangst zeigt Kemp, der vom Höchsten zum Niedrigsten,
vom Allerpopulärsten bis zum abgelegen Esoterischen alles behandelt,
nie. Seine Gegenstände scheinen ihm wie dem Flaneur in aller Demut
zuzufallen – es sind selten die Highlights des Fachs, keine Mona Lisa,
aber Kemp gewinnt ihnen etwas ab, und er stolpert, tänzerisch in diesen
untänzerischen Zeiten, nie. Bei all seiner atemberaubenden Bildung,
die nichts vom Fachidioten hat und theoretisch state of the art
ist, und der unglaublichen Vielfalt seiner Interessen, die von der Typologie
des Mittelalters über die Bilderfolgen Hokusais bis zur Pop Art
der Schundserien reichen – Stichwort Schundroman, Bodo Kirchhoff –,
ist Wolfgang Kemp ein Geistes-Dandy, würde Thomas Bernhard sagen.
Nie ließe er sich im Gitter einer Wissenschaft, in deren Leit-Paradigmen
fangen, immer schon hat er sie mit anderen Analyse-Methoden
kontaminiert. Mit den Geistes-Dandies – Mode & Verzweiflung, Thomas
Meinecke – teilt er das absolute Gehör für den Sound, teilt er den
Glauben an die sinnliche Erfahrung, die von ihm phänomenologisch
höchst raffiniert entfaltet wird und nicht angekränkelt ist von der philosophischen
Angst vor der Sinnestäuschung. Ent-täuschung traut er
den Sinnen selbst zu.
Wortbilder spielen in Kemps Bildbeschreibungen eine große Rolle;
er hört der Sprache, ihren Wortwitzen und puns, ihre Wahrheit ab. Davon
zeugt Kemp nicht nur in der Sache, denn das wäre nicht genug,
sondern mit Stil – denn ohne Stil wäre sie verloren, die Sache, verloren
in der Selbstbehauptung. Geduldig versenkt er sich in akribisch beobachtete,
strukturalistisch lakonisch analysierte Katastrophen der Geschichte
(die meistens direkte Folgen des guten Glaubens an Fortschritt
und Aufklärung sind). Satire ist konservativ, kann man mit Elfriede Jelinek
sagen. Mein Lieblingsbeispiel für die Versenkung in eine solche
historische Katastrophe, die vielversprechend anfing, ist der von Kemp
in seiner Antrittsvorlesung in Marburg analysierte Ballhausschwur von
Jacques-Louis David (1791), der nie ausgeführt wurde und nur als Skizze
existiert. Es geht um eine Verfassung; der Absolutismus soll durch eine
verfasste Monarchie zu Ende kommen. Kemp zeigt, dass der Ballhausschwur
im Blick des Parlamentspräsidenten kulminiert, der alle – die
Bild-Betrachter und die Abgeordneten, den Raum im Bild mit dem
Raum vor dem Bild – Aug in Aug vereint, jetzt und für alle Zeit. Die
Ersetzung des »Willens des Einen« durch den »Einen Willen« war für
die politische Theorie und Praxis der Französischen Revolution grundlegend.
Um diese Einheit der Nation, diesen einen Willen zu erreichen,
musste man jedoch – das hatte schon Rousseau festgestellt – einen jeden
bis ins tiefste Innere spalten: Denn fehlt der äußere Feind, dann
müsse er im Innersten eines jeden Bürgers »als dessen Einzelwille und
Eigeninteresse« aufgespürt und bekämpft werden. Kurz, der paranoide
Überwachungsstaat, welcher der terreur war, führte um der Einheit willen
zum Kampf aller gegen alle und damit zur völligen Spaltung der
einzelnen in sich und zur absoluten Spaltung des politischen Körpers.
Der von David mit vorangetriebenen Vernichtung der Feinde im Inneren
fiel der Senatspräsident Bailly, mit dem wir, die Betrachter, Aug
in Aug beim Ballhausschwur unsere Einheit besiegeln sollten, guillotiniert,
zum Opfer. Kemps lakonisches Fazit – eine Stilfrage: »Der Ballhausschwur
Davids konnte nicht realisiert werden, weil Einheit dann
durch Eliminierung geschaffen wurde: immer mehr Abgeordnete verschwanden
– im wahrsten Sinne des Wortes – von der ›Bildfläche‹.«
Es gab nichts zu vollenden an dem Bild, das die Geschichte bot. Das ist
schrecklich schön gesagt.
Lässt sich das verallgemeinern, daraus lernen? Es gibt, lernt man bei
Kemp, einen erkenntnis-pragmatischen Sinn des Stils. Auch die Sache
hat – das lernt man an der Kunst – Stil, und wer den nicht kennt, nicht
merkt, vertut sich in der Sache, tut ihr Unrecht, tut ihr Gewalt an. Stil
ist, eine Bezugsperson Freuds (Rhein-Main, Goethe) zu zitieren, »zarte
Empirie«. Kemps Stil ist nicht erhaben, erhebt sich nicht über sein Publikum.
Er zeigt aber, dass die Sache nicht in verständnisinniger Eingängigkeit
zu haben ist. In der brillanten Vorführung ungewohnter, überraschender
Quer-Lagen liegt der Charme, aus dem Erkenntnis springt.