Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Hartmut von Hentig

Pädagoge
Geboren 23.9.1925
Mitglied seit 1982

Er tut dies in einer Sprache, die von Skepsis und Zuversicht gleichermaßen geprägt ist.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Hans-Martin Gauger, Ludwig Harig, Helmut Heißenbüttel, Beisitzer Beda Allemann, Günter Busch, Hans Paeschke, Lea Ritter-Santini, Bernhard Zeller, Ernst Zinn, Ehrenpräsidenten Dolf Sternberger, Bruno Snell

Laudatio von Ernst Klett
Publizist, geboren 1911

Ein phantasievoller Realist

Wissenschaftliche Prosa in Deutschland: weithin ein garstig Lied; einer, der sie jahrzehntelang von Berufs wegen an den Mann zu bringen hatte, könnte es singen. Er braucht es nicht, heute, im Gegenteil: er ist gerufen worden, zu rühmen einen eigenwilligen Mann, der uns so reich mit ganz ungarstiger Prosa beschenkt, belehrt, beunruhigt hat, ganz kurz aber auch denen von der Akademie zu danken, vielleicht war es einer ihrer sprachmächtigen Präsidenten, denen eingefallen ist, die Vorbildlichen, die ihrer Sache sprachlich Gewachsenen, den Lesern gegenüber Höflichen durch diesen Preis abzuheben von den sprachträgen Lesermißachtern.
Welcher Mann der Wissenschaft hat sich öffentlich Rechenschaft gegeben über die Grundsätze seines Schreibens? Daß es eigentlich nie geschieht, gibt zu denken. Hier ist es geschehen, von unserem Preisträger, unter der mich nicht recht überzeugenden Überschrift »Fast ein Poet«. Es gibt eine kurze Fassung im Jahrbuch der Akademie, ausführlich steht es in dem Buch Aufgeräumte Erfahrung; es sagt so gut, was über die spezifisch Hentigsche Weise des Schreibens zu sagen ist, daß ich es nicht paraphrasierend wiederholen mag. Nur eines sei angemerkt: enttäuscht wäre, wer hier süffige, mundgerecht aufbereitete Prosa erwartet. Der Leser ist gefordert, diese durchdachten, unmodischen, wohlgefügten Sätze sind dicht, eher zu wenig Luft wird uns gegönnt. In seinen Worten: »Ich opfere ungern die gedrungene, originelle, Aufmerksamkeit fordernde Wendung der auch möglichen ausgefalteten, geläufigen, gar repetierenden Lösung.« Übrigens: Der Buchtitel »Aufgeräumte Erfahrung« ist ebenso gut wie Hentig-typisch. »Erfahrung« ist ein zentraler Begriff in seinem Leben und in seiner Pädagogik, Aufräumen ist laut F.A.Z.-Fragebogen seine Lieblingsbeschäftigung, und, das ist der Pfiff, er hat, davon bin ich überzeugt, dem Wort »aufgeräumt« etwas von seiner übertragenen Bedeutung »vergnügt« mitgeben wollen. Aufgeräumte Erfahrung.
Kurzweiliger als das von ihm gut Gesagte verändert zu wiederholen, dürfte sein, wenn wir nach denen fahnden, die geholfen haben, daß er so schreibt, wie er schreibt. Vier sind es. Als ersten und bei weitem wichtigsten zeige ich Ihnen seinen Vater. Das war ein ganz unglaublicher Mann, dieser Held meiner jungen Jahre, der im Ersten Weltkrieg im Dienst seines Kaisers von Ankara nach Kabul geritten ist, von dort, weil er nicht zurückkonnte, kurzerhand durch ganz Asien, feindeswegen über die furchtbaren Gebirge, Pässe in 6ooo Meter Höhe, alles zu Pferd, Tausende von Kilometern, bis Peking. Der Forscher Sven Hedin sagte, es sei dies die überhaupt größte Leistung in der Geschichte des Abenteuers gewesen. Uns geht an, daß dieser Vater den Säugling Hartmut geraubt hat, in tiefer Nacht aus einem pommerschen Schloß, seiner Frau, gegen die er in Scheidung lebte, entwendet, nach Amerika gebracht. Er hat, Vater und Mutter zugleich, dieses Kind, diesen Jungen aufgezogen, und dies nicht als Abenteurer, sondern als Preuße, der er war, Mann des Dienstes, der Pflicht. Er war – gibt es das bei Freud? – sein eigenes Über-Ich, er war sein eigener Maßstab. Dabei war er nicht eitel, nicht sichtbar hochmütig – solche Schwächen gibt es für einen Perfekten nicht, einen perfekten Perfektionisten, einen verehrungswürdigen Albtraum. Man möge nachlesen, auch diese Erfahrung hat der Sohn aufgeräumt, was dieser sein Kind ständig überfordernde Mann als Erzieher war. Hätte man den Namenspatron dieses Preises befragt, was aus einem Kind mit solcher Biographie geworden sein möchte, seine Antwort wäre ziemlich sicher gewesen: Suizid mit 17. Gefehlt, Herr Professor: sein Leben lang hat der Junge diesen mächtigen Vater verehrt, kritisch später, gewiß, und er, der permanent unter Überdruck stehende Leiter zweier Schulen, Autor, Professor, Lehrer, Berater, Redner, Akademie-Mitglied, hat jeden Abend in Bielefeld diesem Vater bis in dessen 98. Lebensjahr und der Stiefmutter das Abendessen gekocht und die beiden ein Stündchen unterhalten. Dafür gebührt ihm noch einmal ein Sigmund-Freud-Preis, allerdings ein anderer. – Ohne diesen Vater ist der Schriftsteller Hartmut von Hentig so nicht zu denken. Zuchtvoll, geordnet, gegliedert, fast immer sind die Sätze gebaut, spürbar das Streben nach dem Perfekten.
Das ist das Handwerk. Es bedurfte der Meister. Platon. Es sei dahingestellt, wie eigenwillig sein Platon-Bild ist, gewiß ist, daß Platon (und Sokrates) methodisch mächtig auf ihn eingewirkt haben, im dialektischen Spiel, im Hin und Her des Führens zum Zielgedanken – nahe am Dialog, und man möchte diesen Autor ermuntern, es doch einmal mit dem Dialog zu versuchen.
Der nächste ist, wirklich wahr, Rousseau. Gewiß war der Emile für einen Pädagogen seiner Prägung unentbehrlich, aber insgesamt ist es der Aufklärer, der Leidenschaftliche, nicht der Trockene; der an den Menschen Glaubende, der in die Zukunft hinein brennende Verehrer der Vernunft, des Himmelsgeschenkes, das der Mensch nur anzunehmen lernen muß, und ihn das zu lehren ist der Pädagoge da, und das knistert in dieser Prosa, dort wo sie am besten ist.
Aber er ist klug, sonst säße er nicht hier. Platon, Rousseau, da mußte zum Vater noch einer hinzukommen: John Dewey. Dieser Pragmatiker hat unseren Autor spürbar immer wieder auf die Erde geholt. Man kann die Bedeutung des amerikanischen Trainings, dem sich Hartmut von Hentig unterwerfen mußte und gerne unterworfen hat, gar nicht hoch genug einschätzen. Wenn er in seinem Reden und Schreiben so vielen seiner Kollegen und Gegner überlegen ist, so hat das mit der Kontrolle zu tun, die dieser auch als Praktiker bewährte Mann auf sich anwendet. Man wird vergeblich nach Verwaschenem suchen, er ist handfest, redlich. Seine Gegner wollen nie so recht wahrhaben, wie patent vieles ist, das er vorschlägt. Schließlich ist er ja von seinem Lehrstuhl in die Realität der Schule umgestiegen – da vergehen einem die Flausen und man ist froh, seinen John Dewey als Nothelfer zu haben.
Das sind seine Meister. Leicht ist es nicht, gerade mit diesen gleichzeitig umzugehen, aber er kann das. Er hat in sich eingeschmolzen, was ihm gemäß war.
Gediegene, preiswürdige Prosa ist etwas. Wohl uns, wenn einer seine Fähigkeit, gut zu schreiben, für etwas Rechtes einsetzt: Dieser für die Res publica, für eine vitale Demokratie, gegen das irrationale Rechte und Linke, für Geist und Güte, ein Aufklärungsstreiter und Vernunfthoffender, ein phantasievoller Realist, ein Mann, der mit der Sprache als einziger Waffe gegen alle vordergründige Wahrscheinlichkeit für eine Zukunft kämpft, die würdiger ist als alle Vergangenheit und Gegenwart.
Glückwunsch, Lieber.