Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Walter Burkert

Altphilologe
Geboren 2.2.1931
Gestorben 11.3.2015

Nüchtern und philologisch scharfsinnig, lakonisch und nicht ohne Ironie, alte Denkgewohnheiten in Frage stellend, hat er den Schreckensgrund unserer Kultur in seinen Schriften zur Sprache gebracht...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Klaus Reichert
Vizepräsidenten Peter Hamm, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, Beisitzer Friedrich Christian Delius, Heinrich Detering, Harald Hartung, Joachim Kalka, Peter von Matt

Laudatio von Marie-Theres Fögen
Juristin und Rechtshistorikerin, geboren 1946

Philologe und Erforscher der conditio humana

»Schon zückt der Archon sein Schwert und durchschneidet dem schwarzen Stier die Kehle, dass das Blut auf den Scheiterhaufen fließt.« Blut und Ekel, Angst und Tötungsrausch, Wahnsinn und Tod, »singende Böcke« und »Dicksteißtänzer«, phallische Exzesse und geopferte Jungfrauen – das ist der unheimliche, sinistre und erhabene Stoff, aus dem Walter Burkert einen bedeutenden Teil seines wissenschaftlichen Œuvre geformt hat. Der andere, nicht weniger bedeutende Teil ist klassische Arbeit eines klassischen Philologen: Edition und Emendation, Konjektur und Kommentar, schließlich die Rekonstruktion ganzer Kulturen des Altertums.
Walter Burkert bewegt sich seit jeher zwischen dem, wie man annimmt, trockenen, gewissenhaften und Gewißheit versprechenden Beruf des Philologen und dem reizvollen, riskanten Geschäft der Erforschung der conditio humana. »Klassische Philologie weitet sich zur Anthropologie«, schrieb er 1996 – ein Satz, der für den Allgemeinzustand der Altphilologie evident falsch ist, für ihn persönlich aber bedeutete, »biologisch-psychologisch-soziologisch« zugleich zu denken. Seine Befürchtung, sich damit »zwischen alle Stühle zu setzen«, hat sich nicht bewahrheitet: Immerhin sitzt er hier vor mir auf einem Stuhl und saß schon vorher nicht nur auf einem Lehrstuhl, sondern auf vielen akademisch hochkarätigen Sesseln. Die Wissenschaftswelt hat ihm nichts verwehrt, hat ihn im Gegenteil, vielleicht zum Verdruß einiger Kollegen, welche die Nase rümpften über den »Biologisten«, nach Gebühr geehrt.
Und tut es hier und heute. Mit einem doppelten Preis: nach seiner Herkunft ein Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, nach seinem Namen ein »Sigmund- Freud-Preis«. Hat Walter Burkert beides verdient?
Seine Schriftsprache – alle, die sie gelesen haben, wissen es – ist eine disziplinierte, ruhige, makellose Sprache. Wissenschaftler dichten nicht, und Philologen pflegen nicht zu fabulieren. Dramatik genug steckt im griechischen Text, in der Quelle, sprachlich wie in der Sache. Spricht schon der Text, grässlich und aufwühlend, von Blut und Tod, so sollte man ihn kühl und nüchtern kommentieren. Alles andere wäre unerträglich. Ein Satz wie – Zitat – »Es gibt ›Humanität‹, die sich gerade im Töten, Schlachten und Essen bewährt«, entfaltet seine Wucht durch seine Lakonik.
Nicht weniger lakonisch habe ich Burkert in vielen Seminaren erlebt, gebeugt über einen Text mit Lakunen oder Korruptelen, schweigend, während andere lauthals rätselten. Dann irgendwann sein knapper Einwurf: embaíno statt embállo. Der Text ist gerettet, und der Retter schaut um sich, wortlos, mit dem verschmitzt-vergnügten Ausdruck eines kleinen Jungen, der den verloren geglaubten, dringend benötigten Legostein wieder gefunden hat.
So temperamentvoll er zuweilen erzählt und erklärt – überflüssige, lästige Worte zu vermeiden ist Burkerts besonderes Talent. Ein wohltuendes Talent, wie ich weiß, seitdem ich stundenlang an seiner Seite durch die syrische Steinwüste getrottet bin, schauend, staunend und schweigend.
Ein Preis der Akademie für Sprache? Ein hoch verdienter Preis, wenn und weil er nicht nur den virtuosen Gebrauch der Sprache ehrt, sondern auch den bescheidenen, respektvollen Umgang mit ihr bis hin zum klugen Verzicht auf sie.
Und Sigmund Freud? Er war der Autor, der Walter Burkert, wie er selbst sagt, »den Weg gewiesen« und im Werk deutliche Spuren hinterlassen hat. Ein homo necans wäre ohne den fundamentalen Freud kaum denkbar. Aber auch nicht ohne dessen schroffe Zurückweisung. Zu Freuds »Urkatastrophe«, dem Vatermord, liest man bei Burkert: »Freuds Konstruktion ist... ein Mythos, einprägsam und unverifizierbar, ja in dieser Form unmöglich richtig.« Mythenforscher unter sich. Nur die Probanden wurden ausgewechselt: Statt Neurotikern dienen Burkert ganz normale Griechen.
Ganz normale Griechen? Ganz normal sind weder diese noch irgendwelche anderen Menschen. Burkert zeichnet ein Bild vom Menschen, in dem kaum gezügelte Aggression, tief sitzende Tötungsneigung und gefährliche Unberechenbarkeit dominant sind. Ja, es sind, wie er selbst bekennt, die nicht »erbaulichen Aspekte der Religion und des Menschseins«, mit denen er sich anhaltend beschäftigt. Wie kann man dann ein so philanthropischer und heiterer Mensch bleiben, wie Walter Burkert es ist, wie ich ihn seit Jahren erlebe? Schlagen wir nach bei Freud! Im »Unbehagen in der Kultur« beschreibt dieser die verschiedenen Methoden, die trotz des Elends der Welt Menschen zum Glück verhelfen können – darunter chemische Intoxikation, Yoga oder Eremitendasein, was alles wir für Burkert ausschließen wollen. Dann aber heißt es:

»Am meisten erreicht man, wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem dann wenig anhaben. ... Die Schwäche dieser Methode liegt aber darin, daß sie nicht allgemein verwendbar, nur wenigen Menschen zugänglich ist. Sie setzt besondere, im wirksamen Ausmaß nicht gerade häufige Anlagen und Begabungen voraus.«

Daß Walter Burkert diese besonderen, seltenen Anlagen und Begabungen besitzt, ist also nicht nur ein Glück für die Wissenschaften, sondern Garant seines eigenen Glücks. Rätsel gelöst? Freud selbst erinnerte sich, daß da noch ein anderer Weg zum Glück führen kann: (Zitat): »Ich meine natürlich jene Richtung des Lebens, welche die Liebe zum Mittelpunkt nimmt«. Er schloß den Absatz über die »auf den Glückswert der Liebe gegründete Lebenstechnik« mit: »es ist viel mehr darüber zu sagen«.
Nachdem Walter Burkert in 46 Ehejahren die Gelegenheit hatte, diese Lebenstechnik zu üben und zu genießen, bleibt mir nur zu sagen: herzlichen Glückwunsch Maria Burkert zum Sigmund-Freud-Preis! Und herzlichen Glückwunsch auch Dir, Walter.