Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Josef H. Reichholf

Zoologe
Geboren 17.4.1945

... einem Schriftsteller, der durch Beschreibung und Analyse an die großen Beispiele naturhistorischer Darstellung in unserer Literatur anknüpft und für seine Liebe zu allen Arten des Lebens eine so frische wie lebhafte Sprache gefunden hat.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Klaus Reichert
Vizepräsidenten Peter Hamm, Uwe Pörksen, Ilma Rakusa, Beisitzer Friedrich Christian Delius, Harald Hartung, Joachim Kalka, Peter von Matt, Gustav Seibt, Werner Spies

Laudatio von Anita Albus
Schriftstellerin und Malerin, geboren 1942

Aussichten auf eine Wende zum Guten

Werte Festgemeinde! Niemand wundert sich, dass es in unserem Lande noch Wälder gibt, obwohl ihr Ende für das ausgehende zweite Jahrtausend angekündigt war. In den Augen unserer Nachbarn war le Waldsterben ein typischer Spleen der doryphores, der Kartoffelkäfer, wie uns mancher Eingeborene der France profonde immer noch nennt. Die Umwandlung des Weideviehs in Kannibalen hat dem Jesaja-Wort »Alles Fleisch ist wie Gras« einen teuflischen Sinn verliehen, aber auch das Entsetzen über die rasenden Rinder hat sich verbraucht. Der Klimawandel ist in aller Munde. Was es mit diesem, mit der Landschaftsverödung und dem Artensterben durch die moderne Landwirtschaft auf sich hat, lehren uns Werke, die wir der flinken Feder von Josef Helmut Reichholf verdanken.
Der grassierenden Menetekelei ist seine Einstellung allemal entgegengesetzt. Sapere aude ist seine Devise, und weil auch das Heillose in dieser Welt nichts Starres ist, zitiert er gern das Heraklit zugeschriebene »Alles fließt«. Während Möchtegernpropheten unsere Ängste schüren, versucht er unverdrossen, in das Gestrüpp der Tatsachen und Pseudotatsachen, das so undurchdringlich geworden ist wie die Vegetation unserer überdüngten Fluren, Schneisen zu schlagen, durch die sich Aussichten auf eine Wende zum Guten ergeben. Über die Faunaverarmung auf dem Land tröstet er uns mit der Artenvielfalt, die sich in den grünen Bereichen der Großstädte ausbreitet. Auf die Schilderung der Verödung durch die Agrarwirtschaft lässt er die frohe Botschaft folgen, dass in München auf jeden Einwohner ein Vogel kommt – was mancher Münchenspötter schon immer vermutet hatte.
Wie man den Leser packt, hat der Vogel- und Insektenforscher vielleicht dem Ameisenlöwen Myrmeleon formicarius abgeschaut, der seine Beute in einem selbstgeschaffenen Sandtrichter fängt. Während dieser jedoch seinem Ameisenopfer, das ihm in die Zange rutscht, ein tödliches Gift einflößt, impft uns Reichholf am Ende immer mit Zuversicht. In seiner Philippika gegen den Ökokolonialismus Europas, Der Tanz um das goldene Kalb, entsteht durch die anschauliche Schilderung der Serengeti der Sandtrichter oder Savannensog, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Von der wohlausgewogenen Welt aus Großtieren und Grasland in Ostafrika führt uns der Autor in einen Höllenkreis, den er »Serengeti II« nennt: das niedersächsische Vechta mit seinen in Ställe gepferchten Rindermassen. Wir sind schon fast am Grunde des Trichters angelangt, wenn wir von der fernen Hölle lesen, die in Brasilien auch zugunsten der maßlosen Viehwirtschaft von Vechta brennt:

»Dann liegt bleierne bis düster gelbliche Luft über dem Zentrum des Kontinents. Und über dem zweitgrößten tropischen Feuchtgebiet der Erde, dem Pantanal in Mato Grosso und den angrenzenden Bereichen des Gran Chaco von Bolivien, Paraguay und Nordargentinien, taumeln im Juli und August, der Trockenzeit des Südwinters, unablässig grauweiße Ascheflocken wie geisterhaftes Schneegestöber aus dem wolkenlosen Himmel nieder. Wochenlang landen die Flugzeuge im Inneren des Kontinents nur nachts, weil am Tag die Positionslichter der Start- und Landebahnen nicht zu sehen sind.«

Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit Reichholf über das brennende Brasilien flog. Durch den während der BSE-Krise dann noch angestiegenen Bedarf europäischer Rinder an Sojafutter dehnten sich die Brandrodungen des Regenwaldes auf drei Millionen Hektar aus, eine Fläche halb so groß wie Bayern. Seither brannten jährlich eineinhalb bis zweieinhalb Millionen Hektar ab. Die Auswirkungen der Großbrände auf das globale Klima und die Vielfalt der seltenen Arten des Regenwaldes sind verheerend. Tag für Tag sterben an die fünfhundert Arten aus, deren Gestalt und Eigenart niemand kennt.
Woher nimmt ein Lebensforscher angesichts solch vernichtender Befunde die Kraft, am Menschen nicht irre zu werden und die Hoffnung nicht aufzugeben? Seine Liebe zur Natur, zu allen Lebewesen, muss sehr tief verwurzelt sein. Ihren Ursprung hat sie in den Auen der niederbayerischen Innstauseen, die Reichholf in seiner Kindheit barfuß durchstreifte. Sobald er des Schreibens mächtig war, hielt er seine Beobachtungen der Wasservögel in einem Merkheft fest. Nach dem Studium der Biologie, Chemie, Geographie und Tropenmedizin, das er mit einer Dissertation über Wasserschmetterlinge abschloss, ermöglichte ihm 1970 ein Stipendium, ein Jahr in Brasilien dem Studium der Tropennatur zu widmen. Als Forscher nach Südamerika zu reisen, hatte er sich, angeregt durch ein Buch über Humboldt, schon in seiner Jugend erträumt.
In über dreißig Büchern hat er in den dreißig Jahren seiner Forscher-, Naturschützer- und Lehrtätigkeit seine Ansichten der Natur dargelegt. Romantischer Naturtümelei hält er entgegen, dass der Frage, welche Natur die richtige sei, ein falsches Naturverständnis zugrunde liege. Aber welche Auffassung der lebenden Natur ist die richtige? Im Mai 1860 hat der große Zoologe und Embryologe Karl Ernst von Baer dieser Frage zur Eröffnung der Russischen Entomologischen Gesellschaft einen denkwürdigen Vortrag gewidmet. Um zu zeigen, wie unterschiedlich selbst begründete Urteile ausfallen können und welcher Dimension unser geistiges Erbe angehört, dachte er sich folgendes Gleichnis aus:

»Es hört jemand in einem Walde ein Horn blasen und je nachdem er ein lebhaftes Allegro oder ein schmelzendes Adagio gehört hat, wird er vielleicht auf einen munteren Jäger oder auf einen zartsinnigen Musiker schließen, die er aber nicht sehen kann. [...] Indem er die Melodie in sich zu wiederholen strebt, tritt zu ihm eine Milbe, die in dem Horne saß, als man anfing zu blasen, ›Was Melodie, was Adagio! Dummes Zeug!‹ spricht sie. ›Ich habe es wohl gefühlt. Ich hatte eine stille und dunkle Höhle gefunden, in der ich ruhig saß, als sie plötzlich von einem schrecklichen Erdbeben erschüttert wurde, erregt durch einen entsetzlichen Sturmwind, der mich aus der Höhle herausschleuderte.‹ ›Torheit!‹ ruft eine gelehrte Spinne, die in physicis gute Studien gemacht und den Doktorhut cum laude sich erworben hat, ›Torheit! Ich saß auf dem Horne und fühlte deutlich, daß es heftig vibrierte, bald in rascheren, bald in langsameren Schwingungen, und Ihr wißt, daß ich mich auf Vibrationen verstehe, fühle ich doch die leiseste Berührung meines Netzes, wenn ich tief in meinem Observationssacke sitze.‹ Sie hat Recht, die gelehrte Spinne, in ihren subtilen physikalischen Beobachtungen«, erläutert von Baer, »auch die Milbe hat richtig beobachtet; nur hatten beide kein Verständnis für die Melodie gehabt.«

Die Milbe bleibt Milbe, die Spinne Spinne, nur Homo sapiens ist im doppelten Wortsinn ein fragwürdiges Wesen. Der Entdecker des Säugetiereies nahm die Lebensprozesse, die sich aus dem Keim in der Zeit entfalten, als Melodien wahr, eine Auffassung, die hundert Jahre später im Werk des Zoologen Adolf Portmann noch lebendig ist. Nun fügt es sich vortrefflich, dass Portmann, dem die Akademie als bislang einzigem Biologen 1965 den Sigmund-Freud-Preis verlieh, zu den Denkern gehört, deren Schriften für Reichholf prägend waren. In einer immer eintöniger werdenden Welt mit drei Milliarden Menschen sah Portmann es als unsere dringlichste Aufgabe an, den Sinn für Maß und Grenzen zu schärfen. In nur vier Jahrzehnten ist die Anzahl der Erdenbürger auf über sechseinhalb Milliarden angewachsen. Vielleicht wird uns erst der Mangel lehren, maßzuhalten. »Wo (in der Natur) Mangel herrscht, bewältigt Vielfalt die Armut, und es ist der Mangel, der die Vielfalt auch aufrechterhält«, mahnt Reichholf im Tanz um das goldene Kalb. »Artenvielfalt ist nicht Luxus, nicht einfach verzichtbar, sondern die gespeicherte Fähigkeit, mit den Widrigkeiten des Lebens fertig zu werden.« ln defectu valor lautet ein Wahlspruch aus dem 16. Jahrhundert, einer Zeit voller Schrecken, die dennoch eine Fülle von Werken hervorgebracht hat, von denen wir noch heute zehren. In der Malerei entstand das Genre der Waldlandschaft. Damals junge Bäume könnten heute noch leben, wie uns ein schmales Büchlein mit dem schönen Titel Waldzeiten lehrt. Darin ist Reichholfs klare Prosa mit den japanischen Gedichten seiner Frau Miki Sakamoto getrüffelt. Es stellt ein westöstliches Waldlob dar, eine Art Libretto zu den Melodien, die in der Entfaltung des Lebens von Baum und Blume, Pilz und Moos, Hirschkäfer und Zitronenfalter, Specht und Reh von der Schönheit und Sinnfälligkeit des nicht von uns Geschaffenen zeugen, das unsere Ehrfurcht erheischt.
Wir gratulieren Josef Helmut Reichholf zum Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.