STATUT
§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.
Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.
§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.
§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.
§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.
Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.
Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021
Ethnologe und Religionswissenschaftler
Geboren 24.11.1948
Stets lebt seine Sprache von der Vermittlung zwischen Reflexion und Anschauung. In seinem Werk lernen die Europäer durch die Anerkennung der indigenen Kulturen, wer sie selbst sind.
Jurymitglieder
Ingo Schulze, Rita Franceschini, Olga Martynova, Lothar Müller, Lukas Bärfuss, Maja Haderlap, Felicitas Hoppe, Joachim Kalka, Daniela Strigl, Michael Walter
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Aleida Assmann, meine Damen und Herren,
Ahnenverehrung ist bekanntlich weltweit verbreitet. Ihr Studium in Raum und Zeit steht auch am Anfang der von mir vertretenen akademischen Disziplin, wie es die großen Werke der Religionsethnologen des 19. Jahrhunderts bezeugen. Was man erforscht, färbt bekanntlich auch auf einen selbst ab und dementsprechend groß war meine Freude, als ich sah, in was für eine imposante Ahnengalerie ich mit dem Preis Eintritt erhalten habe. Sie reicht von Hannah Arendt über Ernst Bloch, Hans-Georg Gadamer, Hans Blumenberg und andere mehr bis zu meinem verehrten akademischen Lehrer, dem vor vier Jahren verstorbenen Religionsphilosophen Klaus Heinrich, der 2002 auf diesem Podium stand, übrigens auch an Allerseelen, dem Ahnengedenktag der katholischen Kirche. Die Zahl der Philosophen, Literatur- und Kunstwissenschaftlern überwiegt unter den Preisträgerinnen und Preisträgern. Ethnologisch Forschende aber habe ich unter ihnen nur einen gefunden, nämlich Paul Parin, der zwar durch seine Feldforschungen in Afrika bekannt wurde, sich selbst aber in erster Linie als Psychoanalytiker verstand.
Ich danke der Akademie daher nicht nur für die mir zugedachte Auszeichnung, sondern auch für die Anerkennung, die mit ihr das von mir vertretene Fach erfährt. Die Ethnologie kann sie zur Zeit in der Tat gut brauchen, ist sie doch gerade im deutschsprachigen Raum durch die Restitutions- und Dekolonialisierungsdebatte so in Misskredit geraten, dass inzwischen nahezu alle ihre Museen ihre alten Namen abgelegt haben und sich heute „Museum der Weltkulturen“, „Museum der Kulturen und Künste der Welt“ oder schlicht und einfach nur noch „Weltmuseum“ nennen. Dass die Entstehung des Fachs das europäische Kolonialsystem zur Voraussetzung hatte, steht außer Frage, und es lässt sich auch die Schuld nicht leugnen, die viele seiner Vertreter auf sich genommen haben, als es gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit „Rassenkunde“ und biologischer Anthropologie ein unseliges Bündnis einging, um in seinen Museen Schädelstätten des damaligen Ungeists anzulegen, die ihre Direktorinnen heute nur allzu gerne wieder los wären. Doch sollte man auch nicht übersehen, wie kritisch einige seiner Gründungsväter Kolonialismus und Rassismus gegenüberstanden. Zu ihnen zählt etwa Adolf Bastian, auf den die Sammlungen des Berliner Völkerkundemuseums zurückgehen. Gibt es ein schärferes Verdikt gegen den Kolonialismus als seine wiederholte Rede von der „Feuersbrunst der Zivilisation“, die wie ein Sturm über die „Naturvölker“ hinwegfegte und das kulturelle Erbe der Menschheit zerstörte, das vor dem endgültigen Untergang zu bewahren er als seine Aufgabe ansah? Einer der schärfsten Kritiker des Rassenwahns seiner Zeit war Franz Boas, der im westfälischen Minden geborene und in die USA emigrierte Begründer der dortigen Cultural Anthropology. Auf ihn geht der Kulturrelativismus zurück mit seiner Doktrin von der Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit einer jeden Kultur. Nicht nur seine Schülerinnen, sondern auch die Vertreter der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen britischen Sozialanthropologie machten die Probe aufs Exempel, nahmen am Alltagsleben fremder Kulturen teil und versuchten, sich deren Denkformen und Weltsichten anzuverwandeln. Als sie zurückkehrten, war ihnen die eigene Kultur fremd geworden, die sie gleichwohl um das Wissen bereicherten, das sie während ihrer langen Forschungen erworben hatten. Dabei war ihnen durchaus bewusst, dass dieses Wissen in den Dienst der Kolonialverwaltungen gestellt wurde, um die Unterdrückung und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung noch effizienter zu gestalten. Wie Muley Hassan, der „Mohr“ in Schillers Verschwörung des Fiesco zu Genua, befanden sich die Ethnologen der spätkolonialen Ära in einem Loyalitätskonflikt. Zu welcher Seite sollten sie halten? Wie sollten sie ihre Schuldigkeit tun, ohne selbst schuldig zu werden?
Aus diesem Dilemma konnte das Fach sich erst befreien, als die ehemaligen Kolonien nach dem Zweiten Weltkrieg Zug um Zug ihre Unabhängigkeit erlangten und in den westlichen Metropolen zeitgleich die antiautoritäre Bewegung der 68er-Generation entstand. Für deren Mitglieder, die gegen die verkrusteten Verhältnisse der eigenen Gesellschaft ankämpften, wurden die in der späten Kolonialzeit gesammelten ethnographischen Daten zu einer Quelle der Inspiration. An den „Gesellschaften ohne Staat“, die britische Sozialanthropologen im Auftrag ihrer Regierungen erforscht hatten, entzündeten sich ihre anarchistischen Phantasien. Margaret Meads dreibändige Abhandlungen über „Jugend und Sexualität in primitiven Gesellschaften“ durften in keiner Wohngemeinschaft fehlen, boten sie doch Leitfäden für die neuen experimentellen Formen des Zusammenseins. Die Drogenszene begeisterte sich für Carlos Castañedas Gespräche mit dem Yaqui-Schamanen Don Juan. Und Hans Peter Duerrs 1978 erschienenes Buch „Traumzeit“, in dem er anhand der Visionen, Tranceerlebnisse und Jenseitsreisen von Schamanen das westliche Realitätsverständnis grundsätzlich in Frage stellte, wurde mit einer Gesamtauflage von 1,4 Millionen Exemplaren ein Weltbestseller.
In den folgenden Jahren avancierte die Ethnologie zum neuen universitären Modefach. Gab es vor 1968 bei uns nur ein halbes Dutzend Ethnologie-Professuren, so hat sich deren Zahl bis heute in etwa versiebenfacht. Auch wenn sich der Boom in den letzten Jahren abschwächte, ist nicht zu übersehen, wie stark das Fach auf neuere gesellschaftliche Entwicklungen eingewirkt und sie entscheidend mitgeprägt hat. Die ökologische Wende ist hier ebenso zu nennen wie der Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit, die Offenheit gegenüber fremden Religionen und Weltsichten, die Rehabilitierung ehemals diskriminierter gesellschaftlicher Minderheiten, die positive Bewertung von Diversität in allen Bereichen des öffentlichen Lebens und nicht zuletzt die Wertschätzung, die heute indigenen Völkern und ihrem nachhaltigen Umgang mit den immer knapper werdenden Ressourcen unseres Planeten entgegengebracht wird. Aus dem kolonialen Schuld- und Verstrickungszusammenhang hervorgegangen, schien die Ethnologie endlich ihre Schuldigkeit getan zu haben. In gewisser Weise wurde sie dann aber selbst zum Opfer der Geister, die sie rief, als ihr im Zug der Verschärfung der postkolonialen Debatte ihre koloniale Vergangenheit erneut vorgehalten wurde, obgleich sie sich schon längst von ihr distanziert hatte.
Einer der zentralen Vorwürfe, die dem Fach von seinen Kritikern gemacht wurden, bezieht sich auf das sogenannte „Othering“. Nicht anders als die Vertreter der klassischen Orientwissenschaften hätten auch Ethnologen die von ihnen erforschten Völker „fremder“ gemacht als sie tatsächlich sind. Die Betonung der Unterschiede zur eigenen Kultur, an deren Lebensweise und deren Normen sie gemessen wurden, habe dabei ihrer Herabsetzung gedient. Tatsächlich aber ist die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden die Voraussetzung eines jeden verstehenden Zugangs. Insbesondere Historiker haben schon lange erkannt, dass „Fremdheit“, wie es Barbara Stolberg-Rilinger in ihrer Dankrede zum Sigmund-Freud-Preis des Jahres 2017 formulierte , „kein Hindernis für das Verstehen, sondern sein notwendiger Ausgangspunkt (ist)“ und „das Für-Selbstverständlich-Halten der größte Feind der Erkenntnis“. Gerade in diesem Bereich ist es schon vor einiger Zeit zu einer signifikanten Wende gekommen, die man auch als einen Akt des „Self-Othering“ oder der „Selbst-Alterisierung“ bezeichnen kann. Es waren vor allem die früher als „Primitive“ abgewerteten und in evolutionistischen Konstruktionen mit den „frühen Menschen“ gleichgesetzten Indigenen, die stolz auf ihr „Anderssein“ verwiesen, ihre alten Traditionen pflegten und anhand ethnographischer Aufzeichnungen rekonstruierten, was ihnen im Verlauf ihrer aufgezwungenen Akkulturation verloren gegangen war. In Abgrenzung von den jeweils dominierenden Mehrheitsgesellschaften, wachen sie heute sorgsam darüber, dass deren Mitglieder sich nicht aneignen, was sie als ihr genuines und unveräußerliches Kulturerbe ansehen. Die Herausbildung geschlossener Wir-Gruppen, die ihr Gemeinschaftsgefühl aus ihrem Anderssein beziehen, beschränkt sich heute allerdings nicht mehr auf die indigenen Bevölkerungsgruppen früherer Kolonien. Als ein ubiquitäres Phänomen lässt sie sich auch in den westlichen Metropolen beobachten. Ermöglicht worden ist dies durch das Internet und die sozialen Medien. Menschen, die sich noch nie zuvor persönlich begegnet sind, können sich mit ihrer Hilfe zu imaginären Face-to-Face-Gruppen zusammenzuschließen. Nicht von ungefähr hat der Erfinder des erfolgreichsten Netzwerks dieser Art seinem Unternehmen denn auch den Namen „Facebook“ gegeben. Die Kritiker dieser neueren Entwicklung sprechen von „Blasen“, andere sehen wiederum einen neuen „Tribalismus“ am Werk. Auch hier bleibt ethnologische Expertise also gefragt.
Mehr noch gilt dies für andere, parallel verlaufende Erscheinungsformen, die eine Wiederkehr vormoderner, ja archaischer Denkformen darstellen. Dazu gehört der Glaube an die Macht des gesprochenen Wortes, wie er in einer wachsenden Zahl von Worttabus zum Ausdruck kommt. Begründet werden diese Tabuisierungen mit dem diskriminierenden Beiklang der entsprechenden Wörter und den emotionalen Verletzungen, die die Menschen erleiden, die man mit ihnen stigmatisiert. Doch dahinter verbirgt sich noch mehr. Sigmund Freud hat dazu in seiner kleinen Schrift „Über die Verneinung“ von 1925 einen wichtigen Hinweis gegeben. Die Verneinung bezeichnet er darin als die erste und einfachste Möglichkeit, Verdrängtes zur Oberfläche gelangen zu lassen. Es ließe sich daher fragen, ob dem heute allgegenwärtigen Rassismusvorwurf nicht ein ähnlicher psychischer Mechanismus zugrunde liegt. Jemand wegen des Gebrauchs an sich harmloser Wörter Rassismus zu unterstellen wäre demzufolge ein Vorgang der Abwehr eigener negativer Gefühle, indem man sie auf andere projiziert. Es handelt sich mithin nach der bekannten psychoanalytischen Formel um eine Wiederkehr des Verdrängten im Verdrängenden selbst. Insofern zeigt sich gerade an solchen Tabubildungen, wie tiefverwurzelt der Rassismus immer noch ist.Und es zeigt sich daran auch, wie naiv der Glaube ist, mit der Bannung einzelner Wörter seien auch die Vorurteile beseitigt, für die sie stehen.
Mit der schnell voranschreitenden technologischen Entwicklung ist auch eine andere alte Denkform wiedergekehrt, nämlich der Animismus, mit dem in der Ethnologie seit Edward B. Tylor der Glaube an die Beseeltheit aller natürlichen Dinge bezeichnet wird, von denen man annimmt, dass sie mit einer eigenen Handlungsmacht ausgestattet seien. Weit mehr noch als auf alles Belebte wie etwa den Wald und die Bäume, bezieht sich diese Vorstellung heute auch auf von Menschen hergestellte Gegenstände und Apparaturen: die Fetische der Gegenwart. Wir erteilen unseren Haushaltsgegenständen Befehle, unterhalten uns mit Siri wie mit einer guten Freundin, deren Ratschläge wir gern befolgen, und vertrauen ebenso darauf, dass unser Auto uns nach einer kurzen mündlichen Anweisung sicher von einem Ort zum anderen bringt. Oder wir tauchen mit einer 3D-Brille in eine Schattenwelt ein, in der Geister körperliche Gestalt annehmen und die virtuelle Realität von der wirklichen nicht mehr zu unterscheiden ist. Die Resurrektion magischer Vorstellungskomplexe und der mit ihnen verbundenen ritualisierten Verhaltensweisen begegnet uns heute allenthalben. Max Webers These zufolge hat der Geist des Protestantismus wesentlich dazu beigetragen, der Aufklärung und der Vernunft den Weg zu bahnen und die Welt zu entzaubern. Was wir dagegen gegenwärtig beobachten können, sind die Vorboten einer Wiederverzauberung der Welt, die sich dabei genau der Mittel und Werkzeuge bedient, die in der Endphase ihrer Entzauberung hervorgebracht worden sind. Medientechnik, Digitalisierung und künstliche Intelligenz gaukeln uns eine Welt vor, die voller Wunder zu sein scheint. In dem Maße, in dem die Fragmentierung der Gesellschaft in monadische Wir-Gruppen voranschreitet und in dem in der rückläufigen Moderne das einst Fremde zum Eigenen geworden ist, wird auch die Ethnologie gefragt bleiben. Sie wird ihre Schuldigkeit weiterhin tun. Sie muss nicht gehen, denn ihr in über fast zwei Jahrhunderte angehäuftes Wissen ist auch heute noch von Bedeutung. Es kann dabei helfen, kommende Konflikte zu bewältigen. Und es wird auch dabei helfen, im neuen Gespensterwald die Fackel der Aufklärung nicht erlöschen zu lassen.
Ich möchte nicht schließen, ohne meiner Frau Marita zu danken, die mir mit ihrem Zuspruch und ihren Ermunterungen immer zur Seite stand. Kein Text verließ unser Haus, den sie nicht vorher kritisch kommentiert und redigiert hätte. Ohne sie stände ich heute nicht hier.