Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Emil Staiger

Germanist
Geboren 8.2.1908
Gestorben 28.4.1987
Mitglied seit 1950

... für die ungewöhnliche Vereinigung strenger Forschung und meisterhafter Darstellung...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Gerhard Storz
Vizepräsidenten Rudolf Hagelstange, Karl Krolow, Dolf Sternberger, Beisitzer Friedrich Bischoff, Richard Gerlach, Wilhelm Lehmann, Fritz Martini, Otto Rombach, Horst Rüdiger, W. E. Süskind

Homer in deutschen Versen

Über die Kunst des Übersetzens ist schon so viel Geheimnisvolles und Anspruchsvolles geredet worden, daß ich die Sache einmal so nüchtern und das heißt zugleich, so überprüfbar wie möglich darstellen möchte – selbstverständlich, ohne hier Kenntnis der griechischen Sprache vorauszusetzen.
Besinnen wir uns auf die Lage des Übersetzers und seiner Leserschaft. Der Übersetzer schreibt für Leser, welche die fremde Sprache nicht kennen oder doch nicht genügend beherrschen, um an der Lektüre Freude zu finden. Wer nun die fremde Sprache nicht kennt, der stellt zuerst die begreifliche Frage: Ist die Übersetzung richtig? So einfach diese Frage aber klingt, sie kann Verschiedenes meinen. Man will zunächst einmal wissen, ob die Übersetzung fehlerfrei sei. Viele Kritiker, zumal Philologen, also berufliche Kenner der fremden Sprache, kommen nicht über diese Fragestellung hinaus und halten dem Übersetzer triumphierend seine Fehler vor. Dieser wird die Kritik beherzigen und die Fehler bei der ersten Gelegenheit, die sich bietet, tilgen. Zugleich aber wundert er sich darüber, daß seine Leistung damit schon beurteilt oder verurteilt sein soll. Meisterhafte Übersetzungen sind durch erstaunliche Fehler entstellt. Ich nenne Luthers Bibel, die, ihrer deutlichen Mängel ungeachtet, in der Geschichte der deutschen Sprache ein so folgenschweres Ereignis darstellt wie kein anderes Buch. Ich nenne die Sophokleischen Tragödien in Hölderlins Übertragung, die von grammatischen und oft sogar lexikalischen Fehlern wimmelt, mit ihrem versteinernden Klang jedoch »Antigone« und »König Ödipus« zu einer unvergleichlichen Gegenwart heraufbeschwört. Und ich nenne Stefan Georges Dante, in dem sich Entgleisungen finden, die zum allgemeinen Gespött geworden, aber die dem Vorbild adäquate Majestät der Verse nicht auszulöschen imstande sind. Dagegen können fehlerlose Übersetzungen jämmerlich sein und einen Dichter nicht nur allen Glanzes berauben, sondern sogar auf besonders empfindliche Weise fälschen.
Fehler sind zwar zu beklagen. Sie spielen aber nicht die Rolle, die man ihnen meistens zuweist. Schon weil sie sich in der Regel leicht verbessern lassen, kommen sie nicht als Maß, zum mindesten nicht als einziges Maß der Würdigung in Betracht. Man hat auf einige Makel hingewiesen; ob das Bild dem Urbild ähnlich sei, steht noch dahin.
Was kann aber »richtig« sonst noch heißen? Oder, anders ausgedrückt: Was kann hier »Ähnlichkeit« bedeuten? Das läßt sich allgemein nicht sagen. Ich lege darum ein Beispiel vor, die ersten Verse der Odyssee. Sie lauten in einer sogenannten wörtlichen Prosaübertragung, mit möglichster Wahrung der Wortstellung:

Den Mann nenne mir Muse, den vielgewandten, der sehr viel
Umhergetrieben wurde, nachdem er Troias heilige Stadt zerstört hatte.
Vieler Menschen Städte jedoch sah er und ihre Denkart erfuhr er.
Auf dem Meer aber erlitt er viele Schmerzen in seinem Gemüt,
Da er sich mühte um sein Leben und die Heimkehr der Gefährten.
Aber auch so nicht rettete er die Gefährten, obwohl er sich bestrebte.
Denn durch ihre eigenen Freveltaten gingen sie zugrunde,
Die Toren, welche die Rinder des Sonnengottes Hyperion
Aßen. Der jedoch nahm ihnen den Tag der Heimkehr.
Davon, von irgendeinem Punkt aus, Göttin, Tochter des Zeus,
erzähle auch uns.

Zu dieser Version bemerke ich einstweilen nur, daß ich, abgesehen von einigen unscheinbaren Partikeln – »doch«, »wenigstens«, »aber« – mit denen die griechische Sprache verschwenderisch umgeht, jedes Wort übertragen habe, und zwar nach Autenrieth-Kaegis »Schulwörterbuch zu den Homerischen Gedichten«. Selbstverständlich habe ich auch kein einziges Wort hinzugefügt.
Nun schlagen wir die Übersetzung Rudolf Alexander Schröders auf, die 1911 erschienen ist. Unsere Verse lauten dort so:

Sag mir den Mann, o Muse, den vielverschlagnen, den Irrsal
Schlug, nachdem er die Burg der heiligen Troja zerbrochen.
Oerter der Menschen sah er gar viel; und ihre Gedanken
Wußt’ er zumal und trug auf der Ferne der hohen Gewässer
Leid um sein eigenes Los und die Heimkehr seiner Gesellen.
Aber auch so vermocht’ er’s nicht, den Freunden zu helfen;
Denn sie selbst verderbeten sich durch eigene Torheit,
Narren, die, frevelnder Gier, des allüberstrahlenden Phoibos
Heilige Rinder verzehrten: drum starben sie ferne der Heimat.
Dies und anderes künd’ auch uns mit Gunsten, o Göttin!

Der Wohlklang läßt nichts zu wünschen übrig. Im einzelnen aber verwundern wir uns. »Der sehr viel umgetrieben wurde« wird übersetzt »den Irrsal schlug«. Ein unvorbereiteter Leser meint, Odysseus sei wahnsinnig geworden. »Die Burg zerbrochen« für »die Stadt zerstört« mag hingehen; Homer gebraucht für »Stadt« hier nicht das gewöhnliche Wort, und »Burgen zerbrechen« ist im älteren Deutsch noch eine geläufige Wendung. Schröder gewinnt damit also eine nicht unwillkommene Patina. »Oerter der Menschen sah er gar viel«. Das »gar« steht nicht im griechischen Text. »Ihre Gedanken wußt’ er« dürfte ein wenig irreführend sein. »Er erfuhr ihre Denkart« entspricht dem homerischen Ausdruck zweifellos besser. »Auf der Ferne der hohen Gewässer« ist eine poetische Zutat Schröders. Bei Homer ist weder von der »Ferne« noch von den »hohen« die Rede. Es heißt ganz einfach »auf dem Meer«. Auch »Leid um sein Los« ist ungenau. Homer sagt: Er mühte sich um sein Leben«. Dann: nicht durch »Torheit«, sondern durch »Frevel« richten sich die Gefährten zugrunde. Daß sie »frevelnder Gier« die Rinder des Sonnengottes verzehrten, ist wiederum eine Zutat des Übersetzers, es sei denn, er habe den Frevel, den er in dem Vers, der vorangeht, durch »Torheit« ersetzte, hier nachtragen wollen. Homer nennt auch die Rinder nicht »heilig«. Wir hören nur »sie aßen die Rinder«. Statt »der jedoch (nämlich der Sonnengott) nahm ihnen den Tag der Heimkehr« lesen wir in der deutschen Übersetzung: »drum starben sie ferne der Heimat«. Und endlich gar der letzte Vers. Er lautet in unserm Prosatext: »Davon, von irgendeinem Punkt aus, Göttin, Tochter des Zeus, erzähle auch uns«. Bei Schröder: »Dies und anderes künd’ auch uns mit Gunsten, o Göttin!«. »Und anderes« ist bei Homer so wenig zu fiden, wie das seltsame »mit Gunsten«. Dafür fehlt bei Schröder die »Tochter des Zeus« und zumal »von irgendeinem Punkt aus«, was wichtig ist, weil es im voraus die Komposition der Odyssee andeutet, die bekanntlich nicht mit der Zerstörung Troias, sondern mit dem Aufenthalt des Odysseus bei der Nymphe Kalypso beginnt und die früheren Ereignisse in der Erzählung vor dem Phäakenkönig nachträgt.
Dies alles kann man nicht »fehlerhaft« nennen. Schröder verwechselt keine Wörter und konstruiert die Sätze richtig. Er scheut sich aber nicht, mit dem Original willkürlich umzugehen. Warum? Weil der Hexameter, der Verszwang, keine Treue gestattet? Davon wird noch zu reden sein. Oder weil er seine eigene Vorstellung vom Poetischen hat, die sich mit der junonischen Nüchternheit Homers nicht allzugut verträgt? Das läßt sich wohl nicht ganz bestreiten. Schröder war eine impetuose Persönlichkeit und ließ sich leicht von seinem eigenen Schwung hinreißen. Sich einem anderen zu unterwerfen, lag eigentlich nicht in seiner Natur. Doch ist es möglich, treuer zu sein und dennoch Hexameter zu schreiben? Wir greifen zu dem alten Voß, der Übersetzung, die für die deutsche Klassik so große Bedeutung gewonnen hat und später wegen einer gewissen biederen Trockenheit oder idyllischen Behaglichkeit in Mißkredit geraten ist. Voß übersetzt den Eingang so:

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt nach der heiligen Troia Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehen und Sitte gelernt hat,
Und auf dem Meer so viel unnennbare Leiden erduldet,
Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft.
Aber die Freunde rettet’ er nicht, wie sehr er auch strebte;
Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben:
Toren, welche die Rinder des hohen Sonnenbeherrschers
Schlachteten; siehe, der Gott nahm ihnen den Tag der Zurückkunft.
Sage hievon auch uns ein Weniges, Tochter Kronions.

Es läßt sich nicht leugnen, das ist texttreuer. »Der sehr viel umhergetrieben wurde« wird nicht mißverständlich mit »den Irrsal schlug« übersetzt, sondern mit »welcher so weit geirrt«, was wohl als wörtlich gelten darf. Das von Schröder erfundene »auf der Ferne der hohen Gewässer« fehlt. Es heißt wie im Griechischen »auf dem Meer«. Odysseus trägt nicht mehr »Leid um sein Los«; er rettet, wie bei Homer, sein Leben, wofür Voß freilich, aus Gründen, die noch zu erörtern sein werden, »Seele« sagt. Helios’ Rinder sind nicht mehr »heilig«. Daß der Sonnengott den Gefährten den Tag der Heimkehr nahm, wird gesagt. Im letzten Vers ist wenigstens das willkürliche »mit Gunsten« vermieden. Vom Ton der Verse und ihrem poetischen Rang sei vorerst nicht die Rede. Dagegen getraue ich midi zu behaupten, daß auch Voß – es sei mit allem Respekt vermeldet – an Treue bei weitem noch nicht das Menschenmögliche leistet. Im ersten Vers ist schon das »vielgewanderte« mindestens anfechtbar. Das griechische Wort heißt »vielgewandt« und ist vermutlich auf den listigen Geist des Helden zu beziehen. Schröder trifft mit seinem »vielverschlagenen« die Meinung des Dichters eher. »Nach der heiligen Troia Zerstörung« – das läßt vermissen, daß es Odysseus selber war, der die lang belagerte Stadt mit dem troianischen Pferd bezwang. »Sitte gelernt« für »Denkart erfahren« ist wiederum nicht genau – sofern Voß nicht eine andere Lesart, nämlich »nomon« statt unseres »noon« vorlag. Von »unnennbaren« Leiden steht in der vierten homerischen Zeile nichts. Im sechsten Vers fehlt das »auch so«: auch so, wie sehr er sich mühte, nämlich. Das wird man indes verzeihlich finden. Der »hohe Sonnenbeherrscher« für Hyperion Helios mag angehn, da Hyperion, ein Beiname des Sonnengottes, schon in der Antike gelegentlich als »der darüber Hinwandelnde« aufegefaßt worden ist. Schmerzlich vermissen wir indes im zehnten Vers den Hinweis auf die Komposition der Odyssee, das unentbehrliche »von irgendeinem Punkt aus«. Vielleicht liegt aber auch ein Mißverständnis des griechischen Ausdrucks vor wie schon bei Schröder. Schröder sagt »und anderes«, Voß »ein Weniges«, was beides erfunden oder falsch ist. Ich versuche allen Erfordernissen in eigener Übertragung gerecht zu werden und schlage folgende deutsche Version vor:

Nenne mir, Muse, den Mann, den vielgewandten, der endlos
Weit geirrt, nachdem er zerstört die heilige Troia,
Vieler Menschen Städte gesehn und Gesinnung erfahren,
Auf dem Meer viel Leiden erduldet in seinem Gemüte,
Um sein Leben bemüht und seiner Gefährten Zurückkunft.
Rettete aber auch so, voll Eifers, nicht die Gefährten.
Denn sie gingen zugrunde durch ihre eigenen Frevel,
Toren, welche die Rinder des Sonnengotts Hyperion
Aßen. Der raubte ihnen den Tag der Heimkehr. Beginne,
Wo es auch sei, Zeus’ Tochter, davon auch uns zu erzählen.

Auch hier ist noch nicht alles im reinen. Man kann sich fragen, ob im ersten Vers das »endlos« für homerisches »sehr viel« nicht zu emphatisch sei. Doch »sehr viel« kann man auf deutsch im Zusammenhang mit »irren« nicht gut sagen. Im zweiten Vers fehlt bei Troia die Stadt, die aber entbehrlich sein dürfte. Jedermann weiß, daß Troia eine Stadt ist. Und bei der Tochter des Zeus fehlt die Göttin, die sich nun freilich, bei einer so erlauchten Abstammung, wo nicht ganz, so doch genau zur Hälfte versteht: Sie könnte, wenn die Mutter eine Sterbliche gewesen sein sollte, allenfalls eine Halbgöttin sein. Im übrigen ist wohl alles in Ordnung, abgesehen von einigen jener kleinen eingestreuten Partikel – »wenigstens«, »aber«, »doch« – mit denen ich noch etwas freier umgegangen bin als im Prosatext.
Glauben Sie aber nun ja nicht, ich meine, damit über Voß triumphiert zu haben. Es will etwas anderes heißen, eine Übersetzung von ungefähr zwölftausend Versen in Angriff zu nehmen, etwas anderes, eine Präambel, die zehn Verse umfaßt, zu einem Musterbeispiel zu präparieren. Wäre Voß so vorgegangen, wie ich vorzugehen versuchte, er hätte es sicher nie zu einer vollständigen Odyssee gebracht. Dazu kommt, daß die deutsche Sprache seit zweihundert Jahren an Schmiegsamkeit und Fülle gewonnen hat. Voß mußte sich eine Unzahl von Wendungen noch geduldig erkämpfen, die heute längst Gemeingut geworden sind. Und schließlich habe ich das, was man die dichterische Qualität nennt, überhaupt noch nicht in Anschlag gebracht. Ich gebe ohne weiteres zu, daß mein Versuch, Homers »von irgendeinem Punkt aus« wiederzugeben, zu einem Vers geführt hat, der nicht gerade durch Anmut glänzt:

Beginne,
Wo es auch sei, Zeus’ Tochter, davon auch uns zu erzählen.

Im übrigen aber bleibt die dichterische Qualität ein heikles Problem. Viele Leser finden gewiß die »Ferne der hohen Gewässer« schöner als das homerische »auf dem Meer«, »Leid um sein Los« ergreifender als die schlichte Mühe, sein Leben zu retten. Mancher möchte wohl wünschen, daß Homer nicht zweimal »Gefährten« verwende. Schröder sagt denn auch das erste Mal »Gesellen«, das zweite Mal »Freunde«. Er findet es wirkungsvoll, von einem »allüberstrahlenden Phoibos« zu sprechen und zuletzt das beinah höfische »mit Gunsten« hinzuzufügen. Und so verfährt er immer wieder. Seine Übersetzung war nicht zuletzt deshalb so lange berühmt und beliebt, weil sie mit großer Sprachgewalt einem vor einem halben Jahrhundert verbreiteten Kunstempfinden entgegenkam. Etwas von Jugendstil ist in ihr. Es gärt und schwillt von Emotionen. Der Dichter, ein »Erfinder rollenden Gesanges«, erzählt in pathetischem Ton und wirft sich in die Brust. Das tut Homer nun gerade nie, zum mindesten nicht auf diese Art und am wenigsten in der Odyssee. So bringt denn Schröder seinen Ton nur mit den unbekümmerten Abweichungen heraus, die wir angemerkt haben und die sich, wie durch die Präambel, durch seinen ganzen deutschen Homer hinziehen.
Gleichgültig wie man solche Poesie beurteilt, sie ersetzt den deutschen Homer nicht, den wir uns von einem Übersetzer versprechen, der zu vollkommener Treue entschlossen und alle Bedürfnisse eines privaten Geschmacks beiseitezuschieben bereit ist. Und ich behaupte nun auf Grund einer immerhin ziemlich langen Erfahrung, daß jener Grad von Wörtlichkeit, zu dem ich in der Präambel der Homerischen Odyssee gelangt bin, grundsätzlich immer erreichbar ist, sogar bei schwierigeren Maßen, bei Distichen etwa oder asklepiadeischen, sapphischen und alkäischen Strophen. Erforderlich sind zwei Eigenschaften: sprachliche Wendigkeit und Geduld. Dann kann es nicht fehlen, daß sich zuletzt – um häufige schlimme Probleme zu nennen – das langgesuchte zweisilbige Wort mit dem Ton auf der letzten Silbe einstellt, dieser Satz auch ohne Sinnverlust wesentlich kürzer gefaßt werden kann und dort ein Füllsel sich erübrigt. Mit anderen Worten: Jede Übersetzung in Versen kann grundsätzlich ebenso angemessen sein wie eine Übersetzung in Prosa, die keinen anderen Anspruch erhebt als den, der unvollkommenen Kenntnis der fremden Sprache aufzuhelfen. Wohlverstanden: ich rede von antiker Dichtung in deutscher Sprache. Antike Dichtung ist nie gereimt. Daß sich eine gereimte – italienische oder französische – Dichtung in deutschen Reimen mit demselben Grad von Wörtlichkeit übertragen lasse, möchte ich bezweifeln. Ein Dichter wie Rückert, dem sämtliche Reime der deutschen Sprache geläufig waren, hat freilich auch in dieser Kunst sehr viel geleistet, was man früher für menschenunmöglich gehalten hätte. Seine Übersetzung der Ghaselen des Hafis bezeichnen Kenner als ganz erstaunlich treu. Und wer nicht persisch kann, bewundert sie als eigenartige, ein wenig exotisch anmutende Blüten der Lyrik der Mitte des letzten Jahrhunderts – neben Platens, Daumers und Rückerts eigenen, originalen Ghaselen. So wollen wir denn der Gnade, die über den Übersetzern neuerer Dichtung waltet, keine Grenzen setzen und sind im übrigen froh, als Übersetzer griechischer und lateinischer Texte den Wolfsgruben und Fallen der Reime nicht ausgeliefert zu sein.
Doch wieder zurück zu unserem Beispiel. Wenn das Vertrauen in die Leistungskraft des Übersetzers sich nun ein wenig befestigt haben sollte, so muß ich es sogleich wieder erschüttern. Gewiß, in lexikalischer und grammatischer Hinsicht stimmt nun alles. So gut wie nichts ist ausgelassen und gar nichts ist hinzugefügt worden. Aber – so seltsam es klingen mag – von Homer sind wir immer noch weit entfernt! Prüfen wir die Verse noch einmal unter einem andern Gesichtspunkt.
»Muse« – bei diesem Wort fällt einem Leser deutscher Sprache sogleich, mit Spitteler zu reden, die »alte Allegorientante« ein; oder er denkt an jene neun Gestalten, die auf Raffaels Parnaß um Apollon versammelt sind, feierliche, begeisterte Frauen. Homer kennt aber meist nur eine Muse, und diese wird mit besonderer Vorliebe angerufen, wenn es sich um Aufzählungen handelt. Sie ist die Tochter des Zeus und der Mnemosyne, des Gedächtnisses also, und hat als solche in der Tat zumal dem Gedächtnis zu Hilfe zu kommen, in einer Zeit, in der die Schrift dem Dichter noch etwas ungewohnt und der Umgang mit ihr noch schwierig war, ein überaus wesentliches Geschäft. Wir verbinden also mit »Muse« eine falsche oder mindestens eine unangemessene Vorstellung. Ebenso mit der »heiligen« Troia. »Heilig« – der Begriff ist bei uns durch die christliche Tradition bestimmt. Wir brauchen zwar nicht gerade an den christlichen Heiligenschein zu denken, der nur das Haupt umgibt, indes bei dem Heiligen oder Göttlichen in der Antike noch der ganze Leib von dem leuchtenden Nimbus umflossen war. Verhindern können wir aber kaum, daß sich für unser Bewußtsein die schreckliche, ungeheure Macht, an die der Grieche gedacht haben dürfte, mindert und alles ein wenig ins Bleiche, Geistige, Sittlich-Zarte hinüberspielt. »Leiden erduldet in seinem Gemüte«: Wir finden freilich in jedem Wörterbuch für den homerischen Ausdruck unter anderem auch »Gemüt«. Daneben aber: Leben, Bewußtsein, Herz, Sinn, Geist, Freude, Zorn, Mut, Wille, Verlangen, Appetit, Wunsch, Gedanke, Entschluß. Zu dieser ganzen Skala kommt es, weil das griechische Wort im Grunde das Wallende, sich Bewegende, eine innere Aufwallung bezeichnet. Was sich da regt in der Brust, was jedermann deutlich spürt, das ist, und zwar so konkret wie nur irgend möglich, gemeint. Man wird es je nach dem Zusammenhang bald so, bald so übersetzen müssen. Voß und Schröder lassen es einfach aus. Ich habe »Gemüt« gewählt, obwohl ich mir völlig darüber im klaren bin, daß das nun viel zu »gemütlich« klingt, daß sozusagen ein Butzenscheibenlicht auf die homerische Zeile fällt. Was hätte ich aber sonst wählen sollen? »Bewußtsein« und »Geist« wären viel zu abstrakt, »Herz« und »Sinn« nicht minder klassisch-romantisch angehaucht als Gemüt. »Freude, Zorn, Schmerz, Wille, Verlangen«, das ginge hier überhaupt nicht. »Mut«, das Wort, das Schadewaldt in seiner Übertragung wählt, empfiehlt sich eher, streift aber eine kriegerische Farbe nicht ganz ab. So bleibt es denn also bei »Gemüt«.
»Um sein Leben bemüht«: Voß sagt »um seine Seele«, Homer »psyché«. Psyche scheint ein vertrauter Begriff. Wir kennen die Psychologie und sind es längst gewohnt, von der Psyche zu sprechen. Aber gerade »Seele« im Sinne der Psychologie ist nicht gemeint, noch weniger »Seele«, so wie uns das Wort im religiösen Rahmen begegnet; und dieser bildet sich unvermeidlich, wenn Voß vom Retten der Seele spricht. Ein unvorbereiteter Leser wird meinen, Odysseus habe so etwas wie einen Seelenkampf zu bestehen gehabt. Er wird an Faust, an Parzival, doch sicher an etwas Christliches denken. Und damit geht er völlig fehl. Psyché heißt bei Homer der Lebensodem, als Substanz gedacht, also die den ganzen Körper gleichsam durchwehende Lebenskraft. Ich habe »Leben« dafür gesagt und damit zwar die falschen christlichen Assoziationen vermieden, andrerseits aber auch das Dinglich-Substantielle eingebüßt, das immerhin in »Seele« noch mitschwingt.
Wir stehen erst im fünften Vers und blicken bereits auf eine ungeheuerliche Bilanz zurück, ungeheuerlich nicht nur deshalb, weil vier schwere Unzukömmlichkeiten – oder wie wir das nennen wollen – auf fünf Verse einen erschreckend hohen Prozentsatz bilden, sondern weil diese Unzukömmlichkeiten mit aller Geduld, Gewalt und List nicht zu beheben sind. Ich habe im Deutschen nun einmal kein Wort, das dem, was ich mit »Gemüt« zu übersetzen versuchte, genau entspricht. Man wird ja doch kaum von mir erwarten, daß ich sage: »Odysseus ertrug die Leiden in seiner Aufwallung« oder gar »in seinem aufwallenden Etwas«. Das hieße den Text nicht übersetzen, sondern ihn kommentieren. Dennoch haken gerade an solchen Stellen bewanderte Kritiker ein. Sie kennen ihr Wörterbuch, sie wissen Bescheid darüber, daß dieses deutsche Wort sich nicht mit dem griechischen deckt und jenes mindestens eine andere Aura besitzt, das will heißen, andere Vorstellungen in uns auslöst. Um ein Beispiel aus einer Ihnen allen bekannten Sprache zu wählen: Man tadelt den Übersetzer, weil er das französische »amour« im Deutschen mit »Liebe« wiedergibt, und fragt ihn freundlich, ob er nicht wisse, daß Liebe etwas ganz anderes sei. Er weiß es ebensogut und bittet den Kritiker um ein anderes Wort. Darauf antwortet der Gegner nicht, und er hat seine guten Gründe zu schweigen. Sein Vorwurf läuft nämlich auf den unwiderleglichen, allgemeinen hinaus, daß eine deutsche Übersetzung nicht eben noch griechisch ist oder französisch. Jede Sprache teilt die Welt, die wir Wirklichkeit nennen, in ihrem Wortschatz anders auf und faßt wieder andere Dinge zu einer Einheit zusammen. Deshalb müssen wir, sofern wir genau sein wollen, so oft umschreiben, und deshalb bringen die Wörterbücher für viele Wörter der fremden Sprache eine ganze Reihe deutscher. Etwas Gemeinsames schwebt zwar zwischen ihnen, dem Auge des Geistes erkennbar. Sonst gäbe es keine Verständigung. Dem Übersetzer hilft das aber wenig. Er braucht ein einziges Wort, und dieses sollte ins Schwarze treffen. Ein selten beschiedenes Glück! Meist muß er zufrieden sein, wenn er die Scheibe trifft.
Und was, zumal bei dichterischen Texten, noch viel schwerer ins Gewicht fällt: Die Wörter verschiedener Sprachen haben eine ganz andere Erinnerungssphäre. Wenn ich nur »Nacht« oder »Sonne« sage, evoziere ich einen Bereich und wecke ich eine Tradition, von der sich ein Grieche nichts träumen läßt. Wie könnten wir bei »Nacht« Novalis und Eichendorff vergessen und wie verhindern, daß uns bei »Sonne« die ganze Goethesche Lichtsymbolik einfällt? Der Rahmen, in dem ein Wort erscheint, wirkt zwar berichtigend; denn er schließt von vornherein manche Erinnerung aus. So lese ich etwa »Geist« in einer literarischen Kritik nicht so wie in Hegels »Phänomenologie«. Die Macht der Erinnerung aber ist groß und entzieht sich zuverlässiger Führung. Zumal, wenn mir daran liegt, ein Wort mit hohem dichterischen Reiz zu begaben, kann mir das nur gelingen, wenn ich seine Vergangenheit, und das ist die deutsche Vergangenheit, auf rege. So wird die Übersetzung um so deutscher, je dichterischer sie wird, sie mag dabei noch so »wörtlich« sein.
Und damit bei weitem noch nicht genug! Ich habe mich bisher auf die Probleme, die einzelne Wörter aufgeben, beschränkt. Wie steht es mit den grammatischen Fragen? Im Griechischen gibt es neben dem Aktiv und Passiv ein Drittes, das Medium mit einer oft schwer faßbaren Bedeutung. Das können wir im Deutschen nur ungenau, mit Umschreibungen, wiedergeben. Ebenso den Optativ, der neben dem Indikativ und dem Konjunktiv eine wichtige Rolle spielt. Von den griechischen Tempera entsprechen die meisten den deutschen nicht. Das sogenannte griechische Perfekt z. B. hat einen besonderen Sinn, in dem sich nach unsern Begriffen Perfektisches und Präsentisches seltsam verbinden. Eine Vergangenheitsform, der Aorist, führt seinen Namen mit Recht. Aoristos heißt nämlich: unbestimmt. Und eine Bestimmung fällt denn auch, nach unsern grammatischen Fächern, schwer. Nun gar die Probleme der Syntax, des Satzbaus! Der Grieche fügt seine Vorstellungen nach andern Gesetzen zusammen als wir. Ich will mich hier nicht darüber verbreiten und führe nur einen Umstand an, der sich im Sprachunterricht auswirkt. Der Lehrer, der von seinen Schülern eine dem Griechischen möglichst nahe deutsche Übersetzung verlangt, verdirbt damit unfehlbar ihr Deutsch. Sätze kommen zustande wie: »Von den Bestrebungen aber muß er weiter zu den Erkenntnissen gehn, damit er auch die Schönheit der Erkenntnisse schaue und, vielfältiges Schönes schon im Auge habend, nicht mehr dem bei einem einzelnen, indem er knechtischer Weise die Schönheit eines Knäbleins oder irgendeines Mannes oder einer einzelnen Bestrebung liebt, dienend sich schlecht und kleingeistig zeige, sondern auf die hohe See des Schönen sich begebend und dort umschauend viele schöne und herrliche Reden und Gedanken erzeuge in ungemessenem Streben nach Weisheit, bis er, hierdurch gestärkt und vervollkommnet, eine einzige solche Erkenntnis erblicke, welche auf ein Schönes folgender Art geht.«
So heißt es in Schleiermachers Übersetzung von Platons »Symposion«. Es ist genau, aber sicher nicht deutsch. Und so ist nichts gefährlicher für die Ausbildung in der eigenen Sprache als die Schulung in einer fremden. Eine fast unerträgliche Spannung entsteht, und eben diese hat der Übersetzer auszuhalten. Er muß sich in die griechische Sprache ganz vertiefen und zugleich die deutsche vollkommen intakt bewahren. Denn der Leser verlangt ja deutsche Prosa, deutsche Verse zu hören. Sollte er griechische erwartet haben, so weiß er nicht, was er will. Er müßte bereit sein, Griechisch zu lernen. Und wer Griechisch kann, bedarf der Hilfe des Übersetzers nicht.
Ich habe mich deshalb seinerzeit – in einer Zürcher Diskussion – gegen Schadewaldts Ansicht ausgesprochen, der Übersetzer habe nicht das Griechische ins Deutsche zu übertragen, sondern umgekehrt sein Deutsch dem Griechischen anzunähern. Solche Übersetzungen mögen – so führte ich damals aus – vielleicht den Philologen interessieren. Er hat seine Lust daran, in deutschen Texten die ihm wohlbekannten griechischen Vokabeln und Satzfügungen wiederzuerkennen. Wer nichts von diesen Vokabeln und Satzfügungen weiß, wird wenig damit anfangen können. Vor allem wird er es nie zu einer dichterischen Erfahrung bringen. Denn eine solche ist nur möglich dank der Resonanz, die Worte und Satzfügungen aus der Dämmerung ihrer Tradition gewinnen. Der Philologe hört aus dem von Schadewaldt empfohlenen Deutsch die griechische Tradition heraus. Dem Leser, dem das fremde Sprachgefüge verschlossen ist, bleibt sie stumm. Der Übersetzer aber schreibt für diesen, nicht für Philologen.
So ungefähr habe ich argumentiert. Nun sehe ich freilich, daß damit die ganze schwierige Frage nur von einer Seite beleuchtet wird. Wären nämlich sämtliche Übersetzer meinem Rat gefolgt, so hätten ihre Werke die deutsche Sprache niemals so bereichert, wie wir sie tatsächlich durch einige Übersetzer bereichert finden.
Ich komme wieder auf Voß zurück. Gehen wir vom Stand der deutschen Sprache um 1780 aus, so werden wir zugeben müssen: Er hat erstaunlich gräzisiert oder, mit Schadewaldt zu reden, sein Deutsch dem Griechischen angenähert. Zusammengesetzte Wörter, wie er sie wagte, waren damals nicht üblich, die sinnliche Dichte, die er damit erzielte, durchaus ungewöhnlich. Das fällt uns heute nicht mehr auf, weil Vossens Errungenschaften von Goethe und Schiller dankbar übernommen und so Gemeinbesitz der Menschen deutscher Sprache geworden sind. Man lese aber Schillers Briefe an Charlotte von Lengefeld nach, in denen er sich mit der innigsten Lust in Vossischen Neubildungen ergeht, und bilde sich danach einen Begriff von den Gefühlen, die offene Leser angesichts der eben erst erschlossenen Sprachlandschaft erfüllten.
Ähnliches ließe sich von Herders Übertragungen nordischer Lieder oder dann gar von August Wilhelm Schlegels deutschem Shakespeare sagen. August Wilhelm Schlegel schreibt in seiner Übersetzung ein Deutsch, das in der Wortbildung, vor allem aber in der Syntax, vom Englischen so bestimmt ist wie kein älteres deutsches Bühnenwerk. Und seltsam, seit sie vorliegt, schreiben die deutschen Dramatiker anders, Schiller noch nicht, aber Kleist, Grillparzer, Hebbel und insbesondere Otto Ludwig. Sie übernehmen nicht allein, zu ihrem Gewinn, die wunderbare Elastizität von Shakespeares Sätzen, die Schlegel so glücklich nachgeahmt hat, sondern auch – es wäre fast komisch, hätten wir es nicht längst in unserm Sprachbewußtsein kanonisiert – die Apokopierungen und Elisionen, zu denen Schlegel die größere Kapazität des englischen Verses zwang. Doch sehen wir ab von dieser Manier, die nur als Kuriosität erwähnt sei! Übersetzungen, die sich der Sprache des Urtexts nähern, haben die Grenzen der Möglichkeiten des Deutschen weiter hinausgerückt, was nie geschehen wäre, hätte der Übersetzer von vornherein sich nur bemüht, dem Fremdling unsere heimischen Sitten beizubringen. – Auf der andern Seite bleibt freilich das Schleiermachersche Experiment und bleiben etwa Rudolf Borchardts allzu kühne, wie die Folge lehrte, vermessene Exerzitien in danteskem, pindarisierendem oder äschyleischem Deutsch. Sie haben sich nicht eingebürgert. Wir lassen sie gelten als Proben einer fast unbegreiflichen Virtuosität und ehernen sprachlichen Energie. Wir denken aber, wenn wir sie lesen, mehr an Borchardt als an Dante, Pindar oder Aischylos. Und damit dürfte denn doch der Zweck des Übersetzens nicht erreicht sein.
Hat aber der Übersetzer die Wahl, es so oder anders zu halten? Kaum! Er wird verfahren, wie es ihm Lust und Freude bereitet, und. das heißt zugleich, verfahren, wie er muß. Bekennt er sich zur möglichst vollkommenen Eindeutschung des fremden Werks, so wird er sagen: Der Übersetzer muß zwar den fremden Text verstehen, soweit sich überhaupt ein Text in fremder Sprache verstehen läßt; und wenn seine eigenen Kenntnisse nicht genügen, so wird er den Beistand eines tüchtigen Philologen suchen. Im übrigen aber beruht das ganze Heil einer Übersetzung darauf, daß ihr Schöpfer die eigene Sprache beherrscht, daß er sich auskennt in dem Nimbus des Unausgesprochenen und Fühlbaren, den beinah jeder Ausdruck mitbringt, daß er sich auf die Kunst der unauffälligen Anspielung versteht, mit der die Geister der Vergangenheit deutscher Worte aufgeweckt werden, daß er zu evozieren, daß er die Phantasie zu erregen vermag – und all dies, ohne dem Original gegenüber sich auch nur die allergeringste Freiheit in den beliebten Verschönerungen herauszunehmen, und dennoch so dichterisch mächtig, als wäre er gar nicht an eine Vorlage gebunden. Bei dem heutigen Stand der Sprache sind solche Wünsche erfüllbar, grundsätzlich wenigstens. In der Praxis mag sich auch der Begabteste, Geduldigste und Treueste hin und wieder mit einem Schwindel behelfen. Denn die Anforderungen sind groß.
Endlich ein Wort zu den metrischen Fragen. Wir haben bei unserer ganzen Betrachtung immer vorausgesetzt, daß ein Homer in deutschen Versen ein Homer in deutschen Hexametern sei. Es lohnt sich aber, auch diese fundamentale These noch zu prüfen. Man hat darauf hingewiesen, daß der deutsche Hexameter »länger« als der homerische sei, das heißt, mehr Inhalt aufzunehmen vermöge, den Übersetzer also zum »Strecken« zwinge. Nun ist es schwierig, die Kapazität von Versen überhaupt abzuschätzen. Der Vers in Goethes »Natürlicher Tochter« zum Beispiel faßt viel mehr als ebenderselbe Vers im »Torquato Tasso« und in der »Iphigenie auf Tauris«. Der Unterschied zwischen dem deutschen und dem homerischen Hexameter ist sicher bei weitem nicht so groß wie zwischen dem deutschen und dem englischen Blankvers, den doch Schlegel, wenn auch mit knapper Not, bewältigt hat. So glaube ich kaum, daß der deutsche Hexameter schon zu einer Homer ganz fremden Fülligkeit und Behäbigkeit nötigt, daß gewisse Gefahren, denen Voß noch öfter erlegen ist, sich bei dem heutigen Stand der deutschen Sprache nicht vermeiden ließen. Die wenigen Verse der Odyssee-Präambel sind freilich eine zu schmale Basis für eine solche Behauptung. Warum aber halten wir denn so zäh am Hexameter fest? Bedeutet das nicht, sich eines Vorurteils schuldig machen, das ein historisch denkender Mensch sich eigentlich nicht gestatten dürfte? Daß griechische Verse ganz anders klingen als deutsche, weiß heute jedermann. Wir haben betonte und unbetonte Silben, der Grieche hat Längen und Kürzen. Und was wir unter Takten verstehen, kennt der Grieche eigentlich nicht. Es ist deshalb eine Illusion, wenn wir mit deutschen Hexametern etwas dem griechischen Hexameter Ähnliches auch nur von fern zu erreichen glauben. Dennoch läßt uns eine Übersetzung der Odyssee in eigentümlich deutschen, zum Beispiel Stabreimversen, unbefriedigt, und zwar deshalb, weil sie unfehlbar an die nordische Welt erinnert, gleichsam Nebel heraufbeschwört, indes der Hexameter uns das Land der Griechen vor die Seele ruft.
Warum geschieht das aber? Nicht dank einer metrischen Verwandtschaft, die offenbar überhaupt nicht besteht, wohl aber dank Voß, Goethe, Schiller, Hölderlin, Mörike, die den deutschen Hexameter für ihre gräzisierenden Dichtungen eingesetzt haben. Demnach ist der Entschluß zum Hexameter wieder nur eine Konsequenz des prinzipiellen Entschlusses, dem fremden Dichter im Bereich der deutschen Sprache und das heißt der Überlieferung, zu der wir uns bekennen, Heimatrecht zu verleihen, also gleichsam vorzugeben, daß er einer der unsrigen sei. Und ebenso erklärt sich Wolfgang Schadewaldts Entschluß zur Prosa – nicht allein, aber unter anderem – aus dem entgegengesetzten Willen, Homer gerade aus der Tradition der Goethezeit zu lösen und uns ohne den »gemütlichen«, »seelenvollen« Firnis, der uns allzusehr zur Gewohnheit geworden ist, vor die Einbildungskraft zu rücken.
Doch läßt sich der deutsche Hexameter nicht auch auf andere Weise begründen? Ich glaube wohl – nämlich mit der Struktur des Verses selbst, die nicht nur über Goethe und Voß, sondern unmittelbar – obwohl sie mit dem griechischen Vers sehr wenig oder nichts zu tun hat – an die homerische Welt gemahnt. Denn wie ist dieser Vers beschaffen? Er hat zunächst einmal die Länge, die ungefähr der mittleren Länge eines deutschen Hauptsatzes entspricht. Das heißt, eine Vorstellung, ein Bild, ein einfadier Vorgang, ein kleines Ereignis läßt sich bequem in ihm unterbringen. Ein Beispiel aus »Hermann und Dorothea«:

»Denn der rote Latz erhebt den gewölbeten Busen,
Schön geschnürt, und es liegt das schwarze Mieder ihr knapp an;
Sauber hat sie den Saum des Hemdes zur Krause gefaltet,
Die ihr das Kinn umgibt, das runde, mit reinlicher Anmut;
Frei und heiter zeigt sich des Kopfes zierliches Eirund;
Stark sind vielmal die Zöpfe um silberne Nadeln gewickelt;
Vielgefaltet und blau fängt unter dem Latze der Rock an
Und umschlägt ihr im Gehn die wohlgebildeten Knöchel.«

Ein Beispiel aus der »Luise« von Voß:

»Und sie empfing an der Pforte der Hund mit freundlichem Wedeln.«

Ein solches angeschautes Ganzes in eine Zeile einzulegen, lädt uns der Vers geradezu ein.
Der Hexameter ist ferner nicht gereimt. Er tauscht nicht Liebesgrüße mit näheren oder ferneren Zeilen aus. Er zeigt nicht vorwärts oder zurück. Er hat den Schwerpunkt in sich selbst. Dazu befestigt ihn noch die Zäsur, man möchte sagen, wie ein kleiner, aber zuverlässiger Stift. Der Laie, der sich ohne genauere Sachkenntnis an den Hexameter wagt, meint, die Zäsur als eine Willkürvorschrift oder wohl gar philologische Schikane mißachten zu dürfen. Er täuscht sich; die Verse in Klopstocks »Messias« wirken auch deshalb so oft nebulös und auf die Dauer so ermüdend, weil immer wieder die Zäsur an die falsche Stelle rückt oder fehlt. Nun ist sie aber andrerseits nicht, wie im Pentameter, unverbrüchlich an eine einzige Stelle gebunden, sondern, nach dem Vorbild unserer Klassiker, an vier Stellen erlaubt. Das ergibt eine zwar sehr einprägsame, aber dennoch liberale, mannigfaltige Gliederung – wofür der Anfang von Goethes »Reineke Fuchs« als Beispiel dienen möge:

»Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen; es grünten und blühten
Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken
Übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel;
Jede Wiese sproßte von Blumen in duftenden Gründen,
Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde.«

Liberal ist auch der Wechsel von Spondäen und Daktylen oder, anders ausgedrückt, das Schwanken der Silbenzahl zwischen 12 und 17. Und so fort. Die Regel des deutschen Hexameters dürfte mit den wenigen Sätzen genügend umschrieben sein.
Und was hat dies nun mit Homer zu tun? In der Struktur des Hexameters, so wie sie sich vor zweihundert Jahren im Deutschen eingebürgert hat, erfüllt sich metrisch jene sichere und doch freie, in sich selber ruhende, klare Gegenwart, die Goethe schon in der Ilias und der Odyssee bewundert und dann in Italien wiedergefunden hat und die wir noch heute als die große unvergleichliche Gnade des ältesten europäischen Dichters verehren. Sie wächst zusammen mit der parataktischen Folge seiner Sätze und unterstützt die Leuchtkraft jeder einzelnen Vorstellung, jedes Bildes. Ein christliches Epos in Hexametern wäre undenkbar oder falsch; der Vers widerspräche dem ständigen Zug ins Künftige und der Tiefe der Erinnerung in der christlichen Welt. Dem Stil der frühen Gesellschaft, die Homer beschreibt, die, wenn wir das so sagen dürfen, in einem allerhöchsten Sinn »in den Tag hineinlebt«, ist er dagegen vollkommen gemäß. Darum erscheint er bei Goethe erst als Vor- und Nachklang der Italienischen Reise und verschwindet, wie der Alternde, nach seinem eigenen Wort, aus der Erscheinung zurücktritt. Er ist der Vers der ihrer selbst gewissen gediegenen Gegenwart. Und also, meine ich, ließe er sich als Vers eines deutschen Homer begründen, ohne daß man sich historisch nur auf den Brauch der führenden Dichter der Goethezeit berufen und ihren Ton in Erinnerung rufen müßte. Doch ob sich diese Erinnerung heute schon zuverlässig vermeiden ließe? Wer ihr auszuweichen wünscht, wer findet, es gelte auch in unsrer Aneignung antiker Dichter von den allzu gewohnten, an Canova und Thorwaldsen mahnenden Konturen loszukommen, der wird wohl noch auf Jahrzehnte hinaus einen deutschen Homer in Prosa vorziehen – den wir ja in einer kaum zu übertreffenden Form besitzen.
Man halte es aber nun mit der Prosa oder mit deutschen Versen – am Ende liegt allen, die sich heute mit Homer befassen, einzig daran, daß er uns gegenwärtig bleibt: als Fundament, von dem die Poesie sich niemals völlig lösen kann, ohne sich selbst in ihren reinsten Möglichkeiten aufzugeben, als Vermittler einer noch immer unerschöpften Mythologie und als – es ziemt sich, damit zu schließen – Begründer des europäischen Geistes.