Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Kurt Flasch

Philosoph
Geboren 12.3.1930
Mitglied seit 1995

... dessen Sprache nicht nur klar und knapp, sondern von solchem Witz und solcher Luzidität ist, daß sie das Schönste, wozu Historie und Philosophie instandsetzen können, vermittelt: die Heiterkeit des Erkennens.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Christian Meier
Vizepräsidenten Peter Hamm, Ilma Rakusa, Klaus Reichert, Beisitzer Harald Hartung, Peter von Matt, Uwe Pörksen, Lea Ritter-Santini

Annas Graben

Es war an einem Herbstabend vor vielleicht 20 Jahren. Ich kam, müde von der langen Reise, in Mailand an; mein Freund Luigi und seine Frau Anna hatten mich eingeladen und empfingen mich mit der gewohnten Herzlichkeit. Aber irgendeine Verlegenheit ließ sich nicht verkennen, und bald kamen sie mit der Sprache heraus: Luigi mußte noch am selben Abend, in irgendeiner Erbangelegenheit, nach Rom, und Anna hatte gerade die Profession gewechselt, sie war nicht mehr Schauspielerin, sondern sie war Lokalreporterin des Corriere della Sera geworden, Abteilung: Theater und Kultur, und sie hatte Dienst. Es sah alles danach aus, als sollte ich den Abend allein in der Wohnung verbringen. Dies schien mir die unitalienischste aller Lösungen, und ich fragte, ob sie mich nicht zu ihren nächtlichen Streifzügen durch Mailand mitnehmen könnte. Das hatte sie sich gedacht und zeigte mir die zwei Freikarten für die Scala: Es gab Mussorgskijs Boris Godunow.
Ich kämpfte mit dem Schlaf und erinnere mich nur noch an ein blutrotes Bühnenbild, an rauschhaft-düstere Töne, an ein teils philorussisches, teils eurokommunistisches, aber allemal elegantes Publikum. Doch die Oper war nur der Anfang von Annas Nachtarbeit; es folgte ein später Empfang für Andrzej Wajda mit lebhaften, italienisch-polnischen Debatten, die mich endlich wach rüttelten. Danach raste sie in ihrem Cinquecento zurück zum Redaktionsbüro, Via Solferino. Als es dort einmal eine Pause gab, fragte Anna: »Sag mir doch mal genau, womit du dich beschäftigst.« Ich: «Mich interessiert, was die Leute früher gedacht haben. Besonders in der langen Zeit, so zwischen 400 und 1600. Ich mache Geschichte der Philosophie.« «Ich weiß«, sagte sie, »ihr Deutschen seid ja besonders gründlich und studiert natürlich in der Philosophie das Zwischenstück zwischen Altertum und Neuzeit.« »Nein«, erwiderte ich, »das ist bei uns seltener als bei euch in Italien. An den meisten Universitäten machen sie einen großen Sprung; sie hüpfen von Aristoteles zu Descartes. Das sind fast 2000 Jahre, aber sie tun so, als sei nichts gewesen, außer vielleicht Theologie.« Anna fiel aus allen Wolken: »Was, ihr Deutschen? Ihr fangt an mit Platon und Aristoteles, und es geht erst wieder weiter mit Descartes? Und dazwischen liegt so ein Graben!« Und bei diesem Wort »so ein Graben« machte sie eine ausholende Armbewegung, wie nur eine italienische Schauspielerin sie machen kann. Sie benannte den Graben nicht nur; sie stellte ihn dar. Ich selbst stand neu-verdutzt vor dem Mittelalterloch der gründlichen Deutschen. Ich versuchte, ein paar Einschränkungen vorzubringen; Gelegentlich würden Plotin und Augustin studiert, katholische Professoren beschäftigten sich mit Thomas von Aquino; ich sei natürlich nicht der einzige usw., aber Anna blieb enttäuscht: Die Deutschen haben da wohl einen Graben.
Hatte Anna unrecht? Zwei sprachliche Barrieren – die zum Lateinischen und die zum Mittelhochdeutschen – trennen uns stärker vom Mittelalter als unsere südlichen Nachbarn. Gewiß überleben bei uns einige mittelalterliche Figuren, Mythen und Institutionen:
Die Universität, die Struktur älterer Städte; Uta von Naumburg und der Bamberger Reiter wurden präsent gesetzt, weil sie sich national-pädagogisch instrumentalisieren ließen, wie die mittelalterlichen Kaiser, die Staufer und sogar Karl der Große. Daneben läuft die religiös-ästhetisierende Mittelalterrezeption, Zisterzienserbücher überschwemmen den Buchmarkt. Ich rede nicht von der fachlichen Forschung. Sie ist zwar so modenunabhängig nicht, wie sie sich oft wähnt; sie anerkannte spät, aber schließlich doch neue historiographische Konzepte; die Städtearchäologie, die Alltagsforschung und die Frauengeschichte gewinnen Boden gegenüber der älteren, an Nation, Institution und Verfassung orientierten Geschichtsschreibung. Und doch: Was ist auch nur aus der älteren deutschen Literatur irgend lebendig? Wie abgeschlagen steht Walther von der Vogelweide neben Dante, Fischart neben Rabelais. Die Nibelungen, Isolde und Tristan existieren bei uns nur dank neo-romantischer Reprisen.
Vereinzelt gibt es Rückgriffe auf Meister Eckart und geradezu schamlose Annäherungen an Hildegard von Bingen. Aber das Gesamtergebnis bleibt: Weder die ältere Dichtung und schon gar nicht die intellektuelle Gesamtbewegung von Johannes Eriugena zu Erasmus mit ihrer großen Zahl oft ungedruckter lateinischer Texte haben bei uns öffentliche Stimme, trotz Ernst Robert Curtius. Alles was nicht neoromantisch, bismarcknational oder konfessionell verwertbar war, blieb im dunkeln. Hegel, wenn er in seinen philosophiegeschichtlichen Vorlesungen auf die Philosophie im Mittelalter zu sprechen kam, begnügte sich mit trockenen Bemerkungen der folgenden Art: »Albert hat sehr viel geschrieben, und wir haben davon noch 21 Folianten übrig.« In Annas »Graben« liegen ungeheure Textmassen; wer hinabsteigt, tritt auf unübersichtliches Gelände. Hegel entschuldigt den Ekel, sich dem auszusetzen, und sagt: »Es ist nun keinem Menschen zuzumuten, daß er diese Philosophie des Mittelalters aus Autopsie kenne, da sie ebenso umfassend als dürftig, schrecklich geschrieben und voluminös ist«.
Nun, diese Autopsie habe ich mir zugemutet, nicht mit Restaurationsabsicht, sondern aus Neugierde und Entdeckerlust, zuweilen bestärkt durch wohlbegrünten Überdruß am 20. Jahrhundert. Vor allem aber, weil Leitideen, Wissenskonzepte, Wertungen und Alltagsgewißheiten geschichtlich von weit her kommen. Wer die Denkgeschichte mit Descartes beginnen läßt, kann sie schwerlich wahrnehmen und von sich distanzieren.
Aus Grabenarbeit, Gegenwartserfahrung und Reflexion über diesen Kontrast ergab sich die Schreibart. Wer Unbetretenes betritt, findet keinen Trampelpfad; er hat für die Bücher, die ihm in die Hand fallen, keinen Lektürekanon. Er weiß nicht, ob er einen neuen philosophischen Klassiker liest oder ein Schulbuch. Strukturen sind erst schreibend zu erproben, forschend zu erfinden. Aus dem Bewußtsein, in Annas Graben nicht zu leben, dorthin nicht zurückzuwollen, aber mit Interesse, mit Sinn für Größe, aber auch für deren kontingente Bedingungen von außerhalb zurückzuschauen, daraus entstand ein Stil der Distanz, nicht der Identifikation, nicht der Anpreisung, als hätten mittelalterliche Denker etwas gewußt, was heute das Abendland, das Solidaritätsprinzip oder sonst etwas Schönes retten könnte. Andererseits war und bleibt klarzustellen: Ohne die mittelalterliche Denkarbeit, ohne den jahrhundertelangen Schulkram auch, wäre Europa nicht die Einheit, die es doch ist.
Es ging nicht ohne das Salz der Polemik. Lessing wurde zum Patron, in Sachen Erudition und des Stils; er sanktionierte die Bibliothekswut und lehrte das Zugleich von präziser Präsentation und heiterem Tadeln. Ich danke der Vorsehung, daß es den Hauptpastor Goetze gab, denn dadurch werde ich leichter mit den Nebenpastoren fertig, die sich für ihre Posten qualifizieren, indem sie töricht gegen Flasch polemisieren.
Es wird gar viel gepfuscht. Das fängt schon damit an: Viele glauben zu wissen, was Mittelalter und was Moderne heißt; ich schlage ihnen vor, dreißig Jahre lang die Wörter »Mittelalter«, »Moderne« und »Epoche« nicht zu gebrauchen. Es schadet nichts, wenn dabei »Postmoderne« und »Epochenschwelle« verlorengehen. Der Verlust der Ordnungsschemata würde aufgewogen durch neues Sehen. Aber die Deutschen haben nicht gehört, als Goethe ihnen empfahl, sie möchten dreißig Jahre lang das Wort »Gemüt« nicht gebrauchen, noch weniger werden sie auf ihre Epochenbilder verzichten. Am Wort »Mittelalter« hängen tiefe Gefühle, Frustrationen an der farblos-kalten Gegenwart, deutschnationale Mißverständnisse der Kaiserzeit bis hin zum Unternehmen Barbarossa, dann kam die Ästhetisierung für Ausstellungszwecke: Mittelalterliches als ornamenta ecclesiae.
Gewiß hat sich das Feld gelockert; seit Umberto Eco gibt es einen nicht-ideologischen Mittelalter-Boom. Aber wenige wissen, und niemand spricht es aus: Die Erforschung des mittelalterlichen philosophischen Denkens unterliegt heute bei uns einer strikten administrativen Konfessionalisierung. Alle oder so gut wie alle Lehrstühle, die sich in der Bundesrepublik mit der Philosophie des Mittelalters befassen, sind Konkordatslehrstühle, das heißt ihre Inhaber bedürfen, dank des Hitler-Konkordats und seiner Nachfolgeverträge, des Placets des zuständigen Bischofs. Wer auch nur nominell protestantisch, geschweige denn sonstwas oder gar, wie sie sagen, nichts ist, hat de facto keine Chance, an der Universität die Philosophie des Mittelalters zu erklären; die traditionell protestantischen Universitäten wiederum sparen meist das ganze Arbeitsgebiet aus oder suchen seit Karl Ullmann 1841 immer noch nach Reformatoren vor der Reformation. Daraus ergibt sich ein apartes Mittelalter zum Gebrauch der Überlieferungsfetischisten, der Goldgrundsucher und der bischöflichen Priesterseminare.
Die Gründe, sich mit der älteren Denkgeschichte zu befassen, habe ich anderswo entwickelt. Argumente und Materialien gegen die Re-Klerikalisierung des Mittelalters habe ich kontrollierbar ausgebreitet. Heute lade ich Sie nur ein zu einem kleinen Gedankenspiel:
Stellen Sie sich vor, Sie besuchten mich zu Hause und fänden im Zettelmeer meines Schreibtisches die Transkription eines mittelalterlichen Traktates über den Regenbogen, was schon vorgekommen ist. In dem Werk von 100 Druckseiten würden 20 Seiten fehlen und Sie sollten vermuten, was dort gestanden haben könnte. Würden Sie nicht zu der Annahme neigen, der Verfasser, ein Mönch der Zeit um 1310, hätte dort, wenn schon nicht auf den erhaltenen Seiten, von der religiösen Symbolik des Regenbogens gesprochen?
Wenn ja, dann haben Sie aus einer Epochenvorstellung Fakten herausgeklaubt. Wenn ja, dann sind Sie in die Mittelalterfalle gegangen. Der Traktat ist vollständig erhalten; er enthält kein Wort von der Symbolik des Regenbogens, sondern eine extrem nüchterne Analyse der Bewegung des Lichtstrahls im einzelnen Tropfen des Regenbogens: Eintritt, Reflexion, Fraktion werden untersucht im Anschluß an arabische Optiker. Dem Verfasser war es wichtig, daß wir in Gläsern und am taubenetzten Grashalm kleine Regenbogen studieren und selbst herstellen können. Er glaubte den Regenbogen erklären zu können, weil er ihn machen konnte. Geisteswissenschaftliche Bilder vom symbolischen, lichtmetaphysischen, ganzheitlichen, einheitlichen, religiösen, christlichen Mittelalter zerbrechen an einem solchen Faktum.
Wer über die Zeit von 400 bis 1500 etwas Triftiges sagen will, muß erst in den Graben, jahrelang, jahrzehntelang. Und er muß aus der Erfahrung der Gegenwart, des wirklichen Lebens der Gegenwart, ihrer Literatur, ihrer Philosophie, ihrer Wissenschaft, in unserer Sprache und mit unseren Kategorien, ohne Adaption ans Heute, erzählen, was er gefunden hat. Das ist eine diffizile, eine prekäre Angelegenheit. Ob mir das gelungen ist? Ich neige zum Zweifeln, doch verbietet mir der Respekt vor der gebündelten Weisheit dieser Akademie, darin zu verharren. Ich entnehme der Verleihung des Sigmund-Freud-Preises und höre aus der Laudatio von Michael Stolleis, der auf einem ähnlich immensen Gebiet quellennah historisch geforscht und als Autor in unserer Gegenwart angekommen ist, daß es ein wenig danach aussieht. Die Deutsche Akademie ermuntert mich bei dem Versuch, aus Grubenfahrten etwas halbwegs Verständliches, etwas Lessingähnliches und der Sprache Sigmund Freuds nicht ganz Unwürdiges herauszubringen.

Ich danke dem Präsidium dieser Akademie, ich danke Ihnen, lieber Michael Stolleis. Ich danke Ihnen allen.