Sigmund-Freud-Preis

STATUT

§ 1
Der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa zeichnet seit 1964 Gelehrte aus, deren Werk nicht nur durch seinen geistigen Rang, sondern auch durch die Qualität seiner wissenschaftlichen Prosa besticht.

Der Preis wird getragen von der ENTEGA Stiftung und ist aktuell mit 20.000 EUR dotiert. Er wird jährlich im Rahmen der Herbsttagung verliehen.

§ 2
Der Sigmund-Freud-Preis wird vergeben für herausragende Beiträge zur Entwicklung des Deutschen als Sprache der wissenschaftlichen Publizistik. Er wird für deutschsprachige Originalveröffentlichungen vergeben, die sich durch ihre wissenschaftliche und ihre stilistische Qualität gleichermaßen auszeichnen. Er kann Werke aus allen Disziplinen berücksichtigen.

§ 3
Das Vorschlagsrecht liegt in den Händen der Jury.

§ 4
Die Jury besteht aus dem Erweiterten Präsidium der Akademie.

Die Jury berät über die vorgeschlagenen Kandidatinnen und Kandidaten in einem mehrstufigen Verfahren.

Beschlossen vom Erweiterten Präsidium am 18. Februar 2021

Preisträger 2024

Karl-Heinz Kohl
Sigmund-Freud-Preisträger 2024

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa 2024 an den Ethnologen und Religionswissenschaftler Karl-Heinz Kohl, in dessen Schriften die Klarheit der Darstellung besticht und damit unsere historische Urteilskraft zu schärfen vermag. Sein Werk kreist um die Rekonstruktion des Verhältnisses der Europäer zu den indigenen Kulturen von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne.
Aus der Jury-Begründung

Der Preis ist mit 20.000 Euro dotiert und wird am 2. November 2024 in Darmstadt verliehen. Die Veranstaltung ist öffentlich. Eintrittskarten können über das Staatstheater Darmstadt erworben werden. Der Vorverkauf beginnt circa 3 Wochen vorher. Wir informieren Sie gern über unseren Newsletter.

Der Preis wird von der ENTEGA Stiftung finanziert.

Weitere Informationen

Arno Borst

Historiker
Geboren 8.5.1925
Gestorben 24.4.2007

... mit wissenschaftlicher Strenge und erzählerischer Kraft die Lebensformen der Vergangenheit in den Ausdrucksformen der Gegenwart zur Sprache gebracht hat.

Jurymitglieder
Juryvorsitz: Präsident Peter de Mendelssohn
Vizepräsidenten Ludwig Harig, Herbert Heckmann, Eva Zeller, Beisitzer Beda Allemann, Geno Hartlaub, Hans Paeschke, Lea Ritter-Santini, Bernhard Zeller, Ernst Zinn, Ehrenpräsidenten Dolf Sternberger, Bruno Snell, Gerhard Storz

Laudatio von Harald Weinrich
Romanist und Germanist, geboren 1927

Geschichtsforscher, Geschichtsschreiber, Geschichtserzähler

Als im Lande Sinear der Turm, aus Ziegeln gefügt, schon in den Himmel ragte, erschrak Jahwe vor dem vermessenen Tun dieses bauwütigen Volkes und sprach: »Wohlan, laßt uns hinabsteigen! Wir wollen ihre Sprache verwirren, daß keiner mehr die Rede des andern versteht!« Da sie nun nicht mehr miteinander reden konnten, zerstreuten sie sich von Babel aus über die ganze Welt. Es ist nicht bekannt, ob der babylonische Bauherr außer den Baumeistern, Ziegelbrennern, Maurern und Handlangern auch einen Historiker angestellt hatte, um die Fortschritte beim Bau dieses himmelstürmenden und wolkenkratzenden Bauwerks zu dokumentieren. Als aber dieses »Wunder des menschlichen Geistes« (Dürrenmatt) stillgelegt war und die Bauleute sich in alle Welt zerstreut hatten – eine modernistische Bibelversion übersetzt schlicht: »sie hörten mit dem Städtebau auf« –, da hat der Turmbau zu Babel doch noch seinen späten Historiographen gefunden, den hier zu lobenden Arno Borst nämlich, der die Abfolge der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker nach ihrer babylonischen Zerstreuung in einem mehrbändigen Geschichtswerk aufgezeichnet hat. Dieses Buch, eine Fundgrube auch für Freunde der Sprachwissenschaft und der Völkerkunde, war ein Glücksfall für das sich bildende Selbstverständnis dieses Historikers: Mit dem Rücken zu jenem Einheits- und Gesamthochturm wurde er der glaubwürdige Geschichtsschreiber und liebevolle Erzähler des unterschiedlich Mannigfaltigen und reizvoll Vielgestaltigen in der Erscheinungen Flucht. Und daß es in dieser Geschichte nicht nur um die Vielzahl der Völker, sondern auch um die Verstehbarkeit der Sprachen ging, war ein weiterer Glücksfall für den Historiker Arno Borst, diesmal für seine Vortrags- und Schreibkunst. Denn, so extemporiert er einmal in einer späteren Schrift, es ist ja nicht gewiß, daß von der Differenzierung der Sprachen nach Babel nur die Volks- und Nationalsprachen wie Hebräisch, Griechisch, Latein, Deutsch und Französisch betroffen wurden. Es können ja auch die Fachsprachen der Turmbaumeister, Städteplaner, Bauhandwerker und anderer gemeint sein, deren ehrgeiziges Gemeinschaftswerk vielleicht deshalb zum Stillstand gekommen ist, weil sie ihre verschiedenen Fachsprachen zu abgeschotteten Gruppen- und Sondersprachen verkommen ließen, die nur noch zur Sektenbildung und nicht mehr zum gesitteten Gespräch und freien Austausch der Gedanken gut waren. Was nun diese denkbare Himmelsstrafe betrifft, so hat Arno Borst, durch Babel gewarnt, von seiner Fachsprache, der des Historikers, in allen seinen Werken einen so klaren und mühelos verständlichen Gebrauch gemacht, daß nicht nur Historiker, sondern auch wißbegierige Laien aller Stände und Berufe ihn mit Lust und Gewinn für ihre historische Weltkenntnis lesen können.
Wie das möglich ist, wollen Sie wissen? Nun, der Schriftsteller Arno Borst hat begriffen, daß ein Historiker – welches auch sonst seine gewiß wünschenswerten analytischen und hermeneutischen Fähigkeiten sein mögen – der Wahrheit in erster Linie erzählend zu dienen hat. Das versteht sich leider nicht mehr von selber, seitdem die Wissenschaften, die sich die kritischen nennen, das Erzählen zu einer wissenschaftlich nicht ganz legitimen Erkenntnis- und Mitteilungsform herunterinterpretiert haben. Selbst die Geschichtswissenschaftler, deren Gegenstände sich doch erst durch ihre Erzählbarkeit konstituieren, haben sich vielfach von dieser radikalen Erzählkritik einschüchtern lassen und beeilen sich nicht selten, aus der leidigen Narration möglichst rasch in die wissenschaftlich unverfängliche Argumentation hinüberzuspringen. Diese Pervertierung des Geschichtsschreibens hat bei Arno Borst, der ein begnadeter Erzähler ist, nie Fuß fassen können, denn er weiß wohl, daß es gewisse Einsichten in die conditio humana gibt, die nur erzählend und wiedererzählend und immer weitererzählend vermittelt werden können.
Aber ich will nun selber zunächst erzählen, daß Arno Borst in Alzenau im Spessart, wo sein Vater Lehrer war, im Jahre 1925 geboren wurde. Auf dem Augustiner-Gymnasium von Münnerstadt erhielt er seine humanistische Bildung. Der Krieg verschlug ihn in viele Länder Europas, verschonte jedoch seine Gesundheit und sein Leben. In den Jahren des großen Aufatmens studierte er in Göttingen und München Geschichtswissenschaft, schrieb seine Dissertation, die von Fachleuten und Laien hochgeschätzte Studie über die zwiespältige Ketzerei der Katharer, und heiratete seine Gudrun. Der über alle Ketzereien der Religions- und Geistesgeschichte diebisch sich freuende Herbert Grundmann holte ihn als wissenschaftlichen Assistenten in die seit der Wiedertäuferzeit allem Ketzertum zutiefst abholde Stadt Münster, und dort widmete er sich dann viele Instituts- und Bibliotheksjahre lang seinem imposanten Babel-Werk, das seine Habilitationsschrift wurde und die zünftigen Historiker arg verblüffte, weil es bewies, daß auch die nebulösesten Fakten der menschlichen Urgeschichte geschichtsmächtig sein können, wenn sie nur Macht über die Phantasie gewinnen. Später, in einer poetisch-hermeneutischen Diskussion über den historischen Ereignisbegriff, wird Arno Borst aus diesen Erfahrungen die Einsicht ableiten, daß ein geschichtlicher Sachverhalt überhaupt erst durch den sinngebenden, schöpferischen und in diesem Sinne quasi-poetischen Zugriff des Geschichtszeugen und später des Geschichtsschreibers, ja Geschichtsbildners zum historischen Ereignis wird. Hier ist die alte aristotelische Trennung zwischen dem Historiker, der die Dinge so darzustellen hat, wie sie gewesen sind, und dem Dichter, der sie so formen darf, wie sie sein könnten oder sein sollten, zwar nicht aufgehoben, aber doch hermeneutisch überbrückt.
Wir begleiten Arno Borst, nun Professor für Mittlere und Neuere Geschichte, weiter an die Universität Erlangen, wo er sechs Jahre tätig war, nicht ohne mit einem Buch über die Sebalds-Legenden in der mittelalterlichen Geschichte Nürnbergs dem genius loci zu huldigen, schließlich an die neugegründete Universität Konstanz, wo er seit 1968 als Historiker wirkt, nicht nur im Studierzimmer und im Hörsaal übrigens, sondern auch – als Prorektor und in anderen akademischen Ämtern – in den harten Auseinandersetzungen um das wissenschaftliche und politische Gesicht dieser neuen Universität und der akademischen Wissenschaft überhaupt. Aus den zahlreichen Büchern, Aufsätzen und Lexikonbeiträgen, die in dieser Zeit entstanden sind, will ich hier nur das vielgelesene Buch »Lebensformen im Mittelalter« herausgreifen, ein meisterliches Panoramabild des Mittelalters, im ständigen Dialog mit den historischen und literarischen Quellen erarbeitet und in der Sprache der Gegenwart Historikern und Laien zur Lektüre vorgestellt. Wie leben denn in dieser fremden Epoche unserer Geschichte, so fragt sich Arno Borst in diesem Buch, die Menschen des Mittelalters ihr mühsames und gefährdetes Leben, in welchen Formen gehen sie freundlich oder feindlich miteinander um, und welches sind die normgebenden Muster ihres tugend- oder lasterhaften Verhaltens in schwierigen Situationen ? Die Haupt- und Staatsereignisse der großen Geschichte kommen in diesem Buch mehr in den Kommentaren des Autors zu den zeitgenössischen Quellen zu Wort, während die eigentliche Dramatik des erinnerten Geschehens eher bei den menschlichen Stimmen liegt, die hier aus den Fährnissen des alltäglichen Lebens hörbar werden, leise und fremd zwar bisweilen, aber dennoch auch in fremden Lebensformen von unseren eigenen Lebensinhalten handelnd. Nur im Erzählfluß von authentischen Geschichten, die von behutsamen Kommentaren und diskreten Interpretationen aufgeschlossen sind, kann man sich dieser fremden Welt nähern oder besser gesagt, diese fremde Welt näher an uns heranbringen, so daß wir sie genauer anschauen und mit der sympathetischen Hilfe des Historikers erkennen können, »daß das scheinbar so einfache Zusammenleben der Mitmenschen unsäglich mühsam ist«.
Aber vielleicht war das Leben und Zusammenleben für diejenigen einfacher, die das eitle Treiben der Welt verlassen und sich in die Weltabgeschlossenheit eines Klosters zurückgezogen haben? So zu fragen, liegt für den Mediävisten nahe, denn die Lebensformen des Mittelalters sind ja zu einem nicht geringen Teil das Werk von Mönchen und Nonnen. Das erfährt man heutigentags kaum irgendwo deutlicher als im Kulturraum rund um den Bodensee, der seinerzeit, aber noch heute für den in Konstanz schnell heimisch gewordenen Arno Borst in deutlichen Spuren erkennbar, »ein hochmittelalterlicher Gottesgarten in der Mitte der Christenheit« war. Sein eben dort liebevoll geschriebenes Buch »Mönche am Bodensee« ist daher zu Recht ein historiographischer Hymnus auf jene demütigen Helden und aus der Stille ihrer Klausuren wirkenden Heiligen geworden: auf Gallus, Otmar, Walahfrid Strabo, Hermann den Lahmen, den Abt Dietrich und den Probst Heinrich, auf Heinrich Seuse und den Kartäuser Peter Thaler, unter den Nonnen auf Adelinde in Buchau und Elsbeth Achler in Reuthe sowie alle andere Mönche und Nonnen, die am Bodensee gebetet und gearbeitet haben. Die in Jahrhunderten der Geschichte ungelöste und dennoch von diesen Religiösen auf charakteristische Weise durchgehaltene Spannung zwischen Weltabkehr und Weltzuwendung: das ist das eigentliche Thema dieses herrlichen Buches, das wiederum nicht einer abstrakten geschichtstheoretischen Turmkonstruktion eingepaßt wurde, sondern von seinem Autor fast andächtig den Quellen abgelauscht und wiederum glänzend erzählt ist.
Walahfrid Strabo, wenn wir diesen Abt der Reichenau aus der Reihe der illustren Mönche herausgreifen dürfen, dieser Mönch am Bodensee, der selber Geschichtsschreiber war und Poet dazu, er hätte seine Freude an diesem späten Biographen gehabt. Und derselbe Strabo, der weiterhin ein leidenschaftlicher Gärtner war und uns in den 444 Hexametern seines Hortulus ein anschauliches Bild des Reichenauer Klostergartens und seiner Pflanzen, von der Salbeistaude bis zur Blume der Blumen, der Rose, hinterlassen hat, hätte wohl auch, wenn wir uns den Historiker Arno Borst an seiner Seite vorstellen dürfen, mit ihm zusammen nachdenken können über das, was die Geschichtsschreibung, wenn sie ihr Werk gut macht, statt mit der hochstrebenden Turmbaukunst, vielmehr mit der still-klösterlichen Gartenbaukunst gemeinsam hat. Und der Reichenauer Abt hätte vielleicht, auf das übliche Tun der Historiker anspielend, aus der 14. Strophe, die von dem Kräutlein Cerfolium oder Kerbel (vulgo quam dicere mos est) die folgenden Verse zitiert:

»Die du mit heiligem Mund das hochberühmte Gedächtnis
So vieler Kriege besingst und so viel bedeutender Taten,
Fromme Erato, verschmähe es nicht, den bescheidenen Reichtum
Meiner Gewächse im Garten mit mir im Gedicht zu durchgehen.«

(»Quae tot bellorum, tot famosissima rerum
Magnarum monimenta sacro pia confiéis ore,
Exiles, Erato, non dedignare meorum
Divitias holerum versu perstringere mecum.«)

Und Arno Borst, der Konstanzer Nachbar, hätte ihm mit einem Zitat aus der 3. Strophe zustimmend antworten können:

»Nun braucht es Dichtertalent, Erkenntnis und Schönheit der Rede,
Um zu verkünden die Namen und Kräfte so reichlicher Ernte,
Daß auch das Kleine dadurch mit hoher Ehre sich schmücke.«

(»Nunc opus ingeniis, docili nunc pectore et ore,
Nomina quo possim viresque attingere tantae
Messis, ut ingenti res parvae ornentur honore.«)

Die beiden hätten sich also bestimmt gut verstanden, der Mönch vom Bodensee und der Professor vom Bodensee, und bei der Betrachtung von Salbei, Eberraute, Fenchel, Minze, Andorn, Sellerie, Liebstöckl, Katzenkraut, Lilie und Rose, nicht zu vergessen auch die zum Aufbewahren des Weins tauglichen Kürbisse, hätten sie ihre gemeinsame Ansicht bekräftigen können, daß bei der Arbeit des Gärtners wie auch bei der des Geschichtsschreibers die Frucht nur dann gedeiht, wenn sie mit labor et studium, vor allem aber culturae impulsus amore, gepflegt wird. So wäre noch manches Ersprießliche zu Walahfrids Klostergarten und zu Arno Borsts mit klösterlicher Strenge und gärtnerischer Kultur zur Blüte und Frucht gebrachten Geschichtsschreibung zu sagen –

»Wenn nicht, enteilend, Thalia mich zwänge, die Segel zu streichen,
Und mich die Muse nicht mahnte, doch endlich den Hafen zu suchen,
Könnte ich, weitererzählend, dir mancherlei Blumen noch pflücken.«

(»Quod nisi me currens deponere vela Thalia
Cogeret ac tándem portus intrare moneret,
Hinc tibi multíplices poteram decerpere flores.«)