Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Odo Marquard

Philosoph
Geboren 26.2.1928
Gestorben 9.5.2015
Mitglied seit 1995

Odo Marquard, dem es in seinen Schriften gelungen ist, schwierige Gedanken so anmutig auszudrücken, daß der Leser das Fürchten verlernt...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Vizepräsident Herbert Heckmann (geschäftsführend)
Vizepräsidenten Ludwig Harig, Eva Zeller, Beisitzer Beda Allemann, Geno Hartlaub, Hans Paeschke, Lea Ritter-Santini, Bernhard Zeller, Ernst Zinn, Ehrenpräsidenten Dolf Sternberger, Bruno Snell

Skeptiker

Sehr zu verehrende offizielle Respektspersonen!
Meine sehr verehrten Damen, werte Herren!
Vor allem habe ich aus Neigung die Pflicht, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für die Zuerkennung des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa 1984 zu danken, den ich wenig – nur ein wenig – verdient habe, so daß er mir als Glück zugefallen ist. Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Leistungen. Dank ist eine Form dessen, was – dieserhalb – für uns immer unvermeidlich ist: eine Form der Einwilligung in das Zufällige.
Ich revanchiere mich – Revanche heißt Rache – hier durch einige Bemerkungen über die Skeptiker, zu denen ich gehöre, also dadurch, daß ich Farbe bekenne: Tarnfarbe. Ich bin als Profi das, was ich auch als Amateur wäre: ich bin Philosoph. Es trifft zu, daß nicht nur der Philosoph der Welt, sondern auch die Welt dem Philosophen manche Nuß zu knacken gibt: daraus folgt nicht, daß der Philosoph ein Nußknacker ist; denn – in nuce – er hat es nicht mit Nüssen zu tun, sondern mit dem Geist, dem Nous: Philosophen sind Nous-Knacker. Das jedenfalls gilt für jene Sorte von Philosophen, bei denen es am wenigsten feststeht, ob sie wirklich zu den Philosophen gehören. Ich meine justament die Skeptiker.
Sextus Empiricus hat die Philosophen eingeteilt in die, die gefunden zu haben glauben (Dogmatiker), die, die nicht finden zu können behaupten (akademische Skeptiker), und die, die noch suchen (pyrrhonische Skeptiker). Bei den Skeptikern gibt es also zwei Fraktionen, und man kann an die falsche Fraktion geraten: an die Vertreter der – spieltriebhaft unentwegt alles bezweifelnden – akademischen Skepsis. Wenn man dieser Fraktion argumentativ den Garaus macht, bleibt immer noch die andere übrig, die bei weitem zähere, die es – z.B. – als erfrischende Konditionsspritze empfindet, von Zeit zu Zeit widerlegt zu werden; denn sie versteht die Skepsis als tugendhafte Mitte zwischen zwei Lastern: dem absoluten Wissen und dem absoluten Nichtwissen. Von ihr spreche ich hier: von den Skeptikern der pyrrhonischen Skepsis, mithin – versteht sich – auch von den Moralisten und von weiten Teilen der verspäteten Moralistik der verspäteten Nation: vom Historismus also und von den Skeptikern der hermeneutischen Schule. Ihre Skepsis – meine ich – hat mindestens drei besondere Kennzeichen.
Erstens: Skepsis ist der Sinn für Gewaltenteilung. Der skeptische Zweifel ist – wie das Wort Zweifel verrät, das mit der »zwei« auch die Vielheit enthält – jenes (schulmäßig »isosthenes diaphonia« genannte) Verfahren, zwei gegensätzliche Überzeugungen aufeinanderprallen und dadurch beide sosehr an Kraft einbüßen zu lassen, daß der Einzelne – divide et fuge! – als lachender oder weinender Dritter von ihnen freikommt in die Distanz, die je eigene Individualität. Es müssen nicht nur zwei, es können auch mehrere Überzeugungen einander in Schach halten, und nicht nur Überzeugungen, sondern auch ganz andere – einander balancierende, kompensierende – Realitätsgrößen, um diese Freiheitswirkung zu erreichen. Denn der Zweifel ist ein spezieller Fall der Gewaltenteilung, auf die es dem Skeptiker generell ankommt: auf die Teilung jeder Alleingewalt in Gewalten, die Teilung der Geschichte in Geschichten, die Teilung der sozialen und ökonomischen Macht in Mächte, die Teilung der Philosophie in Philosophien, und so fort. Montesquieus politische Gewaltenteilungslehre – die in skeptisch-moralistischer Tradition steht – hat nur eine besondere Region dieses Phänomens beleuchtet, das der Skeptiker allgemein schätzt: die Freiheitswirkung der generellen – gewaltenteiligen – Buntheit der Lebenswirklichkeit.
Zweitens: Skepsis ist Usualismus, der Sinn fürs Usuelle, für die Unvermeidlichkeit der Üblichkeiten. Denn – das macht die Skepsis geltend – für absolute Orientierungen (für die absolut richtige Einrichtung des absolut richtigen Lebens, die auf absoluter Wahrheitsfindung beruht) leben wir nicht lange genug: unser Tod ist stets schneller als diese absolute Orientierung. Darum bleiben wir unvermeidlich überwiegend – ich betone: nicht nur, aber überwiegend – das, was wir schon waren: also unsere Vergangenheit, zu der das Übliche gehört, das, das gilt, weil es schon galt. Unser Leben ist zu kurz, um uns aus dem Üblichen – den vorhandenen Sitten, Gewohnheiten, Traditionen – ins Absolute oder sonstwohin beliebig weit davonzumachen. Die Skepsis wird zur Moralistik, indem sie diese Unvermeidlichkeit der Üblichkeiten – der mores – in Rechnung stellt: große oder gar absolute Sprünge sind nicht menschlich.
Drittens: Skepsis ist – ebendarum – die Bereitschaft zur eigenen Kontingenz. Das hat nichts mit Beliebigkeitslust zu tun. Der aus der christlichen Schöpfungstheologie kommende Endlichkeitsbegriff des Kontingenten (Zufälligen) meint zwar »das, was auch anders sein könnte«. Doch es ist – wenn man es nicht von Gott, sondern (menschlicher) vom Menschen her sieht – doppelter Art. Entweder ist das Zufällige »das, was auch anders sein könnte« und durch uns änderbar ist (zum Beispiel diese Rede: ich konnte sie so oder anders halten): also das Beliebigkeitszufällige. Oder das Zufällige ist »das, was auch anders sein könnte« und gerade nicht oder nur wenig durch uns änderbar ist (als negationsresistenter Schicksalsschlag: z.B. geboren zu sein): also das Schicksalszufällige. Der Skeptiker nun meint: in unserem Leben sind die Schicksalszufälle untilgbar prägend; zu ihnen gehören auch unsere Üblichkeiten, auf die wir angewiesen sind: denn wir regeln unser Leben überwiegend nicht selber, schon gar nicht absolut. Daraus eben folgt: wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle – unsere Schicksalszufälle – als unsere Leistungen. Ich sage nicht: wir sind nur unsere Zufälle. Ich sage einzig: wir sind nicht nur unsere Leistungen, sondern auch unsere Zufälle, unsere Schicksalszufälle. Und ich füge nur noch außerdem hinzu: wir sind stets mehr unsere Zufälle – unsere Schicksalszufälle – als unsere Leistungen. Darum müssen wir das Zufällige leiden können; denn Leben mit dem Zufälligen: das ist keine mißlungene Absolutheit, sondern unsere geschichtliche Normalität.
Zu den Schicksalszufällen gehört – in meinem eigenen Leben – nicht nur dieses: daß es mich gibt und gerade jetzt gibt, wo eine freundliche Akademie Sigmund-Freud-Preise für wissenschaftliche Prosa zuerkennt. Und zu meinen Schicksalszufällen gehört auch nicht nur dieses: daß ich direkt nach dem Krieg zur Philosophie kam und wohl darum – durch Perennierung meines Erschreckens und indem ich die Irritierung zur Position machte – gerade zur Skepsis. Sondern es gehört dazu auch dieses: daß ich-irgendwann früh im Studium – im Bücherschrank meiner Tante zufällig auf Freuds »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« stieß, zufällig in jenem Semester, in dem – durch seine Ästhetikvorlesung – mein philosophischer Lehrer Joachim Ritter mich für seine Art zu denken einnahm (wie sich herausstellen sollte: einigermaßen lebenslänglich). Ich war damals erstaunt über die Ähnlichkeit einiger Grundmuster des psychoanalytischen Konzepts und seiner Philosophie, die doch, im weitesten Sinn, aus dem deutschen Idealismus herkam, und ich fragte mich: woran liegt das? Zur Beantwortung dieser Frage habe ich – damals war Freud hierzulande in der Philosophie noch kaum ein Thema – meine Habilitationsschrift über die Psychoanalyse als Aggregatzustand des deutschen Idealismus geschrieben, die dann ein freundlicher Zufall davor bewahrte, gedruckt zu werden. So bin ich denn (und nur darum erwähne ich das hier) dem Namenspatron des mir zuerkannten Preises, Sigmund Freud, überdurchschnittlich verpflichtet: nicht zwar als Patient seiner Schüler (mir schien das Leben auch ohne dies schon schwer genug), wohl aber als Theoretiker und Transzendentalbelletrist. Das war ein lebenslenkender Lebenszufall, den ich weder ändern kann noch will, sondern in den ich einwillige.
Es gibt manche Formen der Einwilligung in das Zufällige. Die »Grenzreaktionen« Lachen und Weinen gehören ebenso dazu wie jene Grenzreaktion, die die Vernunft ist: der Verzicht auf die Anstrengung, dumm zu bleiben. Auch der Dank – sagte ich zu Anfang – ist eine Einwilligung in das Zufällige, und zwar – das wollte ich unterstreichen, indem ich der Erblichkeit entsprach, hier die Dankrede zu halten – auch die Einwilligung in jenes glückhaft Zufällige, das für mich dieser Preis ist. Ich danke Ihnen.