Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Carl Friedrich von Weizsäcker

Philosoph und Physiker
Geboren 28.6.1912
Gestorben 28.4.2007
Mitglied seit 1950

Ihm ist es gelungen, in seinem Werk selbst schwierigste Sachverhalte in einer anmutigen und gleichwohl präzisen Sprache darzustellen...

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Herbert Heckmann
Vizepräsidenten Walter Helmut Fritz, Hans-Martin Gauger, Hartmut von Hentig, Beisitzer Georg Hensel, Michael Krüger, Lea Ritter-Santini, Guntram Vesper, Peter Wapnewski, Hans Wollschläger, Ehrenpräsident Dolf Sternberger

Laudatio von Constanze Eisenbart

»Das große Lalula« – die Kunst im »Weltbild der Physik«

»Die Neuzeit ist zweideutig und vernichtet ihre Ziele, indem sie sie erreicht. Die Photographie vernichtet den Naturalismus, indem sie ihn erfüllt. Der Künstler erfährt: Das also ist nicht Kunst. Was ist Kunst dann? Der Physiker erfährt: Die klassische Physik erfaßt nicht den Grund der Wirklichkeit. Wo ist er dann?« Diese Sätze aus dem Band Zum Weltbild der Physik stehen nicht in einem der großen programmatischen naturphilosophischen Aufsätze; sie finden sich in einer ganz kurzen, tiefsinnig-parodistischen Skizze über Christian Morgensterns Gedicht »Das große Lalula«, die den Titel trägt: »Entepente oder die abstrakte Kunst«. Wie kommt das »Große Lalula« ins Weltbild der Physik? Warum nimmt Weizsäcker diese spielerische Etüde in das erste seiner Bücher auf, das über die Physik hinausfragt? Er meint dazu: »Es gibt Dinge, die ernst zu sagen, zu schwer wäre.« Das klingt so leicht dahingeredet, bis man entdeckt, für welche Gegenstände er das Wort »schwer« sonst bewahrt: »zu schwer« ist die Philosophie. »Fast hoffnungslos schwer« ist das vollständige Verstehen der Quantenphysik. »Schwer« sind Prognosen. Schwer wie das Verstehen der Kunst sind also Philosophie, Physik, politisches Planen – Brennpunkte der Arbeit von Carl Friedrich von Weizsäcker. Nun war es zu keiner Zeit leicht, Wahrheit auszuhalten, Verantwortung zu tragen, Gestalt wahrzunehmen. Was macht es heute besonders »schwer«?
Unerbittlich hat das moderne Denken die metaphysisch gegründete Einheit von Sein, Sollen und Sich-Zeigen unterhöhlt und aufgesprengt. Schnell zusammenschießende Krisen signalisieren das Ende des Zeitalters des Säkularismus, das wir »Neuzeit« nennen. Sie zeigen an, daß sich der Horizont für Anderes öffnet, für das uns noch Begriff und Name fehlen. Kann »der Zerfall der Welt in Tatsachen« (Wittgenstein) auf neuer Ebene aufgehoben werden? Kann verantwortliches Philosophieren Beides wahrnehmen: die Krise wie den Horizont einer neu zu entdeckenden Einheit? Sie darf der Versuchung zur Regression auf vage dahingeraunte Ganzheitlichkeiten nicht erliegen. Sie erkennt aber, daß theoria, praxis und poiesis in neue Konstellationen eintreten wollen. Dieses veränderte Wechselspiel von Erkennen, Urteilen und Wahrnehmen zu beschreiben und so eine veränderte Wirklichkeit darzustellen, ist Carl Friedrich von Weizsäckers Absicht. Sein Werk erweist sich damit als »an der Zeit«. Vielleicht erklärt das die außerordentliche Wirkung und Popularität seiner Schriften, die es so einfach dem Leser doch nicht machen. Vielleicht erklärt es auch die Summe der Mißverständnisse, die ihm entgegenschlagen. Ihnen mit Gelassenheit standzuhalten, ist sicher »schwer«. Wie denkt und sagt man helle Gedanken in einer dunklen Zeit?
Als Schüler von Heisenberg und Bohr hat Carl Friedrich von Weizsäcker »das Erdbeben in den Fundamenten der geistigen Grundordnung unserer Kultur an einem seiner Zentren erfahren« (Georg Picht). Er hat es erfahren als Grundlagenkrise seiner eigenen Wissenschaft, der Physik. Deren geschlossenes Weltbild, so sagt er selbst, »wurde gleichzeitig von innen und außen zerstört«. Er konstatiert dies nicht mit Befriedigung, er konstatiert es mit Trauer. Wer 1939 durch die Entdeckung der Atomspaltung aus dem Traum von der »wertfreien« Grundlagenforschung geweckt wurde, der schüttelt die Frage nach der Wahrheit wie nach der Verantwortung der Physik nicht wieder ab. Sie treibt ihn auf die Suche nach den in dieser Physik geronnenen philosophischen Vorurteilen. Sie gestattet ihm nicht mehr, die Machtförmigkeit von Wissenschaft zu leugnen. »Physik ist verdrängter Wille zur Macht«; »es führt ein schnurgerader Weg von Galilei zur Atombombe«. Weizsäcker desertiert nicht aus der Physik; Treulosigkeit ist seine Sache nicht. Aber er muß doch unablässig fragen, wie Naturwissenschaft zu treiben sei, die solche Folgen ausschließt. Er ringt um eine »abgeschlossene Physik« als Kern einer verstandenen Einheit der Naturwissenschaft. Die Aufgabe ist riesig. Und doch kann er dabei nicht stehenbleiben. Er sieht, daß die überkommene Trennung in Natur-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften der Wirklichkeit nicht entspricht. Deshalb bemüht er sich um eine »schrittweise begriffliche Fusion der Einzelwissenschaften«. Das zieht natürlich die Kritik der wissenschaftlichen Duodezfürsten auf sich. Zwar weiß er: »Die Departmentalisierung des Geistes ist ein Mittel, diesen dort abzuschaffen, wo er nicht ex officio, im Auftrag, betrieben wird« (Adorno). Aber seine Bindung an das Wissenschaftsverständnis dieser Kritiker ist tief. Die Luft, in die er hinaufsteigt, wird dünn. Dabei beunruhigt ihn, daß jeder Schritt ihn weiter in das Zwielicht führt, das heute über der Welt liegt. Er erfährt die unausweichliche Ambivalenz aller Phänomene, denen er sich zuwendet. Wie soll er mit klarem Blick auf neuer Ebene ein »Ganzes« erfassen, wenn ringsherum die ganzheitlichen Entwürfe der Vergangenheit galvanisiert in den Nischen des falschen Bewußtseins stehen? So werden Inhalt und Gestalt seines wissenschaftlichen Werkes bestimmt durch den Konflikt zwischen seiner systematischen Kraft, die auf Einheit zielt, und seiner wahrnehmenden Sensibilität, die überall Bruchstellen erblickt. Nach der leider zu rasch zerfledderten und nahezu unbrauchbar gewordenen Formel vom »Paradigmenwechsel«: Weizsäcker wäre vielleicht Vollender eines Kuhnschen Paradigmas »normaler Wissenschaft« geworden, wenn die geschichtliche Situation, in der er sich befindet, ihn nicht genötigt hätte, statt dessen, contre cœur, als »Revolutionär« die Krise zu verstärken, die er allenthalben spürt. Und »Krise« heißt nicht nur »Abschluß einer Theorie«; Krise heißt Auflösung von Theorie überhaupt. Dabei weiß Carl Friedrich von Weizsäcker, anders als die alternativen Traumtänzer, die sich so gern auf ihn berufen, wenn sie die Messen ihrer nebulösen Programmatik zelebrieren, was auf dem Spiele steht, wenn das Paradigma neuzeitlicher Rationalität zerbröckelt. Brechen die Dämme der überlieferten Kultur, dann ergießen sich Schlammfluten der Irrationalität in die begradigten Flußläufe des öffentlichen Bewußtseins. So muß er zwar von den Wissenschaften die »Revolution der Denkart« fordern, er muß am »Bewußtseinswandel« der Öffentlichkeit arbeiten – aber immer muß er gleichzeitig davor warnen, die Aufklärung nicht vorzeitig zu verraten, Rechtsstaatlichkeit, Bürger- und Menschenrechte, zivile Freiheiten und Humanität nicht leichtfertig preiszugeben.
Quantenphysik ist schwer. Philosophie ist »vielleicht für den Menschen zu schwer«. Prognose, die Grundlage politischer Planung, ist schwer. Im Zeitalter der nuklearen Waffen, der Elektronik und der Gentechnologie, in dem Theorie selbst zur radikalsten Form der Praxis geworden ist, überschneiden sich die Felder wissenschaftlicher und politischer Macht, die Bereiche wissenschaftlicher und politischer Verantwortung. Das hat Carl Friedrich von Weizsäcker früh erkannt. Für die politische Praxis entwickelte er eine eigene Form, einen charakteristischen Stil: Seine politischen Schriften sind eine lange Reihe unterkühlt argumentierender Bußpredigten, sie wiederholen seit vierzig Jahren die gleiche Botschaft mit immer neuen Begründungen: die Institution des Krieges muß abgeschafft werden; eine justiziable internationale Rechtsordnung muß aufgebaut, die weltweite soziale Ungerechtigkeit muß abgebaut werden. An die Stelle der besinnungslosen Ausbeutung der Natur muß ein vernunftgemäßer Umgang mit ihr treten. Mit bebender Geduld unterzieht er sich der danklosen Aufgabe des Warners, von dem Georg Picht sagt, er sei die »schlechthin tragische Figur auf der politischen Bühne«. Was es Weizsäcker kostet, in dieser Rolle der Machtlosigkeit auszuharren, wissen wir nicht. So gern er sonst von eigenen Erfahrungen redet und schreibt – hierüber kein Wort. Aber inmitten der Nüchternheit seiner politischen Texte taucht immer wieder ein Wort auf: »Verzweiflung«.
Theorie und Praxis schieben sich ineinander. Poiesis bringt dies ans Licht. Den Freud-Preis bekommt Carl Friedrich von Weizsäcker für seine wissenschaftliche Prosa. Souverän beherrscht er das sprachliche Instrumentarium der Zünfte, in denen er zu Hause ist. Aber das greift zu kurz; er hat eine ganz unverwechselbare Sprache gefunden – gleichweit entfernt von der Scheinexklusivität des Fachjargons und von jener künstlichen Naivität, die auf billige Erfolge schielt. Es gelingt ihm, auch schwierigste physikalische Probleme für Laien verständlich darzustellen. Seine knappen Sätze gehen mit dem stetigen Schritt des Bergwanderers durch das steinige Gelände der unübersichtlichen Wirklichkeit. Er hakt Gedanken nicht mit logischen Partikeln ineinander, sondern greift das jeweils tragende Wort eines Satzes in der folgenden Phrase auf und stellt es in deren verändernden Kontext. So setzt er an die Stelle hierarchischer Deduktion semantische Konsistenz. Dabei bleibt seine Sprache anschaulich. Handgreifliche Bilder fallen wie Steine in das glatte Wasser allzu eingängiger Abstraktionen. Sie weisen darauf hin, daß sich im Sachverhalt mehr verbirgt, als der bloße Begriff präsentiert. Die Spannung zwischen dem Bedürfnis, genau zu sein, und der andrängenden Wahrnehmung einer phänomenalen Vielfalt, die sich dem logischen Ausgrenzen verweigert, zeigt sich besonders deutlich in seiner Form der »Begriffsbildung« – wie Weizsäcker das, nicht ohne leise Ironie, nennt. Ein »Begriff« gilt, nach der schulmeisterlichen Formel des Wörterbuches der philosophischen Begriffe, als definiert, wenn er die Forderung nach »durchgängiger Konstanz, vollkommener Bestimmtheit, allgemeiner Übereinstimmung und unzweideutiger sprachlicher Bezeichnung« erfüllt. In diesem philosophiewidrigen Sinne definiert Weizsäcker nicht, er öffnet vielmehr überraschende Perspektiven auf vorgeblich Vertrautes, wenn er sagt: »Frieden ist der Leib einer Wahrheit« – »Bewußtsein ist ein unbewußter Akt« – »Logik ist Theorie der Macht« – »Kunst ist die Wahrnehmung von Gestalt durch Schaffung von Gestalt«. Solche »Begriffsbildungen« beschreiben Prozesse, sie spiegeln die Komplexität von Phänomenen, die anders nicht einzufangen sind. Sie benutzen die Sprache der Gleichnisse. Affektive Erfahrung kristallisiert sich in ihnen zu Formeln, die an die Stelle jener klassifizierenden wissenschaftlichen Begriffe treten, die nach Bergson wie Konfektionskleider um den Leib der Gegenstände schlottern. »Sprache ist Feststellen der Erfahrung mythischer Macht« (Picht). Weizsäckers Offenheit für diese Erfahrung ist, so scheint mir manchmal, größer, als er selbst es weiß.
Moderne Naturwissenschaft schreibt kaum Bücher. Die Fachforschung schreitet in kurzen Texten fort. Weizsäcker trägt in sich die Tradition dieser Naturwissenschaft; seine Stärke liegt in der kleinen Form. Seine Veröffentlichungen – selbst das gewichtige Werk über den Aufbau der Physik – sind aus ganz verschiedenartigen Bestandstücken zusammengefügt: Vortragsmanuskripte, Aufsätze, Selbstzitate, Gelegenheitsarbeiten, autobiographische Notizen, dazu neu verfaßte Scharniertexte, ausführliche, orientierende Vor- und Nachworte. Nie verhüllt er die Verschiedenheit dieser Stücke; häufig hebt er sie sogar ausdrücklich hervor. Sie kontrastieren in ihrer Farbigkeit; zwischen ihnen wirken ungelöste Spannungen; weitbögige Entsprechungen verbinden sie; das differente Material deutet Brüche an. Manche sind delikat ausgemalt, andere chiffrenhaft kontrahiert. Wiederholungen rücken Vertrautes in wechselndes Licht. Wir kennen diese Form aus der bildenden Kunst, dort nennen wir sie »Collage«. Weizsäckers Bücher sind »Collagen«. Sie prätendieren keine Geschlossenheit eines »Weltbildes« mehr. Und auch in seinen Titeln treten die affirmativen Formeln zurück: statt Die Einheit der Natur heißen sie jetzt Der Garten des Menschlichen, Wahrnehmung der Neuzeit, Aufbau der Physik, Bewußtseinswandel. Wissenschaftliche Erkenntnis ist nur ein schmaler Ausschnitt aus der den Menschen möglichen Welterkenntnis. Diese Erfahrung behandelt Weizsäckers Lebenswerk nicht nur, es bringt sie zur Darstellung. Verlockend würde es sein, im Detail zu beschreiben, wo seine Sprache durchsichtig wird für Gestaltanalogien zwischen der Quantenphysik und den körperlosen Figurinen moderner Plastik, zwischen atonaler Musik und den wispernden Maschinengiganten technischer Zentralen. Wo das im Ernst gelingt, bewegt sich solches Sprechen auf der Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst. Aber im Ernst ist es schwer darzustellen – im Spiel ist das schon leichter. Darauf verweist, inmitten des Weltbildes der Physik, das »Große Lalula«.