Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Jan Assmann

Ägyptologe
Geboren 7.7.1938

In der Verbindung von Archäologie und Gedächtnisgeschichte haben Jan Assmanns Arbeiten der kulturwissenschaftlichen Forschung neue Grundlagen eröffnet ...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Heinrich Detering
Vizepräsidenten Aris Fioretos, Wolfgang Klein, Gustav Seibt, Beisitzer László Földényi, Michael Hagner, Felicitas Hoppe, Per Øhrgaard, Ilma Rakusa, Nike Wagner

Laudatio von Antonio Loprieno
Ägyptologe, geboren 1955

Versetzte Bilder

Aufklärende Deutungshoheit
Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich in der zugleich beneidenswerten und ungemütlichen Situation befinde, eine Laudatio auf Jan Assmann halten zu dürfen. Beneidenswert: Wer kann das Privileg verkennen, das in der Möglichkeit der öffentlichen Reflexion über einen der grandiosen Protagonisten der intellektuellen Gegenwart besteht? Ungemütlich: Ob als Amtspflicht im Rahmen einer wissenschaftspolitischen Funktion oder als Antwort auf einen masochistischen Vorschlag des Jubilars selbst habe ich schon meine Bewunderung für den nahestehenden Kollegen und unnahbaren Wegweiser in Worte kleiden dürfen. Aber egal ob aus kontextuell naheliegenden oder aus freundschaftlich motivierten Gründen verbinde ich mit der Perspektive einer erneuten Beschäftigung mit Jan Assmanns Œuvre eine Mischung aus Dankbarkeit und Überforderung, die an Ruth Benedicts Polarität von »Scham« und »Schuld« erinnert: die wissenschaftliche Dankbarkeit, die Schuld einer ungenügenden Auseinandersetzung mit der rasanten Wissensproduktion des Jubilars nicht auf mich nehmen zu dürfen; die intellektuelle Überforderung, mich der Scham einer Wiederholung des schon Gesagten nicht aussetzen zu wollen.
Jan Assmann ist ein einmaliger Wissenschaftler, der sich aus der Enzyklopädie einer speziellen Kulturwissenschaft wie der Ägyptologie emanzipiert und diese Disziplin selbst ins Zentrum einer emanzipatorischen Entwicklung gerückt hat. Ein europäischer Autor an der Schnittstelle von Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft, dessen monumentales Œuvre in Jahrzehnten der Hegemonie angelsächsischer cultural studies aufklärende Deutungshoheit auf globaler Ebene gewonnen hat.

Jan Assmann als Wissenschaftler von Bildern
Anfangen möchte ich mit einer Eigenschaft, die sich in Jan Assmanns Lebenswerk wie ein roter Faden durchzieht. Man könnte nämlich Assmanns Œuvre als eine sich kontinuierlich erneuernde Beschäftigung mit dem Bild auffassen – Bild nicht im ästhetischen Sinne als Gegenstand der Kunstwissenschaft und auch nicht im technischen Sinne als Gegenstand der Bildwissenschaft, sondern Bild im epistemischen Sinne als jener kognitive Rahmen, der uns einen unmittelbaren Zugang – proximal information nennen das die Neurowissenschaftler – zu einem Sachverhalt verschafft: vom polytheistischen Weltbild des spätbronzezeitlichen Ägyptens über das monotheistische Gottesbild des frühen Israels zum theistischen Sinnbild der europäischen Aufklärung. Bild als etwas, was durchaus von Worten (im Falle Jan Assmanns von mächtigen Worten) begleitet wird, was jedoch die den Worten eingeschriebene Distanz vom Referenten – ihre Tendenz zur distal information – aufzuheben vermag. Bild als Wissensfragment, das nicht nur den referentiellen Verstand, sondern auch die emotionale Vernunft mobilisiert.
Diese Verbildlichung wissenschaftlicher Sachverhalte gelingt Jan Assmann auf dreifache Art. Zum einen ist er ein Meister in der Erzeugung bildhafter Assoziationen. Ein kursorischer Blick auf die von ihm behandelten kulturwissenschaftlichen Dichotomien zeigt es: im textwissenschaftlichen Bereich das Spannungsfeld zwischen Verbrauchs- und Wiedergebrauchstexten – jenen, die wegen ihres gedächtnisstiftenden Charakters als kulturell normativ gelten; im religionswissenschaftlichen Bereich jenes zwischen Theologie und Frömmigkeit als zwei unterschiedlichen, aber oft parallelen Phänomenen der Religion im weiteren Sinne; ferner Weisheit vs. Mysterium als die zwei Pole griechischer, und später westlicher, Rezeption der ägyptischen Religion. Und die Auflistung ließe sich fortsetzen.
Zum Zweiten gilt Assmanns primäre Aufmerksamkeit dem Bild als »Monument«, als Gegenstand der Erinnerung und der Ermahnung, angefangen von seiner Reflexion über die ägyptische Monumentalität, den auf materielle wie symbolische Dauerhaftigkeit ausgerichteten Charakter kultureller Produktion. Als Paradebeispiel gilt hier die »Steinarchitektur«, die in Büchern wie Stein und Zeit. Mensch und Gesellschaft im Alten Ägypten (1991) bis Steinzeit und Sternzeit. Altägyptische Zeitkonzepte (2011) reflektiert wurde. Als ein in diesem Sinne »monumentales Bild« darf auch Assmanns Verständnis von kulturellem Gedächtnis nicht nur in Ägypten, sondern auch in den anderen antiken Hochkulturen wie Israel oder Griechenland gelesen werden, und vor allem das vielleicht wichtigste der von ihm untersuchten historischen Bilder, zu dessen Verständnis er mehr als alle anderen beigetragen hat. Ich beziehe mich auf die Gedächtnisspur der »mosaischen Unterscheidung«, jene dichte Abfolge verehrter und verbotener Erinnerungen, die auf gewundene Weise die europäische Aufklärung mit der vorderorientalischen Späten Bronzezeit verbinden. In diese Gedächtnisspur reiht sich Jan Assmann selbst ein, indem er in Werken wie Moses der Ägypter (1998), Erinnertes Ägypten (2006) oder Religio duplex (2010) auf ikonoklastische Art zwei Tabus an der Schnittstelle von Intellekt und Emotionen bricht: das Tabu des unanfechtbaren ethischen Primats des Monotheismus und das Tabu einer nur der Entzifferung der Hieroglyphen entspringenden Kenntnis des Alten Ägypten. Weder – hat uns Jan Assmann gelehrt – kann sich der Monotheismus rühmen, religiöse Toleranz gestiftet zu haben, noch ist das Bild des Alten Ägypten, das in der westlichen Kultur gepflegt wird, ein rein auf wissenschaftlicher Rekonstruktion basierendes Konstrukt.
Der dritte Bereich seiner immensen Produktion, der Assmann als Wissenschaftler von Bildern (wenn auch nicht als Bildwissenschaftler) qualifiziert, ist die Beschäftigung mit der Rolle der Rezeption, des zeitlich versetzten Bildes, in der Schaffung kultureller Tradition. Solche versetzten Bilder sind sinnstiftende Erzählungen, die sowohl die altägyptische Kultur selbst (Ägypten. Eine Sinngeschichte, 1996) als auch deren Rezeption von der Antike (Ägyptische Geheimnisse, 2004) bis zur modernen Literatur (Thomas Mann und Ägypten, 2006) kennzeichnen. Assmann ist sich der narrativen Orientierung seiner Wissenschaft bewusst, wenn er (wie in Religio duplex, 2010) hervorhebt, seine sei eher eine Ideen- als eine Religionsgeschichte. Seine Bilder beinhalten deshalb immer ein fiktives Moment, was ihn etwa für einen Preis wie den heutigen besonders qualifiziert. Denn nur ein gewisser Grad an Simulation, das heißt letzten Endes an Fiktion, kann Vertrauen stiften, und zwar auch in der Wissenschaft. Wissen können wir nämlich nur, wenn wir an das uns Vermittelte auch glauben können.

Jan Assmann als Archäologe
Als Erstes ist aber Jan Assmann der berühmteste Vertreter der Ägyptologie auf globaler Ebene. Er studierte Ägyptologie, Klassische Archäologie und Griechisch in München, Heidelberg, Paris und Göttingen. Diese disziplinäre Verbindung ist wichtig, um seinen weiteren wissenschaftlichen Weg an der Schnittstelle von archäologischem, philologischem und kulturwissenschaftlichem Zugang zu verstehen. Auf das 1967 erworbene Doktorat mit einer philologischen Dissertation über die liturgischen Lieder an den Sonnengott folgte ein vierjähriger Aufenthalt in Ägypten, dann 1971 die Habilitation über das Grab eines Beamten der Spätzeit. Diese ungewöhnliche Vertrautheit mit dem dokumentarischen Befund, die er während seiner gesamten Karriere durch Leitung von und Beteiligung an Feldarbeit in den thebanischen Elitegräbern der späten Bronzezeit und der Eisenzeit kontinuierlich ausbaute, ist ein oft unterschätztes Merkmal von Assmanns Wissenschaft: Während die meisten Kulturwissenschaftler ›Theoretiker‹ mit beschränkter Erfahrung im Umgang mit der primären Dokumentation sind, ist Jan Assmann stets ein Leser materieller Quellen geblieben. Nach einigen Jahren Assistenz bei Eberhard Otto, einem außerhalb der Ägyptologie wenig bekannten, aber innovativen Interpreten der ägyptischen Literatur und Religion, wurde Jan Assmann 1976 als dessen Nachfolger auf den Heidelberger ägyptologischen Lehrstuhl berufen, den er bis zur Emeritierung im Jahr 2003 besetzte. Seitdem hat er eine Honorarprofessur an der Universität Konstanz inne, an der seine Frau Aleida Assmann als Professorin für Englische und Allgemeine Literaturwissenschaft amtiert. Die zwei verbindet nicht nur eine kinderreiche Familie, sondern ein dialektischer intellektueller Weg mit unzähligen gemeinsam verfassten fundamentalen Werken in der wissenschaftlichen Reihe mit dem programmatischen Titel »Archäologie der literarischen Kommunikation« (Schrift und Gedächtnis, 1983; Kanon und Zensur, 1987; Weisheit, 1991; die drei Teile von Schleier und Schwelle, 1997–1999; Aufmerksamkeiten, 2001; Hieroglyphen, 2003; Verwandlungen, 2006; Vollkommenheit, 2010; Schweigen, 2013).
Von seinen methodischen Prämissen her ist also Jan Assmann ein Archäologe im umfassenden Sinne, ein Spurensicherer, ob nun die von ihm gesicherten Spuren die materielle, die literarische oder die religiöse Kultur betreffen. Schon seine erste wissenschaftliche Produktion – jene der 1970er und 1980er Jahre – weist die für ihn typische Kombination von archäologischer, philologischer und literaturwissenschaftlicher Kompetenz auf; ich denke hier an Ägyptische Hymnen und Gebete (1975) und Zeit und Ewigkeit im Alten Ägypten (1975), und vor allem Re und Amun. Die Krise des polytheistischen Weltbilds im Ägypten der 18.–20. Dynastie (1983) sowie Ägypten: Theologie und Frömmigkeit einer frühen Hochkultur (1984) – das erste Buch, das schon jenen bildlichen, ›erzählerischen‹ Charakter aufweist, der für sein späteres kulturwissenschaftliches Opus so kennzeichnend ist. Assmanns archäologischer Duktus betrifft somit primär die Sicherung diskursiver Spuren: Spuren des theologischen Diskurses, der die Dialektik des Menschen mit dem Gott an der Schnittstelle von Sichtbarem und Unsichtbarem reflektiert, und Spuren des literarischen Diskurses, der in formativem, sinnstiftendem Modus die Dialektik des Menschen mit der eigenen Kultur thematisiert. Eine seiner ersten Arbeiten, Der literarische Text im alten Ägypten. Versuch einer Begriffsbestimmung (1974), ist eines der am meisten zitierten Papers in der Geschichte der Ägyptologie. Die von Assmann aufgeworfene Frage nach den distinktiven Merkmalen eines ägyptischen literarischen Diskurses kennzeichnete die Entwicklung der ägyptischen Literaturwissenschaft in den darauffolgenden zwanzig Jahren. Und die schon erwähnte Reihe »Archäologie der literarischen Kommunikation« wurde zur Brutstätte der Kulturwissenschaft und prägte deren intellektuelle Entfaltung insbesondere im deutschsprachigen Raum. Zur gleichen Zeit wurden in Werken wie Das kulturelle Gedächtnis (1992) und Moses der Ägypter (1998) Ägyptens kulturelle Texte in ihren historischen Entstehungskontext eingebunden, wodurch sich ein diskursiver Kreis (mit Israel bzw. der Spätantike) schließen konnte, der in der akademischen Ägyptologie seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr bestand und im 20. Jahrhundert in einem gewissen Sinne sogar tabuisiert worden war.

Jan Assmann als post-Ägyptologe
Durch Assmanns narrative Einbindung der altägyptischen Kultur in eine Sequenz historischer Erfahrungen wird die »archäologische« Phase seines Wirkens durch jene ersetzt, die ich (und hier gestehe ich ein Selbstplagiat) als »post-ägyptologisch« bezeichnet habe. Das Adjektiv »post-ägyptologisch« möchte ich sowohl im Sinne von transdisziplinär als auch im Sinne von postmodern verstanden wissen. Denn der Fokus auf die Rezeption von Ägyptens kulturellem Gedächtnis erzeugt eine Form von Überwindung des disziplinären Diskurses, bei der fundamentale Aspekte der altägyptischen Kultur, etwa die Vorstellung mehr oder weniger stabiler, nur durch Echnatons Reform in Frage gestellter religiöser Auffassungen, im Lichte dieser These neu auszulegen sind. Das kulturelle Gedächtnis wird somit zum Schlüssel für das Verständnis auch anderer Mittelmeerkulturen wie Israel oder Griechenland. Auf der anderen Seite setzte sich der post-ägyptologische Assmann kritisch mit heuristischen Mustern auseinander, die in der strukturalistischen Phase unserer Wissenschaftsgeschichte in Vergessenheit geraten waren, insbesondere mit Karl Jaspers’ prägnanter These einer den großen eisenzeitlichen Kulturen gemeinsamen »Achsenzeit«, die am Anfang der Geschichte eines individuellen Bewusstseins stehe (Maat. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten, 1990). Ähnliches gilt für Michail Bakhtins »Chronotop«, das Assmann auf die Darstellung der ägyptischen Geschichte im Lichte ihrer kulturspezifischen Zeitvorstellungen anwendet (Ägypten. Eine Sinngeschichte, 1996). Seit dem Anfang dieses Jahrhunderts hat sich Assmann post-ägyptologisch mit der Thematik des Todes auseinandergesetzt, »Ursprung und Mitte der Kultur«, wie er in seinem Tod und Jenseits im Alten Ägypten (2001) sagt, ein Thema, dem er auch in vergleichender Hinsicht nachgeht (Der Tod als Thema der Kulturtheorie, 2000).
Diese Arbeiten bezeichne ich deshalb als post-ägyptologisch, weil sie noch mehr als eine Bereicherung, eine Herausforderung für die Disziplin darstellten. Denn seit ihren ersten Schritten am Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich die Ägyptologie in dialektischer Opposition zur herrschenden Ägyptomanie definiert und als Disziplin verortet. Deshalb hat sie seit ihren Anfängen einen technisch-positivistischen Zugang privilegiert. Große Thesen werden – oft durchaus aus guten Gründen – mit Skepsis beäugelt. Durch die Mobilisierung unterschiedlicher Erklärungsnarrative hat Assmann der fachlichen Kultur ihre Grenzen vor Augen geführt; mit seiner immensen Kenntnis ägyptischer Texte und archäologischer Dokumentation hat er mehr als jeder andere in Vergangenheit oder Gegenwart dem ägyptischen Befund eine paradigmatische Funktion für unser allgemeines Verständnis kultureller Mechanismen zugewiesen. Somit hat dank Jan Assmann die gesamte Ägyptologie einen Grad an theoretischer sophistication erreicht, der unter den Kulturwissenschaften seinesgleichen sucht.

Jan Assmann als Enzyklopädist
Die dritte Phase in der langen Geschichte von Jan Assmanns Wissensproduktion ist jene einer etymologischen Enzyklopädie, das heißt einer Suche nach in sich geschlossenen Erklärungsmodellen für die Entstehung kultureller Paradigmen. Die Verfolgung der kulturellen Spur, die mit der genetischen Information die Eigenschaft teilt, dass man sich ihr nicht entziehen kann, ist einer der Schlüssel zum Verständnis seines Œuvres jenseits ihrer jeweiligen disziplinären Verortung. In diesem Sinne bieten beide Bücher, die er Mozarts Zauberflöte gewidmet hat (Die Zauberflöte. Oper und Mysterium 2005; Die Zauberflöte. Eine Oper mit zwei Gesichtern, 2015), eine solche ›enzyklopädische‹ Analyse dieser Oper, in der nicht nur die musikwissenschaftliche, philologische Sphäre, sondern auch der philosophische und theologische Kontext des Librettos von Schikaneder, einer freimaurerischen Rekonstruktion der ägyptisierenden Mysterien der Spätantike, methodische Beachtung findet. Dabei ist es nötig hervorzuheben, dass sich hinter der Frage des Anschlusses der europäischen Aufklärung an das hellenistische und römische Ägypten eine noch gewichtigere, weil für unsere westliche Kultur aktuellere Auseinandersetzung verbirgt, auf die ich nun eingehen möchte.
Es geht nämlich um eine periodenübergreifende politische Theologie, eine Erforschung des historischen und typologischen Verhältnisses zwischen zwei sehr unterschiedlichen Formen des Zugangs zur Religion, die von einem Merkmal getrennt werden, das Assmann die mosaische Unterscheidung nennt – eine Formel, die Jan Assmann explizit in den philosophischen Diskurs der Postmoderne einbindet. Angefangen von Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur (1998) über Herrschaft und Heil (2000) bis zu späteren Werken (Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus, 2003; Monotheismus und die Sprache der Gewalt, 2006) erkennt Assmann in der biblischen Figur des Moses die Trennlinie zwischen spätbronzezeitlichem Kosmotheismus und eisenzeitlichem Monotheismus. Im ersten Modell, das der ägyptischen, aber auch anderen Religionen im Altertum und in der Gegenwart anhaftet, ist auch die Götterwelt ein Teil der immanenten Schöpfung: Das Heil der Götter hängt ja von jenem der Menschen ab, weil göttliche Macht erst durch den menschlichen Kult gesichert wird. In dieser Form religiöser Erfahrung gehen Menschen in den Krieg für eine Reihe von Gründen und können im Namen von allerlei Ideologien die grausamsten Taten vollziehen, aber nicht aus religiösen Erwägungen. In dieser Kultur kann das religiöse Phänomen an sich grausam, nicht aber diskriminierend sein.
Es ist die mosaische Unterscheidung, lehrt uns Jan Assmann, welche diese neue Dimension nicht nur in die Geschichte der Religionen, sondern in die Geschichte der Religion einführte. Kulturelle Sprünge verlangen einen Preis, und der Preis für den Monotheismus ist eine »Sprache der Gewalt«, die durch die Diskriminierung zwischen wahrem Gott und falschen Götzen gleichsam eine Verneinung fremder religiöser Referenten impliziert – eine Verneinung, die dem kosmotheistischen Weltbild fremd war. Trotz (oder vielleicht sogar wegen) seines emanzipatorischen, aufklärerischen Potentials haftet somit dem Monotheismus der Keim der gewaltsamen Auseinandersetzung an. Auch Assmanns Beschäftigung mit Thomas Manns Ägyptenbild (Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen, 2006) ist eher theologiepolitisch als literaturwissenschaftlich veranlagt, weil Assmann sich insbesondere für die friedliche Koexistenz von Mythos und Monotheismus in Thomas Manns Romanen unter fiktiver Ausblendung der mosaischen Unterscheidung interessiert.
Als mit der mosaischen Unterscheidung die kulturelle Universalie der monotheistischen Sprache der Gewalt erkannt wurde, hob sich in einigen theologischen Kreisen ein Geschrei zum Skandalon. Aber gibt es dreizehn Jahre danach, heute Abend in diesem Saal, noch jemanden, der am aufklärerischen Charakter dieser Erkenntnis zweifelt? Sigmund Freud, in dessen Angedenken der heutige Preis vergeben wird, hatte diese Virulenz des Monotheismus erkannt und ihr in seinem Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) einen phylogenetischen Charakter zugewiesen. Jan Assmann hat Freud korrigiert: Die mosaische Unterscheidung ist nicht unserem Unbewussten, sondern unserem Gedächtnis eingeschrieben. Die Geschichte unserer Welt nach 2001 scheint dem Jubilar Recht zu geben.

Versetzte Bilder
Es ist dies jedoch ein Gedächtnis, das – wie das durch die Rezeption vermittelte im Gegensatz zum originalen Bild – das Prädikat des »versetzten« verdient. Versetzt ist das kulturelle Gedächtnis nicht nur in zeitlicher – das ist das Gedächtnis immer –, sondern auch in räumlicher und in sozialer Hinsicht. Denn wie kaum je in der Geschichte unserer Zivilisation koexistieren (um mit Claude Lévi-Strauss zu sprechen) »kalte« und »heiße« Optionen in unserer täglichen Erfahrung. Einerseits das kalte Ägypten der ägyptophilen und ägyptomanischen Tradition, das Ägypten der Weisen und der Mysterien, das in den periodischen, publikumsmagnetischen Ausstellungen über Tutanchamun oder die Pyramiden seine unveränderte Vitalität unter Beweis stellt; andererseits das heiße Ägypten der Ägyptologie, der archäologischen Spuren und der Papyrusfragmente. Der Philhellenismus war der beste Verbündete der klassischen Philologie und Archäologie in statu nascendi, die Ägyptomanie das bevorzugte Hassobjekt der frühen (und nicht nur der frühen) Ägyptologie. Und weiter: Einerseits das kalte Christentum der Evangelikalen, andererseits der heiße Atheismus der wissenschaftlichen Simulation. Und ja, einerseits der kalte Islam, der uns schreckliche Bilder aus verschiedenen nahen und fernen Gebieten vergegenwärtigt, andererseits der heiße Islam der neu gegründeten Zentren für Islamische Theologie an mehreren namhaften deutschen Universitäten. Somit lässt sich die Dichotomie, die Assmann für die Späte Bronzezeit, die Spätantike und die europäische Aufklärung aufgespürt hat – das ist mir erst nach der Lektüre seines Buches Exodus. Die Revolution der Alten Welt (2015) klargeworden –, sich auf den generellen Zustand unserer postmodernen Kultur übertragen. Ich komme auf den bildlichen und narrativen Charakter von Assmanns Kulturwissenschaft zurück. In seinem monumentalen Œuvre hat er – um es auf eine Formel zu reduzieren – die Rationalität unserer Religion und die Emotionalität unserer Aufklärung beleuchtet. Absichtlich benutze ich das semantisch unscharfe Pronomen der ersten Person Plural, denn wir alle – bilde ich mir ein – verstehen, worauf ich mich beziehe. Was wir zurzeit erleben, ist kein Kulturkampf zwischen Ost und West, obwohl das von vielen behauptet wird, sondern ein Kulturkampf zwischen Aufklärung und Zorn, zwischen differenziertem und pauschalem Denken, zwischen aristokratischer und demagogischer Lektüre sich in der digitalen Welt exponentiell vermehrender Wissensfragmente. Es ist zu befürchten, dass das Bewusstsein der subtilen Verbindung zwischen diesen zwei kulturellen Polen, die Jan Assmann so scharfsinnig für dreitausend Jahre Kulturgeschichte identifiziert hat, nun verlorengehen könnte. Gegen den Verlust einer solchen Gedächtnisspur ist ein Preis wie der heutige ein willkommenes Antidot. Ich bin unbehaglich dankbar, dass ich dabei sein durfte.