Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Paul Parin

Ethnopsychoanalytiker
Geboren 20.9.1916
Gestorben 18.5.2009
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... dem Citoyen, der in Wort und Schrift für eine mutigere Gesellschaft eintritt, ohne Illusionen, doch nicht ohne Genuß.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Christian Meier
Vizepräsidenten Elisabeth Borchers, Peter Hamm, Norbert Miller, Beisitzer Giuseppe Bevilacqua, Kurt Flasch, Adolf Muschg, Erica Pedretti, Klaus Reichert

Laudatio von Karl Markus Michel
Schriftsteller, geboren 1929

Auctoritatis encomium

Herr Präsident, meine Damen und Herren,
bitte erlauben Sie mir, den zu Lobenden direkt anzusprechen, um den peinlichen Eindruck zu vermeiden, ich wollte ihn anpreisen oder, schlimmer noch, evaluieren.

Verehrter, lieber Paul Parin, bevor ich auf dieses Podium trat, habe ich mich natürlich gefragt, wie jemand, der inmitten anderer vor mir sitzt, angemessen zu loben sei. Die gute alte Enkomiastik ist uns ja abhanden gekommen. Überdies lehrt ein Blick auf die rhetorische Überlieferung, daß es zwar eine Fülle von Spott-, Schimpf-, Schmäh- und Hetzreden gibt, die man heute noch mit Genuß oder Empörung lesen kann, aber kaum eine Lobrede, die nicht abgestanden wirkt. Lob, so scheint es, wird schnell schal, sogar ranzig. Der Spott, der Zorn, der Haß bleiben länger frisch. Liegt das daran, daß sie ihren Adressaten verletzen, während die Lobrede ihn nur streichelt? Dann müßte man das Lob so formulieren, daß es ebenfalls sticht und kratzt. Lieber Paul Parin, ich möchte Dich mit Lob sekkieren. Aber ob mir das gelingt? Was könnte ich über Dich denn sagen, das Du nicht schon weißt!
Blätternd in den Büchern, für deren wissenschaftliche Prosa Du den Sigmund-Freud-Preis erhältst, treffe ich, der ich hier als Dein Leser spreche, ständig auf Sätze oder Passagen, die als Beispiel für Deinen klaren, direkten, gegen alle szientifischen Zwänge, jede geisteswissenschaftliche Mode gefeiten Stil dienen könnten. Das ist schon etwas Seltenes heutzutage. Aber ich halte es, dem Augenschein zum Trotz, immer noch für eine Selbstverständlichkeit, die nicht ausdrücklich gerühmt werden muß. Im übrigen ist die rationale Diktion nicht Dein letztes Wort. Dein Leser blättert weiter und stößt beispielsweise auf den Satz: »Wir können kaum eine Arbeit ohne die Hilfe von Routine, von einigen angepaßten Ritualisierungen leisten...« Ja, nickt er innerlich, so ist es, und gut, daß dieser »Erdenrest, zu tragen peinlich« einmal anerkannt wird in unserer spontaneitätssüchtigen Zeit. Aber dann fällt ihm vielleicht ein, daß Arnold Gehlen eben diesen Rest zum Gipfel des Personseins verklärte, als heroisches Sichverzehren im Ritual, während die Verhaltenstherapie, ganz unheroisch, den nämlichen Rest ihren Patienten ordentlich einbläut, als heilsame Routine gegen Psycholaunen jeglicher Art. Wie, fragt sich jetzt Dein Leser, verhält sich Parin dazu? Der Text fährt ohne phraseologischen Kitt mit einem Fallbeispiel fort:

»Eine Hausfrau, die in analytischer Behandlung steht, kocht dreimal täglich, wäscht ab, kauft ein, kocht und serviert das Essen. Alles ist restlos ritualisiert, läuft wie am Schnürchen. Doch fühlt sie sich erschöpft, hat keine Freude an dieser Arbeit, und die Familie klagt über die ›lieblos‹ zubereiteten Mahlzeiten. Der Hinweis, daß eine ritualisierte Handlung abläuft, die Eigeninitiative erspart und ausschließt, bringt Unordnung in den geordneten Haushalt, ermöglicht es aber der Patientin, ihre Einstellung zu den Mitgliedern ihrer Familie zu revidieren, z.B. zu erleben, daß sie für gar niemanden kochen möchte...«

Man hört hier förmlich eine Tür ins Schloß fallen; Nora geht, und zurück bleibt eine hungrige Familie, günstigstenfalls. Aber ich rede hier nicht über die Wirkung der Psychoanalyse, über die Legitimität dieses Eingriffs in ein Alltagsritual, und auch das Mittel, durch welches dies erreicht wird, das deutende Wort des Therapeuten, soll mir nur als Brücke dienen: Unterscheidet sich die scheinbar magische Wirkung dieses Worts denn grundsätzlich von der scheinbar rationalen Wirkung, die der Bericht des Autors beim Leser zeitigt, indem er dessen inneres Nicken unter der Hand umleitet von der täglichen Routine zu ihrer plötzlichen Aufhebung auf Kosten des häuslichen Friedens, und dies in zehn Zeilen?
Ich rede also von der Kraft des Wortes, der Prosa; ihrer Fähigkeit zu überzeugen. Oder zu überreden, zu überrumpeln? Auf jeden Fall hat, was da geschieht, mit Verführung zu tun. Paul Parin, Du bist ein Verführer! Das zeigt schon dieses ganz einfache Beispiel. In Deinen Aufsätzen, erst recht in den beiden großen ethnopsychoanalytischen Büchern über die Dogon und die Agni gibt es weit komplexere Verführungen, auch ganz offene, ostentative. Ich erwähne nur die wunderbare erste Seite des Agni-Buches »Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst«, die, wenn etwa Lévi-Strauss sie geschrieben hätte, sicher schon in französischen Schulbüchern stünde. Zitiert sei wenigstens der erste Satz:

»Uns kamen sie vor wie die Römer der Spätzeit: stolz auf die verblassende Erinnerung an ihre längst vermoderten und halbvergessenen Krieger, hochmütig herunterblickend von der Höhe einer vergangenen Macht, in deren Schein der Zerfall noch armseliger und schmerzlicher erscheint...«.

Politisch korrekt ist das wohl nicht, und auch hermeneutisch nicht ganz stubenrein. Es ist vielmehr ein Zauber, der den Leser wie durch eine antike Porta ins Agniland lockt. Aber mit welchem Recht, kraft welcher Vollmacht verführst Du Deinen Leser? Im Fall einer Therapie ist die Verführung des Patienten von vornherein vertraglich vereinbart, nach Maßgabe der Methode, die das Vorgehen des Therapeuten bestimmt. Im Falle der Belletristik ist die Verführung durch Konvention geregelt: das Publikum erwartet vom Erzähler, daß er es in mehr oder weniger Fiktive Welten entrückt. Aber der Autor einer wissenschaftlichen Abhandlung – wie rechtfertigt der seine Suggestionsarbeit am Leser?
Du selbst rechtfertigst sie gern durch Deine Rolle als Psychoanalytiker. Doch die Charakterisierung dieser Rolle, die sich wie ein roter Faden durch Deine Schriften zieht – die Analytiker seien »unerbittliche Kritiker der Gesellschaft«, die »mit täglicher subversiver Wühlarbeit« die Sache der unterdrückten Triebwünsche vertreten und die bestehenden Machtverhältnisse attackieren –, das ist offensichtlich ein Idealbild, das Du Deinen Kollegen, die in der Mehrzahl ganz anderes im Schilde führen, listig vorhältst. Im Grunde beschreibt es nur Deine Rolle, nein: Deine Existenz. Und auch die Berufung auf Freud, die sich so mancher anderen Inanspruchnahme des Gründervaters entgegenstellt, ohne je auf Orthodoxie zu pochen, gilt letztlich Deinem eigenen Weg zu Freud und mit ihm in die Ferne.
Du weißt sicher längst, worauf ich hinauswill: auf das Thema Autorität. Es ist das Leitmotiv Deines Denkens. Über Deinen eigenen, radikal antiautoritären Habitus brauche ich kein Wort zu verlieren, jeder Deiner Leser kennt ihn. Und trotzdem: wäre der Ausdruck nicht anders besetzt, würde ich Deine Prosa autoritativ nennen. Ich nenne sie ersatzweise, in Erweiterung eines älteren poetologischen Begriffs, auktorial: auf Auctoritas gegründet. Und ich beglückwünsche uns zu dieser Deiner Auctoritas, die uns daran erinnert hat, daß man Autoritäten nur mit Autorität entgegentreten kann. Zum Beispiel so, wie Du dem westafrikanischen Heiler und Propheten Méledj Edjro entgegentratest.
Diese denkwürdige Begegnung von Prophet und Psychiater, eindringlich beschrieben im Agni-Buch, behauptet sich durchaus neben anderen, berühmteren Gipfelgesprächen, etwa dem zwischen Napoleon und Goethe 1806 in Erfurt oder dem zwischen Cassirer und Heidegger 1929 in Davos oder auch dem zwischen Ernst Bloch und Rudi Dutschke 1968 in Tübingen. Der Gipfel von 1966 im Dorf Akradjo an der Elfenbeinküste unterscheidet sich von den anderen Treffen aber dadurch, daß der afrikanische Prophet inmitten seiner Apostel und umringt von Hunderten von Anhängern seiner messianischen Bewegung auftrat, überdies bewehrt durch rituelle Gebete und Choräle und kanonische Texte, die seine Identität festschrieben, während der Schweizer Seelenarzt allein da stand...
Nein, nicht ganz allein. Ich muß die Gelegenheit nutzen für einen Exkurs. Ihn begleitete Goldy Parin-Matthèy, seine Frau und Kollegin, Kumpanin und Gefährtin durch fast sechs Jahrzehnte. Im April dieses Jahres ist sie gestorben. Wer sie kannte, sieht sie auch weiterhin, auch heute an Deiner Seite, Paul, fröhlich-skeptisch und völlig damit einverstanden, daß Du diesen Preis auch für sie entgegennimmst. Sie und Fritz Morgenthaler, der Freund, haben gemeinsam mit Dir die Forschungsreisen nach Afrika unternommen und die Ethnopsychoanalyse begründet. Aber der uns vorliegende Text der Bücher von Euch dreien zeigt doch Deine Handschrift.
Du stehst also vor dem großen Propheten und forderst ihn zu einem Zweikampf heraus. Seinem Pomp begegnest Du mit Schläue und List. Er soll Dir, damit Du ihn respektieren kannst, offen sagen, was für eine Art Mensch er sei, warum Gott ihn zu seinem Mittler bestellt habe. Du verlangst also von ihm, seine Machtrolle, seine Selbstritualisierung abzulegen – und wirklich, er entblößt sich, berichtet von seiner Revolte gegen den bösen Stiefvater und seiner Identifizierung mit dem guten Gottvater.
Ich muß Dich falsch gelesen haben, wenn aus der Schilderung dieser Szene nicht Dein Vergnügen an dem Machtspiel und an Deinem Triumph über den Rivalen spricht. Auch andere Stellen Deines Werkes zeigen, daß Du Konkurrenzsituationen eher suchst als meidest. Wenn ich nun Deine Frage an den afrikanischen Rivalen auf Dich zurückwende, also wissen will, wodurch Du für so viele Jüngere zwar nicht zum Heiler und Propheten, aber zu einer Instanz geworden bist, dann finde ich in Deinen Büchern Hinweise genug. Auch bei Dir stand am Anfang eine Revolte gegen die väterliche Autorität. Entscheidender war aber sicher die politische Schule der dreißiger und vierziger Jahre, deren Lehren gerade in den Neunzigern wieder aktuell geworden sind: man wandte sich an Dich, wenn man Rat suchte wegen der Schrecknisse im ehemaligen Jugoslawien oder wegen der Wiederkehr der Vergangenheit in der Schweiz.
In der großen autobiographischen Erzählung »Eine Sonnenuhr für beide Hemisphären«, in der Du den schäbigen Mantel der Zeitgeschichte mit buntem Seemannsgarn ein bißchen flickst, sagst Du in bezug auf das Jahr 1933 (Du warst damals siebzehn):

»Bei jungen Leuten war es damals an der Tagesordnung, allen möglichen Lügen zu glauben, sich der Faszination der Reden irgendwelcher Führer hinzugeben... Ich hatte gemeint, ich selbst sei gegen jeden derartigen Zauber immun...«.

Der Zauber, dem Du damals erlagst, kam aber nicht von einem großen Führer oder Lehrer, nur von einem zwielichtigen Seemann, der Geschichten erzählte. Und gegen diese Art der Verzauberung, Verführung bist Du zum Glück bis heute nicht immun, sei’s passiv als Leser, sei’s aktiv als Autor – seit zwölf Jahren vor allem letzteres. Du erzählst uns Geschichten, die sich eng an Deine Erfahrungen halten, solche aus der Jugend in Slowenien oder der Zeit als Arzt bei den jugoslawischen Partisanen und solche von Deinen Reisen nach Afrika und anderswohin. Aber Deine Geschichten lösen sich immer wieder von Deinen Erfahrungen, um gleichsam in einer Falte der Realität mit den Ellbogen der Phantasie ein wenig Platz zu schaffen für das, was hätte sein können: ein bißchen Glück. Dieses uchronische Was-hätte-sein-können nährt sich von Deinem utopischen Was-sein-könnte, an dem Du unerschütterlich festhältst, stellvertretend für uns skeptische Nachgeborene, die von den utopischen Aufbrüchen unseres Jahrhunderts fast nur die Zusammenbrüche mitbekamen.
Und diese Utopie: ist sie für Dich nicht das, was für den afrikanischen Propheten sein Gott ist, also der Inbegriff dessen, was die Menschen sich wünschen, sofern sie bei Sinnen sind? Da dieser mundane »Gott«, Deine Utopie, der Dogmen und Rituale nicht bedarf, ersparst Du uns, Deinem Publikum, jede Devotion. Deine Auctoritas ist nicht die des Propheten, sondern die des Autors, der als Forscher das reale Unglück ergründet und als Erzähler das mögliche Glück beschwört, und manchmal beides zugleich. Dann klingt das Zuschlagen der Tür wie eine Verheißung.

Ich gratuliere der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zu ihrem Preisträger und uns allen dazu, daß es Dich, Paul Parin, gibt.